ZUR HOFFNUNG EINGELADEN - VORTRAG BEI DEN KIRCHLICHEN BEGEGNUNGSTAGEN 2005 IN PRAG

Wolfgang Huber

Christinnen und Christen aus sechs Ländern im Herzen Europas sind eingeladen zu Begegnungstagen in Prag. Über die Grenzen unserer Konfessionen und Kirchentümer, über die Grenzen unser Länder und Kulturen hinweg sind wir zu Ihnen gekommen. Wir sind den Christinnen und Christen hier in Prag und in der ganzen Tschechischen Republik dankbar, dass Sie die Tradition der Begegnungen aus früheren Jahren fortgeführt und weiter entwickelt haben und uns so gastfreundlich aufnehmen.

Zur Hoffnung eingeladen: so heißt das Motto der christlichen Begegnungstage. Wer lädt zu dieser Hoffnung ein? Die Kirchen in der Tschechischen Republik haben uns eingeladen zu diesen Tagen, an denen wir Gemeinschaft erleben und uns über unsere Erfahrungen austauschen. Sie haben uns eingeladen, unsere Hoffnung miteinander zu teilen, einander mitzuteilen.

Miteinander über die Hoffnung zu reden, ist gerade heute notwendig. Aber es ist zugleich eine große Herausforderung angesichts der politischen und gesellschaftlichen Situation in Europa. Die Ablehnung der Verfassung für Europa in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden hat den Horizont des europäischen Zusammenwachsens verdüstert. Was immer sich aus den Beschlüssen dieser Tage ergeben wird, so müssen wir in jedem Fall damit rechnen, dass der europäische Prozess langsamer und mühseliger wird. Die Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung haben bei Millionen von Menschen in vielen Ländern Europas Ängste ausgelöst. Soziale Sicherheiten haben sich als brüchig und gefährdet erwiesen. Die Globalisierung greift nach unseren gewohnten Lebenszusammenhängen und schafft große Verunsicherung.

Was bedeutet es, in einer solchen Situation über Hoffnung zu reden? Worauf hoffen wir? Es ist nötig, dass wir "Rechenschaft geben über die Hoffnung, die in uns ist" (1.Petrus 3,15).

1. Jesus Christus – Grund unserer Hoffnung

Diese Rechenschaft beginnt damit, dass wir mit der Botschaft der Bibel bezeugen: Zur Hoffnung können wir uns nicht wechselseitig einladen. Miteinander sind wir zu dieser Hoffnung eingeladen durch den, der allein Herr der Zukunft ist: durch Gott, von dem wir in allen Unsicherheiten unserer Gegenwart bekennen, dass er im Regimente sitzt. Er ist es, der uns zusammenführt und einlädt, die Hoffnung zu ergreifen, die er gestiftet hat. ER, den Paulus an einer Stelle den „Gott der Hoffnung“ nennt. „Der Gott der Hoffnung aber – so heißt es da – erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes“ (Römer 15,13). Der Vater Jesu Christi wird gepriesen als der Gott, der Hoffnung schafft und in überreichlicher Fülle durch die Kraft des Heiligen Geistes austeilt. Denn der Geist ist es, der den Menschen dazu veranlasst, seine Hoffnung auf Gott zu setzen, statt bloß mit den Möglichkeiten der Welt zu rechnen, statt uns bloß auf Hoffnungen zu verlassen, die wir immer wieder selbst erzeugen müssen. Auf ihn hofften und hoffen die Gläubigen aller Zeiten. Veni Creator Spiritus – Komm Schöpfer Geist, so heißt das Hoffnungslied der Christen.

Diese Hoffnung hat ein Gesicht und einen Namen: Jesus Christus. Zeit seines Lebens hat er Menschen zu sich eingeladen, insbesondere jene, die nach menschlichem Ermessen für ihr Leben keine Hoffnung mehr sahen: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“ (Matthäus 11,28). Mit seinen Jüngerinnen und Jüngern hat er die Hoffnung auf das anbrechende Reich Gottes geteilt, Gottes Herrschaft in Gerechtigkeit und Frieden, seine Solidarität mit den Armen und Schwachen, seine Barmherzigkeit. In immer wieder neuen Hoffnungsgeschichten, mit immer wieder neuen Hoffnungszeichen hat er die Menschen zu sehen und zu begreifen gelehrt, wie Gottes Liebe sich in unserer Welt entfaltet. In seiner Nachfolge sehen auch wir die Welt, in der wir leben, als eine, die Anlass zur Hoffnung gibt, in der die Gerechtigkeit Gottes und der Friede Gottes immer wieder zur Erscheinung kommen.

In seiner Auferstehung ist Jesus Christus selbst der Grund für unsere Hoffnung geworden. Die Auferstehungshoffnung ist das Zentrum der christlichen Hoffnung. Weil die weltliche Erscheinung Jesu nicht dem Tode überlassen blieb, gibt es für den Menschen eine Hoffnung auf Auferweckung. „Er ist unsere Hoffnung“, wie es zu Beginn des 1. Timotheusbriefes heißt (1. Timotheus 1,1). In seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung hat sich offenbart, wer Gott ist und was ihn bewegt. Dass es Gottes große Liebe ist, die in Christus Gestalt angenommen und den Tod überwunden hat, ist das, was der Grund unserer Hoffnung ist. Wir leben in seiner Gegenwart und dürfen hoffen, durch Gnade Vergebung zu finden und selbst von den Toten aufzuerstehen. Daran hat besonders Paulus ganz entschieden festgehalten, dass in unserem begrenzten und endlichen Leben nur jene Hoffnung maßgebend sein kann, die auch im Sterben gilt und damit die Wirklichkeit Gottes zum Inhalt hat. Dies heißt aber auch, dass die Hoffnung allein im Machtbereich Jesu Christi und im Glauben an ihn eine tragfähige Grundlage hat.

Unsere Hoffnung auf das Kommende ist die Antwort auf Gottes Verheißungen. Sie nimmt seine Versprechen ernst, sie nimmt Gott beim Wort. Darum ist das Gegenteil von Hoffnung auch nicht Mutlosigkeit, Ängstlichkeit oder Pessimismus, sondern eben Hoffnungslosigkeit. Und zwar Hoffnungslosigkeit in dem Sinne, dass eine gravierende Entfremdung von Gott oder sogar Gottlosigkeit den Menschen bestimmt, weil Gott in seinem Wesen und in dem, was er für die Menschen will und ihnen zusagt, nicht wahrgenommen wird – nämlich als Quelle und Kraft der Hoffnung.

Weil wir Zeugen und Boten der Hoffnung in dieser Welt sind, dürfen wir der Hoffnungslosigkeit nicht das letzte Wort lassen. Doch wenn wir die Hoffnung bezeugen, die uns anvertraut ist, müssen wir auch den Grund dieser Hoffnung zur Sprache bringen. Wir dürfen es nicht bei der Gottvergessenheit vieler in Europa belassen. Deshalb sind diejenigen ausdrücklich zu loben, die diese Losung für unsere christlichen Begegnungstage in Prag gefunden haben: „Zur Hoffnung eingeladen“ – dieses Thema ist wirklich an der Zeit.

2. Hoffnung als Mittlerin zwischen den Zeiten

In der christlichen Hoffnung, sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf das engste miteinander verschränkt. Ja, Vergangenheit und Zukunft werden geradezu in die Gegenwart hineingeholt.

Die Hoffnung hat ihren Grund in Jesus Christus und ist so untrennbar mit seinem konkreten Leben auf dieser Welt an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit verbunden. Die Hoffnung wächst uns aus der Vergangenheit zu. Unsere Gemeinschaft ist deshalb zunächst die Gemeinschaft des Hörens auf sein Wort und seine Taten; sie ist eine Gemeinschaft des Erzählens, wenn wir seine großen Taten von Generation zu Generation, von Nachbar zu Nachbar weiter überliefern; und sie ist eine Gemeinschaft des Feierns, wenn wir Brot und Wein in seinem Namen teilen und seine Gegenwart feiern. In der Bindung daran finden wir uns wieder in einer Hoffensgemeinschaft mit allen christlichen Generationen vor uns und mit denen, die uns in dieser Bindung folgen werden.

Indem wir der Verheißung glauben und folgen, wird das Erhoffte in die Gegenwart hinein geholt. Die Gegenwartsbedeutung der Hoffnung wird im Neuen Testament auf vielfältige Weise und mit großem Nachdruck herausgestellt. Sie sorgt geradezu für ein neues Welt- und Zeitverständnis. Wir sind nicht auf das Vorfindliche festgelegt und unter die Macht des Faktischen gezwungen. Vielmehr leben wir aus der Hoffnung auf die endgültige Erlösung der Schöpfung und auf die Rettung unseres Lebens. Was noch aussteht, begreifen wir trotzdem als wirklich. Denn das, was wir erhoffen, ist ja die Wirklichkeit Gottes, die alle Zeiten umgreift. Christen zeichnen sich dadurch aus, dass sie von der Zukunft nicht nur sagen, sie sei möglich, sondern Christen sagen: Die Zukunft ist wirklich.

Schon im Neuen Testament, etwa in der Auseinandersetzung des Paulus mit den Schwärmern in Korinth, wird deutlich, dass dieses Hoffnungsverständnis alles andere als Weltflucht hervorbringt. Es führt vielmehr zur Geduld, zum Standhalten in einer konkreten Situation und so zur Bewährung der Hoffnung. Geduld ist etwas Anderes als schlichtes Aussitzen. Geduld meint, dass wir die Realität unserer Welt nicht verdrängen, sondern dass wir uns ihr stellen. Und Geduld heißt, dass wir bereit sind, einen Schritt nach dem anderen zu gehen, in der festen Gewissheit, die wir in unserer Hoffnung haben. Hoffen heißt: sich der Gegenwart aussetzen in der Erwartung, dass sie als Gottes Sache offenbar wird.

Auf diese Weise führt uns die christliche Hoffnung aus unserer selbstbezogenen Überforderung heraus. Denn es geht ja nicht um unser eigenes Projekt, das wir selbst ersinnen und für dessen Gelingen wir vollständig allein einstehen müssten. Das Kommen des Reiches Gottes in Gerechtigkeit und Frieden ist Gottes großes Projekt. Wir sind zur Hoffnung auf dieses Kommen eingeladen; wir sind dazu eingeladen, diese Hoffnung in den Alltag unseres Lebens hineinzutragen. Sie motiviert, regt zum Gestalten an, überwindet die Stagnation der Selbstzufriedenen ebenso wie die Resignation der Mutlosen. Sie nimmt den Status quo der Welt nicht einfach hin. Aber sie flüchtet sich auch nicht in die Zukunft. Sondern sie holt das Bevorstehende ins Bestehende hinein. Sie gibt der Zukunft in der Gegenwart eine Stimme. Sie hilft Menschen, sich auf das einzulassen, was jetzt an der Zeit ist.

3. Hoffnung und Freiheit

Die Hoffnung, die in Jesus Christus gründet, gibt uns eine doppelte Freiheit.

Erstens macht uns diese Hoffnung unabhängig gegenüber unseren eigenen Zukunftserwartungen und unseren vielen kleinen Hoffnungen. Die eine große Hoffnung lässt uns unterscheiden zwischen dem, was bleibend wichtig, und dem, was nur jetzt dringlich ist.

Sodann aber macht diese Hoffnung realitätstauglich. Die Hoffnungstexte des Neuen Testaments ermahnen immer wieder dazu, wach zu sein und nüchtern zu urteilen. Hoffnung fördert keine Illusionen.

In der Freiheit gegenüber unseren Begehrlichkeiten und Wünschen wie in der Freiheit gegenüber unseren Illusionen und Wunschträumen zeigt sich die besondere Kraft der Hoffnung. Nicht das, was jeder von uns für sich hütet und plant, führt uns zusammen, sondern die Orientierung an Jesus Christus. Diese Ausrichtung auf die große Hoffnung in Jesus Christus hilft nicht nur mit Täuschungen, sondern auch mit Enttäuschungen aller Art umzugehen. Aus einer Enttäuschung aller Hoffnungen heraus ist die christliche Hoffnung geboren worden; denn am Kreuz Jesu waren alle Hoffnungen seiner Jüngerinnen und Jünger zerbrochen, um kraft seiner Auferstehung neu zum Leben erweckt zu werden. Nur eine Hoffnung also, die dem Kreuz standhält und sich im Blick auf den gekreuzigten Christus bewährt, bewährt sich auch in unserem Leben. Nur auf eine Hoffnung, die im Leben und Sterben gleichermaßen gilt, lässt sich ein Leben bauen.

Wir sind „auf Hoffnung gerettet“ (Römer 8,24). Nicht was wir über Gelingen oder Misslingen unseres Lebens denken, qualifiziert oder disqualifiziert uns für die Ewigkeit und für Gottes gütige Nähe. Wir brauchen Gottes Urteil über uns nicht vorwegzunehmen, wir können in aller Hoffnung auf das Verheißene seine Wege, die er mit uns gehen will, abschreiten und auf seinen Plan mit uns vertrauen. Unsere Hoffnung beruht nicht darauf, dass wir etwas erreichen oder zustande bringen, sondern dass Gott in unserem Leben zum Erscheinen kommt. Diese Haltung klingt auch in einem Wort von Vaclav Havel an, der über die Hoffnung gesagt hat: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht."

4. Was bedeutet das für uns?

Wir kommen aus unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenssituationen. Wir helfen uns gegenseitig, den Grund unserer Hoffnung freizulegen. Wir entwickeln keine neue Theorie, sondern entdecken gemeinsam, woraus wir trotz aller Unterschiede schon längst leben. Wir begegnen uns, wir tauschen uns aus, singen und beten gemeinsam.

Wenn wir als Christinnen und Christen aus sechs europäischen Ländern hier in Prag zusammen gekommen sind, ist es wohl angemessen, nach der Relevanz dieser Hoffnung für unser Leben in einem zusammenwachsenden Europa zu fragen.

Derzeit erleben wir eine schwierige Situation für das Zusammenleben der Völker in Europa. Wir glaubten schon, auf den Berg der Verheißung zu stehen und das gelobte Land zu sehen. Jetzt aber sollen die großen Hoffnungen auch in den Mühen der Ebene festgehalten werden. Wir haben eine Freiheitserfahrung gemacht, die die wichtigste geschichtliche Erfahrung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt. Den Aufbruch in ein gemeinsames Europa der Freiheit verbinden wir zu Recht mit dem Jahr 1989, das durch den Freiheitswillen so vieler Bürgerinnen und Bürger geprägt war, den Freiheitswillen, der aus den Kirchen kam, eingeschlossen. Aus diesem Blickwinkel sehe ich Etappen vor 1989 auch in einem anderen Licht. Als Beispiel nenne ich hier in Prag ausdrücklich den Prager Frühling des Jahres 1968. Ich nenne  aber auch den 17. Juni 1954 und den Aufstand in der damaligen DDR. Solche Ereignisse, wie es sie auch in anderen Ländern des Ostblocks gab, sind aus unserer heutigen Perspektive Vorboten der Freiheit, die mit der Wende des Jahres 1989 möglich wurde. Einen entscheidenden Fortschritt in der organisatorischen Gestalt dieser Gemeinschaft der Freiheit werden wir zu Recht mit dem Jahr 2004 verbinden, in dem das Projekt Europa durch die Osterweiterung der Europäischen Union einen wichtigen Schritt vorankam. Nun aber zeigen sich Anzeichen von Lähmung und Resignation. Die wirtschaftliche Krise hält an; das wirtschaftliche und soziale Gefälle im gemeinsamen Europa wird uns noch lange begleiten. Die politische Begeisterung erlahmt; der europäische Verfassungsprozess ist ins Stocken geraten.

Das ist eine Situation, in der die Hoffnung der Christen gefragt ist. In einer solchen kritischen Situation müssen Christen sich einmischen und Rechenschaft geben von der Hoffnung, die in ihnen ist. Die Hoffnung auf ein friedliches und gemeinsames Zusammenleben in Europa darf nicht nur der kleinste gemeinsame Nenner nationaler Egoismen sein. Es ist gut und richtig, die Europäische Verfassung kritisch zu prüfen. Aber es ist gefährlich, sich danach wieder auf einen nationalen Rahmen zurückzuziehen und alle Anfragen an die eigene Situation von sich zu schieben. Es geht nicht an, das europäische Projekt nur unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob es für die eigene wirtschaftliche Entwicklung Vorteile bringt, ohne die Entwicklung der anderen Völker mit zu bedenken; es geht nicht an, nur die eigenen Vorteile zu suchen und sich gegen die Chancen der anderen abzuschotten. Schon der nüchternen Vernunft muss einleuchten, dass ein solches Verhalten allenfalls kurzfristig den einen oder anderen Vorteil versprechen mag, langfristig aber allen schadet. Wie viel mehr gilt das, wenn wir die Lage mit den Augen der Hoffnung betrachten.

Betrachten wir die Lage aus der Hoffnung auf Gottes Heilshandeln heraus, so wissen wir deutlich, dass wir Europa nicht auf ökonomische Prozesse reduzieren und nicht nur als einen Raum ökonomischer Machtausübung betrachten dürfen. Ebenso wenig dürfen wir uns die Europäische Union als eine „Festung EU“ vorstellen, die sich mit allen Mitteln dagegen abschottet, durch die Entwicklung in anderen Teilen der Erde in Frage gestellt zu werden. Ein Europa, das die Milleniumsziele zur Armutsbekämpfung in der Dritten Welt nicht zu seinen eigenen Zielen macht, wirkt unglaubwürdig. Zwischen den Zielen, die wir uns für unsere eigenen Länder und das gemeinsame Europa setzen, und den Gerechtigkeitserfordernissen im Blick auf die weltweite Entwicklung besteht ein unlöslicher Zusammenhang.

Deshalb bringen wir unsere Hoffnung in die Gestaltung Europas ein. Es ist viel darüber gestritten worden, ob und in welcher Weise die geplante Verfassung für Europa in ihrem Text Bezug nehmen sollte auf das Christentum. Die zum Schluss gefundene Lösung hat viele nicht überzeugt und zufrieden gestellt, anderen ging sie viel zu weit. Immerhin war es gelungen, die Teilhabe der Kirchen und Religionsgemeinschaften an der Gestaltung Europa festzuschreiben und einen strukturierten Dialog zwischen ihnen und den europäischen Institutionen zu verankern. Doch ganz unabhängig von der derzeit offenen Frage, worin das künftige Schicksal der Europäischen Verfassung bestehen wird, muss über die kulturellen Grundlagen und die kulturelle Gestalt Europas weiter geredet und notfalls auch gestritten werden. Als Christen müssen wir miteinander dafür eintreten, dass Europa nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern zugleich eine Wertegemeinschaft ist. Miteinander müssen wir dafür eintreten, dass dieses Europa sorgsam mit den Quellen umgeht, aus denen sich die moralische Sensibilität seiner Bürgerinnen und Bürger speist, die Quellen der jüdisch-christlichen Tradition eingeschlossen. Miteinander wollen wir uns dafür einsetzen, dass über diesem Europa der Himmel offen steht.

5. Die Charta Oecumenica

Für solche Ziele wollen sich die Kirchen Europas gemeinsam einsetzen. Deshalb haben sie sich auf gemeinsame Verpflichtungen verständigt. Diese gemeinsamen Verpflichtungen bilden den Inhalt der Charta Oecumenica, von der Konferenz Europäischer Kirchen und vom Rat der römisch-katholischen Bischofskonferenzen in Europa erarbeitet worden ist. Sie wurde den Kirchen im April 2001 zur Annahme und Umsetzung empfohlen. Inzwischen haben viele Kirchen in Europa dieses Dokument angenommen. Die Charta Oecumenica ist das am weitesten gespannte ökumenische Dokument, das wir in Europa haben, Auf dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin im Jahre 2003 wurde die Charta Oecumenica von 16 Kirchen aus Deutschland unterzeichnet.

Damit ist ein Anfang gesetzt, aber das Ziel der Charta wurde noch nicht erreicht. Es gilt vielmehr, die eingegangenen Verpflichtungen auch umzusetzen. Dafür ist es nötig, die Charta noch weit bekannter zu machen. Vielleicht ist diese Begegnung in Prag auch dafür eine gute Gelegenheit Wenn sich viele Christinnen und Christen mit diesem Dokument beschäftigen, wird dies ihr gemeinsames Hoffnungszeugnis stärken. Denn die in der Charta Oecumenica formulierten Leitlinien bringen auf ihre Weise die Hoffnung zur Sprache, die in uns ist. Lassen Sie mich dies hier kurz erläutern.

Die ersten sechs der insgesamt zwölf Leitlinien für eine wachsende Zusammenarbeit der Kirchen in Europa beziehen sich auf die Zusammengehörigkeit und Zusammenarbeit der Kirchen. Die letzten sechs Punkte haben unseren gesellschaftlichen Auftrag sowie den Umgang mit anderen Religionen und Weltanschauungen zum Inhalt.

Zunächst legen die Leitlinien dar, dass die Kirchen in Europa sich zur Einheit im Glauben berufen wissen und sich dazu verpflichten, auf die sichtbare Einheit der Kirche hinzuwirken (1). Auf diese Weise bringen sie die Hoffnung zum Ausdruck, dass die von Gott schon gegebene wahre Einheit der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen durch die Kraft des Heiligen Geistes in unserer Gegenwart lebendig werden möge. Sodann verpflichten sich die Kirchen dazu, gemeinsam das Evangelium durch Wort und Tat für das Heil aller Menschen zu verkündigen (2). Es ist ihnen wichtig, dass das ganze Volk Gottes gemeinsam das Evangelium in die gesellschaftliche Öffentlichkeit vermittelt wie auch durch sozialen Einsatz und die Wahrnehmung politischer Verantwortung zur Geltung bringt.

Um diese beiden Aufträge zu erfüllen, ist es nötig, die Beziehungen der Kirchen zueinander stetig zu verbessern und zu stärken. Darum verpflichten sich die Kirchen zu Austausch, Begegnung und ökumenischer Offenheit und zur Aufarbeitung der Geschichte der christlichen Kirchen (3). Damit stellen sie klar, dass niemand von uns die Hoffnung wie einen Besitz für sich reklamieren und eigenmächtig verwalten kann. Die Hoffnung kann nur gemeinsam entdeckt und miteinander geteilt werden. Des weiteren verpflichten sich die Kirchen, gemeinsam zu handeln und zu wirken auf örtlicher, regionaler, nationaler und internationaler Ebene, und dabei insbesondere für die Rechte von Minderheiten einzutreten (4). Sie tun dies, weil unser Handeln nicht ein selbstmächtiges Ergreifen von Optionen nach unserer Wahl ist, sondern eine Antwort auf Gottes Verheißungen bildet.

Das gemeinsame Handeln der Kirchen wurzelt in einem gemeinsamen Bekenntnis. Dieses Bekenntnis drängt darauf, auch in eine gemeinsame Glaubenspraxis zu führen. Darum verpflichten sich die Kirchen Europas dazu, miteinander zu beten und dem Ziel der eucharistischen Gemeinschaft entgegen zugehen (5). Dieser Weg ist von der Bitte getragen: „Dein Wille geschehe.“ Im Licht dieser Bitte wissen wir, dass wir Menschen das Reich Gottes nicht heraufführen und die Einheit der Menschheit nicht schaffen können. Aber wir können gemeinsam darum bitten, dass Gottes Wille geschehe, und im gemeinsamen Hören auf Gottes Verheißungen immer wieder den Grund unserer Hoffnung erinnern. Deshalb verpflichten sich die Kirchen dazu, miteinander im Dialog zu bleiben und in kritischen Fragen das Gespräch zu suchen (6). Denn sie hoffen, dass die in Christus begründete Zusammengehörigkeit tiefer gründet als die unterschiedlichen theologischen Positionen und kirchlichen Traditionen. Nach dem Willen Gottes gibt es in diesen Fragen keine Alternative zu einem ehrlichen und klaren Dialog.

Die weiteren Leitlinien gehen auf die drei großen gesellschaftspolitischen Verantwortung ein, denen wir uns stellen wollen und müssen: Die Kirchen verpflichten sich, die politische Gegenwart und Zukunft Europas aktiv mitzugestalten und das spirituelle Erbe des Christentums in den europäischen Einigungsprozess einzubringen (7). Sie setzen sich für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und die Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit und der Solidarität zur Geltung kommen. Sie betonen die Ehrfurcht vor dem Leben, den Wert von Ehe und Familie, den vorrangigen Einsatz für die Armen, die Bereitschaft zur Vergebung und in allem die Barmherzigkeit. Sie bringen damit grundlegende Werte der jüdisch-christlichen Überlieferung in den Bauplan des „Hauses Europa“ ein. Ferner verpflichten sich die Kirchen, die Versöhnung zwischen Völkern und Kulturen zu fördern (8). Sie hoffen darauf, dass die Kraft der Versöhnung der Welt mit Gott in Jesus Christus sich als lebendig erweist und Wunden auch dort heilt, wo uns das aus menschlicher Kraft allein als unmöglich erscheint. Als weitere Herausforderung liegt den Kirchen die Bewahrung der Schöpfung am Herzen. Sie verpflichten sich dazu, sich für nachhaltige Lebensbedingungen einzusetzen und den Vorrang der einmaligen Würde jedes Menschen vor dem technisch Machbaren festzuhalten (9). Sie bezeugen die Güte des Schöpfers, die uns in den Gaben der Natur wie in der Würde des Menschen entgegentritt.

Zuletzt erinnert die Charta daran, dass wir in Europa mit Menschen anderer religiöser oder weltanschaulicher Prägung zusammenleben. Die Kirchen verpflichten sich, die Gemeinschaft mit den Juden vertiefen und dem Antisemitismus entgegen zu treten (10). Denn uns verbindet eine einzigartige Gemeinschaft mit dem Volk Israel, mit dem Gott einen ewigen Bund geschlossen hat. Außerdem wollen die Kirchen die Beziehungen zum Islam zu pflegen (11) und die Begegnung mit anderen Religionen und Weltanschauungen suchen. Denn sie setzen sich für die Religions- und Gewissensfreiheit aller Menschen ein (12). Ihr Dialog mit den verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen ist von der Hoffnung getragen, dass Gottes universaler Heilswillen spürbar werde.

In ihren Kern ist die Charta Oecumenica ein Projekt der christlichen Hoffnung. Sie ist von der Zuversicht bestimmt, dass der Geist Gottes uns verbindet und stärkt. Diese Zuversicht wird durch eine Reihe von ermutigenden Erfahrungen bestärkt. Ich erwähne etwa den Austausch von Synodenerklärungen über die Schuld und Last der Vergangenheit zwischen der Kirche der Böhmischen Brüder und der EKD, die in eine Bitte um wechselseitige Vergebung münden. Daraus ist die Arbeit an einem gemeinsamen Verstehen und einer gemeinsamen Darstellung des Vertreibungsgeschehens hervorgewachsen. Die erlebte und erlittene Geschichte, die so lange Menschen gegeneinander aufbrachte und in Feindschaft festhielt, konnte gemeinsam beschrieben werden, weil beide Seiten bereit waren, diese Geschichte jeweils mit den Augen der anderen zu sehen. Dadurch wurde die Kette von Versöhnungsprozessen fortgesetzt, die auf andere Weise schon einmal vor vierzig Jahren mit der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland sowie durch den Briefwechsel zwischen den katholischen Bischöfen in Deutschland und Polen in Gang gesetzt worden war.

Wir wollen die gemeinsamen Tage in Prag nutzen, um uns in Dankbarkeit an solche Schritte der Versöhnung zu erinnern. Und wir wollen in diesen Tagen weitere Zeichen setzen und Projekte beginnen, bei denen Grenzen überschritten werden und Versöhnung Gestalt annimmt.

Wir sind eingeladen zur Hoffnung. Lasst uns keine neue Grenzen aufbauen oder alte Gräben vertiefen! Lasst uns vielmehr über alle Grenzen hinweg zusammenwachsen auf den hin, der unser Haupt ist, Jesus Christus.