Ansprache bei der Gedenkfeier auf den Seelower Höhen

Wolfgang Huber

Der Friede Gottes sei mit euch allen. Amen.

„Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet!“ So heißt die Mahnung dieses Tages auf den Seelower Höhen. Wir wagen es, die Aufforderung Jesu auf uns selbst zu beziehen. Wachsamkeit ist das Thema dieses Tages. Die helle Klarheit des Himmels über dem Oderbruch soll uns in Erinnerung bleiben, damit wir es selbst an Klarheit nicht fehlen lassen.

Immer wieder kehren Menschen an diese Stelle zurück. Immer wieder geht ihr Blick in die Weite. Immer wieder taucht die verlorene Jugend vor ihrem inneren Auge auf. Damals vor sechzig Jahren. Mancher war dabei, der erst kurz vorher eingezogen worden war. Ein letztes Aufgebot. Eine Versündigung an der Jugend. Hineingezogen wurden sie in eine der grausamsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Nur einzelne überlebten. Kameraden konnten sie später kaum noch treffen. Die anderen gehörten zu den unzählbaren Toten der Schlacht um die Seelower Höhen.

Wenige sind es, heute grauhaarig geworden, die den Kampf um die Seelower Höhen überlebt haben. Manche von ihnen kommen in jedem Jahr einmal an diese Stelle zurück, an der sie ihre Jugend verloren. Manche von ihnen sind heute unter uns. Ihnen gilt mein herzlicher Gruß, die als Überlebende des Kampfs um die Seelower Höhen heute unter uns sind, auf welcher Seite sie auch kämpften. Ihre Anwesenheit ist Ermutigung und Mahnung für uns: „Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet!“

Heute leben immer weniger Menschen unter uns, die den verbrecherischen Krieg Nazideutschlands, seine Vorgeschichte und den neuen Anfang nach der Katastrophe noch selbst erlebt haben und aus eigener Anschauung davon erzählen können. Nach sechzig Jahren ist es umso dringlicher geworden, ihre Erinnerungen aufzubewahren und sie an die nächste Generation weiterzugeben. Wachsamkeit gehört zu den Tugenden der Demokratie. Wachsamkeit gibt es nicht ohne Erinnerung. Wachsamkeit erbittet Jesus im Garten Gethsemane von seinen Jüngern. Zur Wachsamkeit wollen wir uns heute verpflichten. Und deshalb auch zum Erinnern.

Wir gedenken dieser Unheils- und Schuldgeschichte nicht, um auf ewig an sie gefesselt zu bleiben, sondern um ihren Bann zu brechen. Als Christen wissen wir: Der Glaube an Gottes Güte macht frei, sich auch den dunklen Seiten der eigenen Biographie und der Schuldgeschichte des eigenen Volkes zu stellen.

Der evangelische Christ und Theologe Dietrich Bonhoeffer, der am 9.April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg auf Befehl von Adolf Hitler ermordet wurde, arbeitete als einer der wenigen bereits früh gegen Hitler. Schon im Februar 1933 warnte er in einer Radiosendung davor, dass in Deutschland der Führerbegriff missbraucht werde. Er wollte den Menschen die Augen dafür öffnen, dass sich hinter dem so genannten Führer tatsächlich ein Wolf im Schafspelz verbarg, der keine Führungskraft, sondern ein gefährlicher Verführer war. Bonhoeffer forderte in bestechender Klarheit die Wachsamkeit seiner Mitmenschen. Doch die Übertragung seiner Ansprache wurde abgebrochen. Die Menschen sollten seine Ansprache nicht hören. Wachsamkeit war nicht gefragt.

Beim Erinnern dürfen die Proportionen nicht aus dem Blick geraten: Die Bereitschaft zum Widerspruch gegen die Barbarei und gar der Einsatz des eigenen Lebens im Widerstand waren das Außergewöhnliche. Verbreitet und „normal“ hingegen waren – aus unterschiedlichen Motiven – das Mitmachen, das Schweigen, das Nicht-Sehen-Wollen.

Als Christen machen wir uns über den Menschen keine Illusionen. Die biblische Szene im Garten Gethsemane schildert es eindrücklich. Da sind die Menschen, die sich mit Jesus auf den Weg der Nachfolge gemacht haben. Doch in der Stunde, in der es darauf ankommt, schlafen sie ein. In der Stunde des Verrats können sie sich nicht auf den Beinen halten. „Sind wir noch brauchbar“, so fragte Dietrich Bonhoeffer zehn Jahre nach dem Beginn des nationalsozialistischen Regimes. Er hatte sich schon längst auf den Weg des Widerstands begeben. Und trotzdem diese selbstkritische Frage: „Sind wir noch brauchbar?“ Weichen wir nicht aus, wo wir standhaft sein müssten? Schlafen wir dort, wo Jesus uns wach finden will?

Woher wir auch kommen und wo wir stehen, auf die eine oder andere Weise sind wir alle dazu berufen, Gottes Mitarbeiter zu sein; und wir scheitern immer wieder an uns selbst. Wir wollen wachsam den Weg unserer Gesellschaft begleiten und schlafen an entscheidender Stelle ein, so wie die Jünger Jesu in der Nacht, in der ihr Meister verraten wurde.

Zeitweise bestand in Deutschland eine große Scheu, über den Kreis der vom nationalsozialistischen Regime Verfolgten hinaus auch andere deutsche Opfer, wie etwa gefallene deutsche Soldaten, in das Gedenken einzubeziehen. Man fürchtete, auf diese Weise könnten die einen Opfer gegen die anderen aufgerechnet und die deutsche Schuld könnte relativiert werden.

Die Gedenkstätte auf den Seelower Höhen erinnert an die Leiden und die Opfer auf beiden Seiten. Die Gräber russischer und deutscher Soldaten haben hier ihren Ort. Die Verblendungen und Irrwege der damaligen Zeit werden dadurch nicht geleugnet. Der heutige Tag des Gedenkens auf den Seelower Höhen steht neben dem morgigen Tag, an dem wir uns der Befreiung der Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück erinnern. Beides gehört zusammen. Ohne Ursache und Folgen zu verwischen, werden wir so des Fluchs der sich fortzeugenden Gewalt gewahr, der bis heute das Leben vieler Menschen belastet. Dass wir uns diesen Zusammenhängen stellen, fordert die Wachsamkeit von uns. Nur so können wir für geschichtliche Wahrheit und für den Frieden in Europa eintreten.

Wir Menschen sind vergesslich. Wir neigen dazu, unsere Freiheit als selbstverständlich zu betrachten. Wir vergessen leicht, woher wir kommen und in welcher Situation sich unser Land und Volk vor gerade zwei Generationen befand. Schon verblasst die Erinnerung an die Zeit der Teilung, des kalten Krieges, der auf die heißen Schlachten folgte. Schon nehmen wir als selbstverständlich, was doch erst vor einer halben Generation errungen wurde: die Einheit in Freiheit. Erinnerung vertreibt den falschen Schein der Selbstverständlichkeit. Sie macht dankbar für das Erreichte und verpflichtet dazu, den Segen, der auf uns gelegt wurde, nicht wieder zu verspielen.

Der morgige Sonntag ist in der christlichen Tradition mit dem Namen „Jubilate“ versehen. Das ist ein Hinweis auf den österlichen Jubel, der Jahr für Jahr von Millionen Menschen bekannt wird. Ohne das menschliche Leid auszublenden, rufen sich die Menschen in dieser österlichen Zeit zu: „Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden“

Unter diese Überschrift rückt nicht nur der Tod Jesu, sondern auch unser endliches Leben. Es steht unter einer Verheißung, die am Tod nicht zerbricht. Wir haben teil an einer Hoffnung, die über die Endlichkeit unseres Lebens hinausweist. Jedes einzelne menschliche Leben weiß der Glaube geborgen in Gott; jedem einzelnen menschlichen Leben gilt die Verheißung der Auferstehung. Deshalb wird auch unser eigenes Leben zu einem Porträt der Hoffnung. 

Mehr als hunderttausend zur Unzeit abgebrochene Lebenswege mahnen uns am heutigen Tag. Einmal im Jahr kommen einige der alt gewordenen Überlebenden ins Oderbruch und besuchen die Orte der früheren Kämpfe und die Gedenkstätte der Seelower Höhen. Immer wieder geschieht es, dass sich alte Gegner die Hand zur Versöhnung reichen.

Die ersten, die Jesu Auferstehung von den Toten bezeugten und den Osterjubel auslösten, waren Frauen. Die österliche Zeit ist die Stunde der Frauen.

In den letzten Kriegsmonaten schlug ebenfalls die Stunde der Frauen. Zittern und zagen löste die überbrachte Nachricht vom Tod des Vaters, des Mannes oder Bruders auf tausendfache Weise aus. Dabei kannte das Leid keine Grenzen. Die Ungewissheit über das Schicksal naher Menschen und die Sorge um die Kinder oder die schwachen Alten forderten das Äußerste. Frauen waren es, die das letzte Brot mit ihren Kindern teilten. Sie boten trotz aller Not den eigenen Kindern ihre Schulter zum Anlehnen. Sie enttrümmerten unser Land, weil die Männer tot waren oder in der Gefangenschaft saßen.

Die Leben schaffende Kraft Gottes hat sich uns gerade im Bild vieler mutiger Frauen eingeprägt, die die ersten Schritte auf das neue Leben zugingen, um den Neuanfang nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu gestalten. Auf die Leben schaffende Kraft Gottes dürfen wir auch in Gegenwart und Zukunft vertrauen.

Hier und heute möchte ich Ihnen im vollen Bewusstsein der Ereignisse vor sechzig Jahren zurufen: Wir selbst können zu einem Porträt der Hoffnung werden. Uns ist die Verheißung des Lebens anvertraut. Wir können sie dorthin tragen, wo Menschen Schwarz sehen und entmutigt in die Zukunft schauen. Wo Menschen sich fürchten, einen Schritt auf einen anderen zuzugehen, weil sie nicht wissen, wie er reagieren wird. Wo das Grübeln über die eigene Krankheit keine Ruhe mehr lässt. Auch dorthin können wir diese Gewissheit tragen, wo die Enttäuschung über die Entwicklung im eigenen Land sich auch auf die eigene Familie oder auf die Stimmung am Arbeitsplatz auswirkt.

„Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet“, ermahnt Jesus seine Jünger. Wie sieht Wachsamkeit heute aus? Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bleibt es unsere zentrale Aufgabe, den Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern. Wir wissen: Es gibt keinen dauerhaften Frieden ohne Gerechtigkeit, ohne den Schutz der Menschenrechte, ohne Freiheit und ohne die Achtung des Rechts. Darauf wollen wir wachsam achten. So antworten wir auf das Opfer der Menschen vor sechzig Jahren. So sind wir wachsam für Gegenwart und Zukunft.

Amen