Barmherzigkeit mit den Zweiflern - Überlegungen zum Weg unserer Kirche

Wolfgang Huber

1.

Eine Überlegung zum Weg unserer Kirche unter die Überschrift „Barmherzigkeit mit den Zweiflern“ zu stellen, ist befremdlich. Deshalb will ich Ihnen erläutern, was mich zu dieser Perspektive veranlasst hat. Es waren viele Gespräche dieses Jahres 2005, die mir dazu den Anstoß gegeben haben. Sie kreisten um die Naturkatastrophen dieses Jahres und die Erschütterung, die durch sie ausgelöst wurde. Sie kreisten darum, dass das Jahr 2005 im Bewusstsein mancher Menschen einen ähnlichen Einschnitt bedeutet wie das Jahr 1754, das Jahr des Erdbebens von Lissabon.

Dass Unwetter zu den prägenden Ereignissen eines Jahres gehören, haben die Menschen im Norden und Westen Deutschlands in den vergangenen Tagen erneut zu spüren bekommen. Aber Unwetter in noch weit schlimmeren Ausmaß haben das zu Ende gehende Jahr bestimmt; gewaltige Katastrophen, die in besonderer Weise das Mitgefühl rund um den Globus und zugleich die Frage nach Gott herausgefordert haben: die Flutwelle im Indischen Ozean, die Unwetter über dem Süden der USA und über Mittelamerika bis in diese Tage hinein, das Erdbeben in Pakistan und Indien mit der anhaltend bedrohlichen Lage für Millionen von Menschen, die ohne Obdach sind. Die Trauer über vielfachen Tod und unsagbares menschliches Leid hatte in diesem Jahr besonders erschreckende Anlässe.

Bei Katastrophen eines solchen Ausmaßes ist mit dem Hinweis auf menschliches Versagen niemals alles gesagt. Auch wenn es im Indischen Ozean ein Tsunami-Warnsystem von der Güte gegeben hätte, wie es im Pazifik existiert; auch wenn die Evakuierungsmaßnahmen in New Orleans nicht so zögerlich durchgeführt worden wären, wie es geschehen ist; auch wenn schneller Hilfsgüter in die pakistanischen Bergdörfer gebracht worden wären: Flutwelle, Wirbelsturm und Erdbeben sind mehr als ein von Menschen verursachter Unglücksfall.

Diese Katastrophen haben die Frage nach Gott öffentlich laut werden lassen. Sind solche Unglücksfälle ein Ausdruck von Gottes Zorn oder zeigen sie seine Ohnmacht? Sind sie Symbole dafür, dass es Gott nicht gibt, oder führen sie uns dazu, in aller eigenen Hilflosigkeit bei Gott Halt zu suchen?

Jede dieser Fragen wie jede Antwort auf sie trägt schon ein Bild von Gott und eine Vorstellung vom Glauben in sich. Wer tiefer fragt, wird bei den Alternativen nicht stehen bleiben, in denen die öffentliche Debatte solcher Fragen sich oft verfängt. Er kann sich an den Gott halten, der in Jesus selbst zum Anwalt des Gotteszweifels wurde: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (Markus 15,34)? Er wird sich zu Gott als dem Schöpfer bekennen, der in seinem schöpferischen Handeln der Schöpfung Raum und damit auch ein Eigenrecht gibt – wie er uns Menschen Freiheit zuerkennt. Angesichts solcher Ereignisse wird uns bewusst, dass sich der Glaube an Gottes Allmacht nicht auf eine vermeintliche Garantie des guten Ausgangs, sondern auf eine Geborgenheit in Gott richtet, die uns in guten wie in schweren Erfahrungen trägt. Wer auf diese Geborgenheit hofft, wird sich Gott in Klage und Fürbitte anvertrauen und bei dem Zuflucht suchen, der in Christus auf der Seite der Leidenden steht. Und er wird dafür eintreten, dass das Menschenmögliche geschieht, um derartiges Unglück einzudämmen und seine Folgen zu mildern. Dazu gehört der Einsatz gegen einen forcierten, durch menschliches Handeln veranlassten Klimawandel ebenso wie verbesserte Frühwarnsysteme, sicherere Lebensräume und weitsichtigere Fürsorge vor allem für diejenigen, die zur Vorsorge aus eigener Kraft nicht im Stande sind.

2.

Erbarmt euch derer, die zweifeln, heißt es in einem neutestamentlichen Brief (Judas 22). Zum Weg des Glaubens gehört das Fragen, das Zweifeln, die Suche nach Orientierung. Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben – so lautet ein neutestamentliches Gebet, das an Kürze und Aufrichtigkeit nur schwer zu überbieten ist (Markus 9,24). Eine Kirche, die sich dem Auftrag verpflichtet weiß, die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk (so die 6. These der Barmer Theologischen Erklärung), steht den Zweiflern nahe. Sie nimmt die Menschen – auch die, die an den Rändern der Kirche leben – wahr und ernst.

Zweifler: Das sind heutzutage Menschen jeden Alters, die, durch Naturkatastrophen aufgeschreckt, die Frage stellen, wie Gott das zulassen konnte. Dass sie vielleicht zuvor über Jahre hin Gott vergessen hatten, kommt ihnen dabei gar nicht zum Bewusstsein. Doch ob sich an ihr Fragen etwas anschließt, ob jemand ihre Frage aufnimmt, kann für ihren weiteren Weg entscheidend sein.

Zweifler: Das sind heutzutage junge Leute, die – in kirchenfernen Familien aufgewachsen – neu und mit beeindruckender Hartnäckigkeit nach Gott fragen. Im einen Fall finden sie, im Zusammenhang der Konfirmation beispielsweise, den Weg zur Taufe; im andern Fall kapselt sich ihr Fragen ein und verstummt.

Zweifler: Das sind heutzutage Menschen, die zwar getauft sind, aber den Kontakt zur Kirche verloren haben. Viele von ihnen sind aus der Kirche ausgetreten, aus höchst unterschiedlichen Motiven. Eine nennenswerte Zahl steht nicht mehr zu der damaligen Begründung; aber die Schwelle dazu, diese Entscheidung zu revidieren, erscheint als zu hoch. Oft hilft niemand dabei, sie zu überwinden; denn das direkte Gespräch über den Wiedereintritt in die Kirche gilt sogar – oder gerade – unter Kirchentreuen als aufdringlich. Zwischen 3,5 und 5 Millionen Menschen leben in Deutschland, die evangelisch getauft sind, der evangelischen Kirche aber nicht mehr angehören. Die wenigsten von ihnen haben eine andere Konfessionszugehörigkeit angenommen. Die meisten bewegen sich im Land der Zweifler.

Zu diesen Zweiflern gehören auch diejenigen, die in einer anderen christlichen Kirche zu Hause waren, aber in ihr nicht mehr heimisch sind. Bietet unsere Kirche ihnen eine Heimstatt? In vielen Fällen ist das so, wie Untersuchungen zu Motiven des Kircheneintritts belegen. Aber in anderen Fällen bleibt eine solche neue Beheimatung aus. Der Kirchenaustritt könne den eigenen Eltern noch zugemutet werden, der Übertritt in eine andere Kirche nicht – so kann man dann hören. Zweifler haben vielfältige Biographien.

 Unsere Aufmerksamkeit muss ganz besonders der kirchlichen Außenhaut gelten, also den Menschen, die man als kirchliche Membran bezeichnen kann: Menschen, die sich der Ortsgemeinde gern für einen kurzen Lebensabschnitt zuordnen; Eltern, die ab und an den Gottesdienst besuchen würden, wenn es ein geeignetes Angebot gäbe, das ihre Kinder einschließt; Interessierte außerhalb der Kirche, die für bestimmte Vorhaben erhebliche Gelder spenden; vor Jahren oder Jahrzehnten Ausgetretene, die darüber nachdenken, wieder in die Kirche zurückzukehren. Entgehen uns die Schwingungen dieser kirchlichen Membran? Oder finden solche Menschen in unserem kirchlichen und gemeindlichen Handeln die Aufmerksamkeit, die sie verdienen? Seid barmherzig mit den Zweiflern!

Menschen fragen wieder nach dem Glauben, weil sie ihrer bisherigen Lebensdeutungen unsicher werden. Sie suchen nicht nach noch mehr Erlebensräumen und Erlebnisvielfalt. Sie suchen nach der Wurzel, die sie trägt, nach der Gemeinschaft derer, die ihnen auch in Krisen beistehen, nach einer Hoffnung für ihr Leben.

Religiöse Interessen werden wieder lebendig. Danach, was die Kirche zu sagen hat, wird wieder gefragt. Sie ist gut beraten, es ernst zu nehmen, wenn ihre Themen dran sind. Manches an der neuen Zuwendung zur Religion ist gewiss problematisch; es gibt durchaus bedrohliche Formen von Religion. Ihnen darf das Feld nicht überlassen werden. Auch deshalb ist unsere Kirche zu klarer, erkennbarer Präsenz verpflichtet. Das Fragen, das Zweifeln, die Unsicherheit – sie alle markieren einen Rand, auf dessen anderer Seite der Weg des Glaubens führt.

3.

Der Glaube ist keine Sicherheit, die den Zweifel ausschließt; er ist vielmehr eine Gewissheit, die den Zweifel aufnimmt. Es gehört deshalb zu den Unglücksfällen der Moderne, dass der methodische Zweifel, der zur Antriebskraft der neuzeitlichen Wissenschaft wurde, als Antipode des Glaubens dargestellt wurde.

Doch die daraus resultierende Überzeugung, auf die Gewissheit des Glaubens nicht mehr angewiesen zu sein, hat sich ebenso wenig bewährt wie die Hoffnung, dass die Wohlstandsversprechen unserer Zeit dem Leben dauerhaften Halt verleihen. Die Vorstellung, dass die Sicherung eines humanen Lebens und Zusammenlebens durch die Verteilung von Zuwächsen gewährleistet werden könne, hat sich aufgelöst.

Unsere Zeit steht in weitem Maß unter dem Diktat der Ökonomie. Aber Wirtschaft ist keine Sinngarantie. Auch die Erwartung äußerer Sicherheit hat sich als trügerisch erwiesen. In diesem Sommer ist uns diese Erfahrung besonders nahe gerückt, als in London vier Bomben explodierten und nur zehn Tage später Angst und Unsicherheit zum Tod eines Unschuldigen führten. Auch die Ausbreitung des Grippevirus durch die vielfältigen Wege der Zugvögel lässt uns spüren, dass es letzte Sicherheit auf diesem Planeten nicht gibt.

Die Versuchung ist groß, dass der Mangel an äußerer Sicherheit durch religiöse Sicherheit kompensiert werden soll. Das lässt sich nicht nur an bestimmten Strömungen im Islam, sondern auch im Christentum beobachten. Das Wachstum mancher Kirchen ist in unserer Zeit auf das Versprechen einer solchen Glaubenssicherheit gegründet. Aber wer für jede Frage die Antwort des Glaubens im vorhinein für bekannt hält; wer voll Sicherheit von jeder Bibelstelle sagen kann, wie sie zu verstehen ist; wer niemals an seinem Gott zweifelt und mit ihm ringt, ist auf dem Weg des Glaubens stehen geblieben.

Gewissheit wollen wir den Menschen vermitteln, die Gewissheit des Glaubens. Das ist eine Gewissheit, die Abgründe, an die wir geführt werden, nicht im Vorhinein zuschüttet. Es ist eine Gewissheit, die offenen Fragen standhält und fremde Antworten achtet. Es ist eine Gewissheit, die in der Gemeinschaft der Glaubenden für die Gewissensbindung jedes und jeder einzelnen einen Raum bereithält. Diese Gewissheit verbindet unsere Kirche deshalb zu einer fröhlichen und zuversichtlichen Gemeinschaft der Glaubenden, weil in ihr die Barmherzigkeit mit den Zweiflern und auch mit unseren eigenen Zweifeln Raum hat.

4.

Der Weg des Glaubens ist ein Weg in einer Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern. Auch wenn das beharrliche Festhalten an Glaubensüberzeugungen in einsame Entscheidungen führen kann, so ist doch der Weg des Glaubens niemals ein einsamer Gang; er weiß sich immer begleitet durch die Fürbitte in Gottesdienst oder persönlichem Gebet.

Schon deshalb kann der christliche Glaube die Aussage, Religion sei Privatsache, für sich selbst niemals gelten lassen. Eine einseitige Betonung der innerlichen Dimension des Glaubens oder gar seine esoterische Verflüchtigung führen in die Irre. Nikolaus Graf Zinzendorf konstatierte: Kein Christentum ohne Gemeinschaft. Er hatte Recht.

In evangelischer Sicht liegt der Hauptgrund für diese Feststellung darin, dass der christliche Glaube nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in Gegenwart und Zukunft ohne die Gemeinschaft der Glaubenden nicht denkbar ist. Er lebt aus der um Wort und Sakrament versammelten Gemeinschaft, aus der konkreten Verbundenheit von Menschen, in der sich christliche Bildungsprozesse vollziehen, aus der Gemeinschaft des praktischen Handelns in christlicher Verantwortung. Er bewährt sich in einer Gemeinschaft des Zeugnisses und der wechselseitigen Ermutigung, in einer Gemeinschaft, die den christlichen Glauben feiert und ihn im Alltag bewährt.

Jeder und jede Glaubende hat an dieser Gemeinschaft einen eigenen und aktiven Anteil; darauf verweist die Reformation mit der These vom Priestertum aller Glaubenden. Die Gaben aller Getauften sollen dafür fruchtbar gemacht werden, dass Menschen Zugang zum Evangelium finden. Das ist der Kern des evangelischen Bilds der Kirche. Nur in dem Maß, in dem unsere Kirche von der Vielfalt der Gaben, die ihr anvertraut sind, Gebrauch macht, trägt sie das Ihre zur Weitergabe des christlichen Glaubens bei. Das ordinierte Amt wie die besonderen Beauftragungen in unserer Kirche ordnen wir diesem Allgemeinen Priestertum zu. Dabei beachten wir das ökumenische Umfeld; aber die aus der Vorstellung von einem besonderen Weihepriestertum hergeleiteten Kriterien können die evangelische Diskussion dieser Frage nicht bestimmen.

5.

In den zurückliegenden Monaten haben in besonderer Weise Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche dazu genötigt, auf der Grundlage des evangelischen Bekenntnisses Klarheit über die ökumenische Lage zu gewinnen. Ich habe die gegenwärtige Phase der ökumenischen Beziehungen in diesem Zusammenhang als eine Ökumene der Profile bezeichnet.

Die Rede von einer Ökumene der Profile soll den ökumenischen Einsatz unserer Kirche auf neue Weise unterstreichen. Wir wollen das Gemeinsame stärken. Den einen Glauben haben wir zu bekennen, weil wir an den einen Herrn gebunden sind. Die eine Taufe feiern wir, weil uns der eine Geist bestimmt (vgl. Epheser 4,4-6). Deshalb wollen wir in der Gemeinschaft aller Kirchen, die der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen angehören, zu einer Vereinbarung über die wechselseitige Anerkennung der Taufe kommen. Damit nehmen wir wichtige Impulse auf, die aus der weltweiten ökumenischen Arbeit, insbesondere aus der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen, hervorgegangen sind.

Eine erneute Verständigung darüber, dass die Taufe ein wichtiges Band der Einheit zwischen den christlichen Kirchen ist, hat auch eine klärende Auswirkung auf das Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen und den nichtchristlichen Religionen. Denn ebenso wie die Taufe im Namen des dreieinigen Gottes die Kirchen miteinander verbindet, markiert sie einen Unterschied zu den nichtchristlichen Religionen. Genauso wie die Taufe auf den Tod und die Auferweckung Jesu Christi die christlichen Kirchen zur Einheit verpflichtet, macht sie deutlich, dass diese Einheit etwas anderes ist als der Dialog mit anderen Religionen. Dabei ist das Verhältnis zum jüdischen Glauben gesondert zu betrachten. Denn Jesus war Jude; das Bekenntnis zu ihm schließt das Bekenntnis zu Gottes ungekündigtem Bund mit seinem Bundesvolk ein. Aber wer die konstitutive ökumenische Bedeutung der Taufe hervorhebt, wird von einer Makro-Ökumene der Religionen nicht sprechen können. Er wird auch dem Weg zu religionsverbindenden gemeinsamen Gebeten oder zu interreligiösen Feiern aus besonderen lebensgeschichtlichen Anlässen nicht das Wort reden.

Das Gemeinsame zwischen den christlichen Kirchen zu stärken, bleibt die erste ökumenische Aufgabe. In diesem Rahmen muss auch über unterschiedliche Auffassungen des christlichen Glaubens wie über unterschiedliche Typen des Kircheseins offen gesprochen werden. Die Wahrnehmung von Differenzen ist keine Absage an die ökumenische Verpflichtung, sondern bildet in ihr ein unaufgebbares Moment.

Der Dialog über die jeweiligen Prägungen der unterschiedlichen Kirchenfamilien gewinnt heutzutage aus einer Reihe von Gründen an Gewicht. Die verstärkte Hinwendung des römisch-katholischen Interesses zu den orthodoxen Kirchen trägt dazu ebenso bei wie die Notwendigkeit, sich verstärkt mit evangelikalen und pflingstlerischen Strömungen zu beschäftigen. Solche Bemühungen können in wichtigen Fragen Übereinstimmungen zur Folge haben. Aber sie zielen auch darauf, dass Gemeinsamkeit auch in der Differenz bewahrt und gelebt werden kann.

Dies setzt freilich voraus, dass sich die Verschiedenen im Bewusstsein des Gemeinsamen respektieren. Versöhnte Verschiedenheit  ist und bleibt ein Grundzug des ökumenischen Miteinanders. Wir halten an der Hoffnung auf ein wachsendes Maß an Gemeinschaft fest; das Bemühen darum muss weitergehen. Aber die Verweigerung des Respekts vor dem Kirchesein eines ökumenischen Partners ist kein geeignetes Mittel, die Gemeinschaft mit ihm wachsen zu lassen. Zum wechselseitigen Respekt zwischen ökumenischen Partnern, den Respekt vor den kirchlichen Ämtern des anderen eingeschlossen,, gibt es keine Alternative. 

In die Ökumene unserer Zeit bringen wir gern und zuversichtlich unser evangelisches Profil ein. Wir wollen es für das gemeinsame Zeugnis fruchtbar machen. Heute bezeugen wir das Evangelium in missionarischer Situation. Ökumenisch verbunden sind wir nicht zuletzt durch den Auftrag zu einem gemeinsamen Wirken nach außen. Dieses wird nicht geschwächt, wenn die bleibenden Unterschiede zwischen den Kirchen hervortreten und verständlich gemacht werden. Es wird vielmehr dann geschwächt, wenn die Kirchen zwar voneinander getrennt bleiben, aber niemand weiß, warum. Wenn die beiden großen Konfessionen in Deutschland auf je unterschiedliche Weise dazu beitragen, dass das eine Evangelium die Menschen erreicht, brauchen sie sich ihrer Unterschiede nicht zu schämen.

Zu den Stärken evangelischen Glaubensverständnisses zählen wir die Ausrichtung an Gottes lebendigem Wort; zu ihr gehört die Bereitschaft, Glauben und Vernunft, Frömmigkeit und Aufklärung miteinander zu verbinden und nicht auseinander treten zu lassen. Persönliche Freiheit, Gewissensverantwortung und der daraus erwachsende Einsatz für das Leben in Gemeinschaft sind Grundpfeiler evangelischer Frömmigkeit. Wir suchen die Nähe zu den Menschen unserer Zeit und den Debatten, die sie bewegen; aber wir schwächen das Befremdliche am Wort der Bibel nicht ab, sondern sprechen es in unsere Zeit hinein. Angstfrei treten wir mit unserer Glaubensüberzeugung in den Dialog mit Wissenschaft und Kultur; so versuchen wir, das Weltkulturerbe von Glaube, Hoffnung und Liebe für unsere Zeit fruchtbar zu machen.

6.

Barmherzigkeit mit den Zweiflern: Das wird uns auch durch den nötigen Umbau unserer Kirche abverlangt. Der Alterswandel unserer Gesellschaft wirkt sich auch auf unsere Kirche aus. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Veränderungen in der staatlichen Steuerpolitik tragen zu einer durchweg schwierigen finanziellen Lage bei. Wir versuchen, dem entgegenzuwirken, wo es möglich ist. Nach meiner Überzeugung sind die Steuererleichterungen im Bereich der direkten Steuern an eine Grenze gekommen; sie sollten so nicht weitergeführt werden. Steuerpolitische Entscheidungen, die einen weiteren Rückgang des Kirchensteueraufkommens nach sich ziehen, würden uns allen schaden.

Aber es gibt – insbesondere im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung – auch Faktoren, die der unmittelbaren kirchlichen wie politischen Einwirkung entzogen sind. Diese Entwicklungen sind mit schmerzhaften Einschnitten in wichtige kirchliche Arbeitsfelder verbunden. Das kann nur mit großem Bedauern gesehen werden. Aber es ist unsere Pflicht, alles uns Mögliche zu tun, damit dabei die Gestalt unserer Kirche klar erkennbar bleibt und, wo immer das geht, besser erkennbar wird.

An vielen Stellen in unserer Kirche ist ein Geist zu spüren, der nicht auf Abbau, sondern auf Umbau gerichtet ist und sich von dem Zutrauen auf eine gelingende Konzentration der Kräfte leiten lässt. Er weiß sich getragen durch den Auftrag Jesu. Und er lässt sich ermutigen durch die Erfahrung, dass kirchliches Engagement in unserer Gesellschaft unverzichtbar ist.

7.

Noch ungewollt und unbewusst bildete das Fragen nach Gott im Angesicht der Flutwelle rund um den Indischen Ozean den Auftakt zu einem Jahr, das auch auf ganz andere Weise durch eine Wiederkehr der Religion bestimmt war. Nicht nur das weltweite mediale Echo auf die Papstereignisse dieses Jahres oder die breite Resonanz des Weltjugendtags in Köln haben dafür Zeichen gesetzt. Sondern ebenso haben die große geistliche Intensität des Evangelischen Kirchentags in Hannover und die hohe Aufmerksamkeit, die er gerade deshalb gefunden hat, oder die Einweihung der Dresdner Frauenkirche mitsamt ihrem beeindruckenden Echo die Veränderungen deutlich gemacht, die sich auch in unserem Land vollziehen.

Tastend wenden sich auch die Zweiflern unter unseren Zeitgenossen wieder der Kirche zu – als einer Institution des Vertrauens in einer Zeit allgemeiner Verunsicherung. Das ist keine illegitime Erwartung: dass eine Institution, die den Glauben – also das Vertrauen auf Gott – zum Thema hat, auch selbst eine Institution des Vertrauens ist. Deshalb will ich am Schluss meiner Überlegungen in sieben Punkten beschreiben, worin unsere Kirche sich als eine Institution des Vertrauens bewähren oder zu einer solchen Institution entwickeln kann.

1. Vertrauen bildet sich durch den einladenden Charakter einer Gemeinde oder einer Kirche. Vertrauen als Grundlage jeder Gemeinde erneuert sich im Gottesdienst und wirkt zugleich nach außen. Wo eine Gemeinde nicht aus dem Gottesdienst lebt, wird ihr die entscheidende Vertrauensgrundlage fehlen. Wo sie aber nicht hinausgeht, sich der Öffentlichkeit stellt und sich dieser öffnet, wird es keine Gelegenheit geben, sie als vertrauenswürdig kennen zu lernen.

2. Vertrauen bildet sich insbesondere über eine persönliche Beziehung zur Pfarrerin oder zum Pfarrer. Diese Personen stehen in besonderer Weise für die Vertrauenswürdigkeit nicht nur der Gemeinde, sondern oft auch der ganzen Kirche. Verlässlichkeit im Kleinen wie im Großen bildet deshalb eine ebenso wichtige Voraussetzung für Vertrauensbildung wie die aktive Zuwendung zu Gruppen, die der Gemeinde beziehungsweise der Pfarrerin oder dem Pfarrer misstrauisch gegenüber stehen. „Das Vertrauen der Gemeindeglieder – so hat Isolde Karle es gesagt – ist die entscheidende Basis pastoralen Handelns.“

3. Wie unmittelbar kirchliches Handeln auf Vertrauen angewiesen ist, zeigt sich beispielhaft an der seelsorgerlichen Verschwiegenheit als elementarem Baustein kirchlicher Vertrauenswürdigkeit. Sie muss als hohes Gut von der Kirche bewahrt, aber auch vom Staat geachtet werden.

4. Das Priestertum aller Glaubenden gehört zur besonderen Vertrauensstruktur der evangelischen Kirche. Es ist ein unschätzbarer Reichtum unserer Tradition. Die dadurch ermöglichte Vielfalt des kirchlichen Zeugnisses bildet ein kostbares Gut. Vertrauen wird am ehesten dann wachsen, wenn unterschiedliche Auffassungen offen ausgetragen und in transparenten Verfahren gefundene Lösungen fair akzeptiert werden.

5. Vertrauen gewinnen Kirchen und Gemeinden auch durch ihr Bildungsengagement und durch ihre diakonische Präsenz. Wir sind als Kirche dazu verpflichtet, mit diesem Pfund zu wuchern und die Bildungsinstitutionen wie die diakonischen Einrichtungen unserer Kirche unter den schwierigen Bedingungen der Gegenwart zukunftsfähig zu machen.

6. Auch kirchenleitende Organe sind in diese Überlegung einzubeziehen. Unverständnis und vielleicht auch Misstrauen entstehen durch die Undurchsichtigkeit unserer kirchlichen Strukturen. Dadurch verfestigen sich Vorurteile. Vertrauen setzt Transparenz der Strukturen und Ehrlichkeit im Umgang mit eigenen Schwierigkeiten voraus. Gewiss sind Strukturen weder heilsnotwendig noch seligmachend. Doch dass wir beim Jüngsten Gericht nicht danach gefragt werden, wie wir  unsere Verantwortung für auftragsgemäße Strukturen wahrgenommen haben, würde ich nicht als sicher voraussetzen. Strukturen, die verständlich sind und Beteiligung ermöglichen, brauchen Vertrauen; aber sie schaffen und fördern auch Vertrauen.

7. Das Vertrauen in die Kirche bemisst sich auch an der Glaubenscourage ihrer Vertreterinnen und Vertreter, an der Vertrauenswürdigkeit ihres öffentlichen Worts. Immer wieder neu müssen wir den Mut gewinnen, uns aufgrund des Gottvertrauens ganz der Welt zuzuwenden, um in ihr christliche Verantwortung zur Geltung zu bringen.