„Evangelisch - profiliert - wertvoll“ - Vortrag in der Stadtkirche Bückeburg

Wolfgang Huber

I.

Für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe gibt es schon ein historisches Interesse, sich des Dreiklangs „evangelisch-profiliert-wertvoll“ zu erinnern. Denn dass die damalige Grafschaft Schaumburg evangelisch würde, war lange Zeit umstritten. Als Graf Otto IV. am 5. Mai 1559 die Mecklenburgische Kirchenordnung von 1552 in der Grafschaft Schaumburg für allein verbindlich erklärte, bildete dieser Schritt den Abschluss eines längeren Ringens zwischen den reformatorischen Predigern und den Gegnern der Reformation. Doch ob es ein Zufall ist, dass sich an die Einführung der Reformation alsbald, während der Herrschaft des Fürsten Ernst zu Holstein-Schaumburg (1601-22), die Blütezeit des Landes anschloss? Neben dem Ausbau der Residenz Bückeburg im Stil der "Weserrenaissance" sind vor allem die Gründung der Universität Rinteln im Jahr 1621 und der Bau dieser Kirche, der Stadtkirche in Bückeburg, in den Jahren 1611 bis 1615 unübersehbare Zeichen dieser Blüte, die durch die Verbindung von Glaube und Bildung geprägt war.

Das Verhältnis von Glaube und Bildung, an das ich mit dieser knappen Erinnerung angeknüpft habe, ist ein urreformatorisches Thema. Luther und Melanchthon wollten – angeregt durch den humanistischen Impuls von Johann Reuchlin oder Erasmus von Rotterdam – dazu beitragen, dass jeder Mensch seinen Glauben verstehen und erfassen könne. Es war der so genannte „Köhler-Glaube“, den Luther ablehnte. Dabei dachte er an jene spätmittelalterlichen Holzsammler, die an den Rändern der damaligen Zivilisation im Wald lebten und darüber wachten, wie das gesammelte Holz zu Holzkohle wurde – ohne jede Möglichkeit zu einem gebildeten Austausch. Für Menschen wie sie hatte die mittelalterliche Kirche den Grundsatz formuliert, es reiche für ihr Seelenheil vollständig, wenn sie das glaubten, was die heilige, katholische Kirche ihnen zu glauben vorlege. Luther hat diesem Prinzip eines unverstandenen Glaubens nachdrücklich widersprochen; deswegen haben wir einen Kleinen Katechismus, ein allgemeines Schulwesen und auch eindrückliche Bibliotheken.

II.

Freilich wurde die von der Reformation angestrebte Verbindung von Glauben und Verstehen in Europa seit der Aufklärung überlagert von einer Trennung zwischen Glauben und Wissen, für die man sich immer wieder auf Lessings „garstig breiten Graben“ berief, der historische Einsicht und Glaubensgewissheit voneinander trennt. Diese Trennung hat auf ihre Weise dazu beigetragen, dass sich in Mitteleuropa ein Säkularisierungsbewusstsein durchsetzte. Ihm  zufolge wurde nicht nur der Staat als säkular betrachtet, weil er die gleiche Religionsfreiheit aller achtete und sich deshalb von der politischen Bestimmungsmacht der Religion befreite. Als säkular galt vielmehr auch das wissenschaftliche Wahrheitsbewusstsein, das sich nicht mehr auf Gründe der Religion stützen konnte; mit dem Siegeszug der modernen Wissenschaft breitete sich dieses säkulare Bewusstsein auch in der Gesellschaft so weitgehend aus, dass sogar die Kirche darauf mit Prozessen der Selbstsäkularisierung reagierte.

Nun aber erleben wir weltweit eine Wiederkehr der Religion. Europa ist von diesem Prozess nicht ausgenommen, auch wenn er hier einstweilen zurückhaltender und moderater in Erscheinung tritt. Dabei ist nicht nur zu beobachten, dass die Frage der Religion auf die Tagesordnung von Politik und Gesellschaft zurückkehren. Dafür hat sich als Startdatum nur mit einem gewissen Recht der 11. September 2001 eingeprägt. Doch durch die Fixierung auf dieses Datum schieben sich die Stichworte Gewalt und Religion in einer Weise in den Vordergrund, die auch etwas Unangemessenes hat.

Denn im vergangenen Jahr gab es reichlich Anlass, auch andere Formen der „Wiederkehr des Religiösen“ wahrzunehmen: Wie stark präsent waren doch die mediale Aufmerksamkeit für das Sterben und die Begräbnisfeier von Papst Johannes Paul II. Der Abschied von diesem Papst stellte in seiner Person die Würde des Menschen und in seiner Gestaltung die Würde christlicher Rituale vor Augen. Dass so viele Menschen über die Medien daran teilgenommen haben, können wir nur begrüßen. Allen Christen, ja allen Menschen guten Willens tut es gut, wenn sie sich mit einem beispielhaften Glaubenszeugen beschäftigen und neu lernen, was es heißt, von einem Menschen würdig Abschied zu nehmen – so nämlich, dass sein Name genannt und sein Leben in Gottes Hand zurückgelegt wird. Von Freude und Mitfreude waren die weiteren Anlässe geprägt, die im vergangenen Jahr Glauben und Religion in der Öffentlichkeit präsent werden ließen: die Wahl Papst Benedikts XVI., sein Besuch in Deutschland, der 30. Deutsche Evangelische Kirchentag in Hannover und nicht zuletzt die Wiedereinweihung der Dresdner Frauenkirche.

Doch auch nachdenkliche Töne haben sich mit dem Fragen nach Gott verbunden. Viele meiner Gespräche im zurückliegenden Jahr kreisten um die Naturkatastrophen dieses Jahres und die Erschütterung, die durch sie ausgelöst wurde. Sie kreisten darum, dass das Jahr 2005 im Bewusstsein mancher Menschen einen ähnlichen Einschnitt bedeutet wie das Jahr 1754, das Jahr des Erdbebens von Lissabon.

Dass Unwetter zu den prägenden Ereignissen eines Jahres gehören, haben die Menschen im Norden und Westen Deutschlands in diesem Winter erneut zu spüren bekommen. Aber Unwetter in noch weit schlimmeren Ausmaß haben das zu Ende gehende Jahr bestimmt; gewaltige Katastrophen, die in besonderer Weise das Mitgefühl rund um den Globus und zugleich die Frage nach Gott herausgefordert haben: die Flutwelle im Indischen Ozean, die Unwetter über dem Süden der USA und über Mittelamerika, das Erdbeben in Pakistan und Indien mit ihren bedrohlichen Folgen für Millionen von Menschen, die ohne Obdach sind. Die Trauer über vielfachen Tod und unsagbares menschliches Leid hatte letzten Jahr besonders erschreckende Anlässe.

Bei Katastrophen eines solchen Ausmaßes ist mit dem Hinweis auf menschliches Versagen niemals alles gesagt. Auch wenn es im Indischen Ozean ein Tsunami-Warnsystem von der Güte gegeben hätte, wie es im Pazifik existiert; auch wenn die Evakuierungsmaßnahmen in New Orleans nicht so zögerlich durchgeführt worden wären, wie es geschehen ist; auch wenn schneller Hilfsgüter in die pakistanischen Bergdörfer gebracht worden wären: Flutwelle, Wirbelsturm und Erdbeben sind mehr als ein von Menschen verursachter Unglücksfall.

Diese Katastrophen haben die Frage nach Gott öffentlich laut werden lassen. Sind solche Unglücksfälle ein Ausdruck von Gottes Zorn oder zeigen sie seine Ohnmacht? Sind sie Symbole dafür, dass es Gott nicht gibt, oder führen sie uns dazu, in aller eigenen Hilflosigkeit bei Gott Halt zu suchen?

Jede dieser Fragen wie jede Antwort auf sie trägt schon ein Bild von Gott und eine Vorstellung vom Glauben in sich. Wer tiefer fragt, wird bei den Alternativen nicht stehen bleiben, in denen die öffentliche Debatte solcher Fragen sich oft verfängt. Er kann sich an den Gott halten, der in Jesus selbst zum Anwalt des Gotteszweifels wurde: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (Markus 15,34)? Er wird sich zu Gott als dem Schöpfer bekennen, der in seinem schöpferischen Handeln der Schöpfung Raum und damit auch ein Eigenrecht gibt – wie er uns Menschen Freiheit zuerkennt. Angesichts solcher Ereignisse wird uns bewusst, dass sich der Glaube an Gottes Allmacht nicht auf eine vermeintliche Garantie des guten Ausgangs, sondern auf eine Geborgenheit in Gott richtet, die uns in guten wie in schweren Erfahrungen trägt. Wer auf diese Geborgenheit hofft, wird sich Gott in Klage und Fürbitte anvertrauen und bei dem Zuflucht suchen, der in Christus auf der Seite der Leidenden steht. Und er wird dafür eintreten, dass das Menschenmögliche geschieht, um derartiges Unglück einzudämmen und seine Folgen zu mildern. Dazu gehört der Einsatz gegen einen forcierten, durch menschliches Handeln veranlassten Klimawandel ebenso wie verbesserte Frühwarnsysteme, sicherere Lebensräume und weitsichtigere Fürsorge vor allem für diejenigen, die zur Vorsorge aus eigener Kraft nicht im Stande sind.

Ein neues religiöses Fragen und die Zunahme einer teilweise freilich sehr diffusen Religiosität kann man vielerorts feststellen. Kirchengemeinden werten gerade die Erfahrungen mit den Weihnachtsgottesdiensten dieses Jahres aus; manche von ihnen haben einen erneuten Zuwachs der Besucherzahlen an den Christvespern von dreißig, ja an manchen Stellen bis zu fünfzig Prozent erlebt. Die „Wiederkehr der Religion“ gibt es in weltweitem Maßstab, in dem gegenwärtig ein Wachstum der Anhängerschaft aller großen Weltreligionen zu beobachten ist. Aber sie vollzieht sich eben auch bei uns.  Der Glaube, der in den letzten Jahrzehnten für viele nur noch eine Deutungsperspektive weltlicher Erfahrungen war, wird wieder in seinem transzendenten Bezug zum Thema. Die Kirche, die in den letzten Jahrzehnten für viele nur noch als politische Akteurin und sozialethische Mahnerin erkennbar war, wird wieder als Raum für die Begegnung mit dem Heiligen wahrgenommen. Auf die Frage, was die wichtigste Aufgabe der Kirche sei, wurde lange Zeit geantwortet: der diakonische Einsatz für Alte und Kranke sowie das Eintreten für die Schwachen in der Gesellschaft. Auch wenn diese Antwort ihre Bedeutung behält, sagen inzwischen doch viele, die wichtigste Aufgabe der Kirche sei die Eröffnung eines Raums für die Begegnung mit dem Heiligen, die Botschaft von Gottes Zuwendung zu seiner Welt, die Sorge für die Seelen. Die religiöse Tiefenschicht des menschlichen Lebens wird wieder entdeckt – gerade der Deutsche Evangelische Kirchentag war dafür ein deutlicher Beleg. Und von der Kirche wird erwartet, dass sie bei der Auseinandersetzung mit dieser Tiefenschicht klare Orientierung gibt.

Diese Wiederkehr des Religiösen tritt aber gerade in unseren Breiten in ein massives Spannungsverhältnis zu der Selbstsäkularisierung, die wir hinter uns und in uns haben, nicht nur als Gesellschaft, sondern auch als Kirche:

Wir können nicht davon absehen: Der christliche Glaube hat in einem zweihundert Jahre andauernden Säkularisierungsprozess gerade in Europa seine Selbstverständlichkeit eingebüßt. Auch in den Kirchen finden sich oft nur noch rudimentäre, bruchstückhafte,  patchwork-ähnliche Formen von Glaubenswissen. Die postmoderne Auflösung aller Metaerzählungen findet die Kirchen in einem Zustand vor, den man ohne Übertreibung als einen Zustand der Glaubenskrise bezeichnen kann. Insbesondere die evangelischen Kirchen haben sich im Sog eines allgemeinen Säkularisierungsprozesses Tendenzen zur Selbstsäkularisierung ausgeliefert. Es fehlt ihnen häufig an der Konzentration auf das, was allein sie vertreten können: die Orientierung an der Wirklichkeit Gottes und das Vertrauen auf seine Zukunft. Und dies ist wohl auch der tiefste Grund für den Umstand, dass sich das neue Fragen nach einem verlässlichen Halt und Sinn für das eigene Leben oft nicht an die Kirchen richtet. Zu stark ist der Zweifel vieler Menschen daran, dass sie von den Kirchen hilfreiche Antworten zu erwarten haben.

Zugleich spüren aber immer mehr Menschen, dass auf die neuen Herausforderungen, die sich mit der „Wiederkehr des Religiösen“ stellen, nicht allein mit religiösem Analphabetismus zu antworten ist. Mit purem Säkularismus und Materialismus werden sich die zukünftigen geistigen Herausforderungen in Europa nicht bewältigen lassen. Deswegen ist das Verstehen des eigenen Glaubens und die Klarheit über die eigene religiöse Identität unerlässlich; und es ist an uns als Kirche, auf solche Fragen verstehbare, glaubwürdige Antworten zu geben. Ähnlich wie in der Zeit der Reformation des 16. Jahrhunderts geht es nun wieder darum, dass der Glaube verstanden wird und dass Menschen über ihren Glauben Auskunft geben können, denn dies ist eine entscheidende Voraussetzung für die Dialogfähigkeit mit anderen Religionen.

Die Wiederkehr der Religion und die Nötigung zu einer neuen Auskunftsfähigkeit in Glaubensfragen erreicht uns unter den Bedingungen religiöser  Pluralität. Für die Frage nach dem angemessenen Umgang mit dieser Pluralität steht schnell eine Antwort bereit. Sie sagt zum einen, man müsse die religiöse  Überzeugung als Privatsache betrachten; dafür ist schnell Friedrichs des Großen Diktum zur Stelle, jeder solle nach seiner Fasson selig werden. Und sie sagt zum andern, der Konflikt der religiösen Überzeugungen solle durch Toleranz stillgestellt werden. Dafür wird nach wie vor Lessings Nathan der Weise und seine Ringparabel in Anspruch genommen. Dieser Antwort will ich in einem kleinen Exkurs genauer nachgehen.

III.

Denn die Frage muss erlaubt sein, ob Lessing wirklich einen weiterführenden oder gar für die Gegenwart tragfähigen Beitrag zum Toleranzproblem geleistet hat. Ist das Bild der drei Ringe, unter denen der wahre Ring sich nicht mehr finden lässt, wirklich ein Modell von Toleranz? Die drei Söhne, die von ihrem Vater drei gleich aussehende Ringe erhalten, ziehen vor den Richter, um feststellen zu lassen, wer den echten Ring und mit ihm auch die Herrschaft erhalten hat. Da jedoch nach der Auffassung des Richters die Wahrheitsfrage nicht entschieden werden kann, macht er stattdessen die Frage zum Prüfstein, wer von den dreien der beliebteste sei, welchen also zwei der drei Brüder besonders lieben. Dieser Test geht negativ aus, weil ja die erklärte Liebe zu einem Bruder das Eingeständnis impliziert hätte, dass er über den echten Ring verfügt. Das veranlasst den Richter zu der Einschätzung, dass es diesen gar nicht mehr gibt; er ging vielmehr, so vermutet er, verloren. An die drei Brüder appelliert er, trotzdem an die Echtheit ihres Rings zu glauben und dies durch ein Verhalten unter Beweis zu stellen, das durch vorurteilsfreie Liebe und Verträglichkeit geprägt ist.

Mit diesem Ausgang der Ringparabel wird die Frage nach dem Verhältnis von Toleranz und Wahrheit geradezu suspendiert. Das Ertragen einer fremden Wahrheitsüberzeugung wird nicht mehr gefordert; denn nach der Wahrheit der Religion wird nicht mehr gefragt. Die Wahrheitsgewissheit wird aus einer Überzeugung zu einer Hypothese in praktischer Absicht. Religion wird auf Moralität reduziert.

Toleranz dagegen muss jedenfalls in christlicher Perspektive in einer Glaubensgewissheit gründen, um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Reformatorisch geprägter Glaube stützt sich dafür auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Denn diese göttliche Anerkennung beruht gerade nicht auf den von Menschen erbrachten Leistungen, sondern auf einer göttlichen Toleranz, die den gottlosen Menschen als von Gott geliebtes Geschöpf annimmt.

Wenn Toleranz demzufolge nicht in einer religiösen Indifferenz, sondern in einer bestimmten und bestimmbaren Glaubensgewissheit gründet, dann hat das freilich Folgen für die Art und Weise, in welcher diese Toleranz praktiziert wird. Wenn Toleranz auf eine bestimmte und bestimmbare Wahrheitsgewissheit angewiesen ist, dann kann sie sich gerade nicht in einer Suspendierung der Wahrheitsfrage Ausdruck verschaffen, sondern muss sich auch im Streit um die Wahrheit bewähren. Wenn gelebte Toleranz eine im Leben bewährte Folge des Gottesverhältnisses ist, dann kann Religion auch um der Toleranz willen nicht auf Moralität reduziert werden; vielmehr muss gerade im Verhältnis zwischen den Religionen die Gottesfrage in ihrer konstitutiven Bedeutung zur Sprache kommen. Deshalb ist die Frage nach Frieden und Toleranz zwischen den Religionen auch noch nicht mit der Ausrufung eines „Projekts Weltethos“ beantwortet; die Antwort kündigt sich vielmehr erst dann an, wenn die Religionen ihre Differenzen im Glaubensverständnis in einer Weise austragen können, die den Frieden nicht gefährdet, sondern stärkt. Durch die Daten des 11. September 2001 in New York, des 11. März 2004 in Madrid oder des 7. Juli 2005 in London ist eine oberflächliche Vorstellung von Toleranz in eine Krise gekommen. Wechselseitige Achtung aber ist umso nötiger. Der heute nötige Dialog verbindet die Vergewisserung der eigenen Identität mit dem Bemühen um Verständigung mit anderen. Das eine wie das andere ist an der Frage nach der Wahrheit orientiert. Nach der Wahrheit aber kann man nur fragen, wenn man auch zum Streit um die Wahrheit bereit ist.

IV.

Aber nicht nur für die Religionsdialoge ist heute nach der Selbst-Bildung des Glaubens gefragt; sondern insgesamt hängt die Präsenz des Christlichen im öffentlichen Raum, seine Bedeutung für unser kulturelles Selbstverständnis, sein möglicher Beitrag zur Ausbildung einer gegenwartsbezogenen Ich-Identität daran, dass wir uns selbst und die Ströme der eigenen Traditionen kennen.  Solches Nachfragen setzt in aller Regel mit ethischen Überlegungen ein. Wer dem christlichen Glauben heute eine aktuelle Bedeutung zuzuerkennen bereit ist, pflegt in erster Linie an die moralischen Werte zu erinnern, die mit ihm verbunden seien. Von vielen Seiten wird heute anerkannt, dass die ethische Prägung auch noch der modernen Gesellschaft „irgendwie“ durch christliche Werte bestimmt ist. Doch was soll man davon halten, dass dabei weithin wie selbstverständlich mit dem Begriff des Werts gearbeitet wird? Er entspricht einem Zeitgeist, der von der Vorherrschaft der Ökonomie geprägt ist. Die Ökonomie ist zum Kristallisationspunkt öffentlicher Auseinandersetzungen geworden. Im Verhältnis zwischen den Lebensbereichen Wirtschaft, Politik und Kultur kommt der Wirtschaft die Leitfunktion zu. Der christliche Glaube jedoch ist mehr als nur ein Wertereservoir. Und die Kirche ist mehr als eine Bundesagentur für Werte, die angesichts knapper werdender Wertressourcen diese abnehmenden Bestände den noch vorhandenen Interessenten zuteilt.

Die Lebensbedeutung des christlichen Glaubens werden wir nicht durch eine solche Reduzierung auf Wertfragen, sondern erst dann erschließen, wenn  wir uns im Zentrum aller Bemühungen an das erinnern lassen, was die Mitte und den Kern des christlichen Glaubens ausmacht. In dieser Hinsicht kann man allerdings bis weit in unsere Kirche hinein ein eigentümliches Zögern beobachten. Bin ich ungerecht, wenn ich sage: Jedenfalls in Mitteleuropa leben wir heute in einer eher „glaubenschwachen Zeit“? Glauben in Zeiten einer Gottesfinsternis, müsste so unsere Partitur heißen? Unsere Lage ist – aufs Ganze gesehen – eher durch „Glaubensstörungen“ als durch Glaubensgewissheit gekennzeichnet. Kluge Therapeuten weisen übrigens darauf hin, dass auch in psychosomatischen Störungen – von den Ess-Störungen bis zu den Suchterkrankungen – solche „Glaubensstörungen“ zum Ausdruck kommen. Wir haben das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ – als das Friedrich Schleiermacher die Religion bezeichnete – verdrängt und suchen Ersatz bei schlechten Abhängigkeiten. Während in anderen Orten neue Formen von Fundamentalismus sich breit machen, herrscht bei uns ein orientierungsungewisser Skeptizismus vor. Manchmal denke ich, wir erleben – übrigens durchaus in ökumenischer Gemeinsamkeit – als christliche Kirche eine Glaubenskrise, wie viele Menschen sie auch aus ihrer persönlichen Biographie kennen. Aber gerade aus den persönlichen geistlichen Krisen kann man auch lernen, was wir als Kirche tun müssen, um nicht weiter in dieser erschöpften Selbstsäkularisierung stecken zu bleiben. Der Glaube muss sich auf seine innere Mitte konzentrieren, die Kirche muss sich ihres „Markenkerns“ vergewissern.

Oft ist die innere Mitte der reformatorischen Erkenntnis in dem vierfachen Allein gebündelt worden: allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein aus Glauben. Allein Christus bildet das organisierende Erkenntnisprinzip reformatorischer Glaubenserkenntnis. Allein die Schrift verweist auf das kritische Prinzip, das den christlichen Glauben davor bewahren soll, neben der heiligen Schrift andere, gleichrangige Erkenntnisquellen anzuerkennen. Allein die Gnade verweist darauf, worin der Glaube an Gott sein Wesen hat: nämlich darin, dass wir uns ganz und gar Gottes grundloser Barmherzigkeit anvertrauen. Allein aus Glauben verweist auf das Bild vom Menschen, dessen Menschlichkeit nicht daran gemessen wird, in welchem Maß er mit Vernunft begabt ist und wie er seine eigenen Interessen durchsetzt; vielmehr wird seine Menschlichkeit darin begründet und dadurch geschützt, dass Gott ihn als sein Ebenbild anredet und ihm die Fähigkeit verleiht, auf diese Anrede zu antworten. In diesem vierfachen Allein haben wir es bis heute mit einer Mitte, einem Kern, einer Glut zu tun, die vielleicht unter mancher Asche verborgen ist, die aber nach wie vor ein beträchtliches Feuer zu entfachen vermag.

V.

Das vierfache „Allein“ der Reformation enthält beides in sich: Bindung und Freiheit. Weil die Bindung sich auf Jesus Christus als das lebendige Wort Gottes richtet, ergibt sich daraus eine große Freiheit gegenüber allen institutionellen und kollektiven Machtansprüchen, die gegen den Menschen geltend gemacht werden. Darauf beruht die hohe Achtung, die reformatorischer Glaube der Gewissensfreiheit des einzelnen und der Freiheit des Individuums insgesamt entgegenbringt. Darum haben die reformatorischen Kirchen zur modernen, wissenschaftlich geprägten Welt ein grundsätzlich positives Verhältnis entwickelt. Auf diesem Verhältnis von Bindung und Freiheit beruht der besondere Beitrag, den die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen im Ganzen der christlichen Ökumene und auch der Welt der Religionen vertreten und einbringen können.

Denn einmal lassen sie sich gleichsam als derjenige Arm Jesu Christi verstehen, der das Evangelium vom barmherzigen Gott in der modernen, aufgeklärten Welt zu bezeugen versucht. Unsere Kirche hat die spezifische Aufgabe, gleichsam die eigene Berufung, in größter, wenn auch keineswegs unkritischer Nähe zur modernen, säkularen und wissenschaftsoffenen Welt Gott zu bezeugen. Darin liegt eine der Aufgaben, die sie stellvertretend für die ganze christliche Ökumene, stellvertretend für die eine, weltweite Kirche Jesu Christi wahrzunehmen hat. Das Gewicht dieser Aufgabe geht keineswegs zurück; sie nimmt vielmehr zu, wie der Blick auf gegenläufige Entwicklungen  deutlich macht. Solche gegenläufigen Entwicklungen zeigen sich ja nicht nur bei „wiedergeborenen“ Christen in den USA oder pfingstlerischen Kirchen in Lateinamerika. Sie zeigen sich auch in manchen Strömungen in der östlichen Orthodoxie wie im westlichen Katholizismus.

Doch diese Offenheit für Freiheit und Mündigkeit, für Säkularität und Wissenschaft schließt die Einsicht in das gerade heute notwendige Grenzbewusstsein ein. Das eine Licht Jesu Christi soll auch gesehen und bezeugt werden in einer diesseitig gewordenen, wissenschafts-, wirtschafts- und machbarkeitsorientierten Welt, die die Sinnressourcen, die sie braucht, selbst nicht herzustellen vermag. Der Protestantismus ist in meinen Augen der stellvertretende Weg, einen aufgeklärten Glauben bzw. eine gläubige Aufklärung unter den Bedingungen der modernen Welt zu bezeugen.  Doch das schließt die Aufgabe ein, die „Aufklärung der Aufklärung“ zu betreiben und die Grenzen des Machbaren zu erinnern. Wenn wir Menschen Gott nicht mehr als unser Gegenüber haben, wenn wir Gott nicht als Begrenzung unseres Seins als ‚homo faber’, unseres Machermenschentums und unseres Menschenmachertums ansehen können, dann müssen wir alle anderen als Helden überragen, als Tugendhelden, Wirtschaftshelden, Politikhelden, immer aber und auf  jeden Fall als Heldinnen und Helden. Wenn uns das Hören auf Gottes Wort erst einmal abhanden gekommen ist, bleibt uns Menschen nicht viel anderes übrig, als die Befreiung der Welt zu gerechten Strukturen allein von uns selbst zu erwarten und uns eben damit hemmungslos zu überfordern. Der sich allmächtig dünkende Mensch verliert Maß und Mitte. Gottes Geist versöhnt uns mit unseren Grenzen.  Denn „deinen Grenzen schafft er Frieden“, wie es im 147. Psalm heißt. In einer Zeit, in der das Klonen von Menschen wieder so sehr in greifbare Nähe gerückt wird, fehlt es nicht an praktischen Beispielen, an denen die Bedeutung eines solchen Grenzbewusstseins deutlich gemacht werden kann.

Zum anderen aber sind die Einsichten der Reformation auch im Gespräch mit den Weltreligionen unverzichtbar wertvoll; auch in den Dialog der Religionen haben wir – ganz gewiss ohne Überheblichkeit – diesen Ton protestantischen Grenzbewusstseins einzubringen. Denn die Befriedung der Religionen hängt auch daran, dass wir ein aufgeklärtes, selbstkritisches und lernbereites Verständnis von Religion nicht nur bei uns entwickeln, sondern auch von anderen einfordern. Die Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion, von Zeugnis und Gewalt muss zur Grundbedingung für jede Religion werden. So sehr uns manche dieser Religionen auch an Glaubenskraft und Zeugnisbereitschaft überlegen sein mögen, wir müssen die Einsichten, die der christliche Glaube im Laufe seiner durchaus auch beschämenden Geschichte angesammelt hat, weitergeben. Und an dieser Stelle sollten wir auch nicht zu schüchtern oder zu verzagt auftreten, denn es müssen doch hoffentlich nicht alle Religionen alle Fehler und alle Abgründe der Christentumsgeschichte wiederholen, um zu den Grundsätzen einer „aufgeklärten Religion“ zu gelangen.

Sodann gehört es zum unmittelbaren Glutkern der Reformation, dass die Befreiung des Gottesverhältnisses von allen Leistungs- und Verbesserungs- und Optimierungsideen  eine Fähigkeit zur Weltverantwortung freigesetzt hat, die ein ganz eigene Farbe und unverzichtbaren Klang hat. Denn seit ihren Anfängen hat der Glaube in die Welt des Rechts, in die Ausübung der Macht und in die Verfolgung des je eigenen Vorteils das Motiv der Nächstenliebe eingebracht – mit unterschiedlichem Erfolg durchaus, aber immer als kritisches Gegenüber und als Korrektivmöglichkeit gegenüber einem reinen Egoismus und rücksichtsloser Selbstdurchsetzung. Zu den grundlegenden Impulsen gehört die Aufforderung, eine Situation aus der Perspektive des Anderen, des Unterlegenen, des Schwächeren anzusehen. Die Goldene Regel – nach welcher man den anderen so behandeln soll, wie man auch selbst behandelt zu werden erhofft (Matthäus 7, 12) – ist wohl das wirksamste Moralprinzip geworden, das, wenn nicht allein christlichen Ursprungs, doch durch das Christentum vermittelt wurde. Die Kultur des Helfens, die vor allem durch die karitativen Einrichtungen der christlichen Kirchen gefördert worden ist und auch heute durch solche Einrichtungen in großer Breite repräsentiert wird, bildet eine unentbehrliche Stütze für die Humanität in der Gesellschaft. Und wir werden gerade nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres nicht ohne Dankbarkeit darauf hinweisen können, dass sich diese Ethik des Helfens aus Sorge um das Leid des Nächsten, nicht aus Sorge um das eigene Seelenheil, auch darin zeigt, dass die Hilfsbereitschaft sich gleichsam globalisiert und auch die fernen Nächsten mit in die eigene Verantwortung hineinlässt.

Zuletzt aber wollen wir an den Anfang zurückkehren; denn der evangelische Glaube ist wertvoll, nicht weil er aufgeklärt, religionsbefriedend und sozial engagiert ist, sondern er ist wertvoll, gerade weil sein Glutkern, seine Gottesbeziehung, sein Glaube eine „wert-lose Wahrheit“ ist. Die christliche Kirche ist ein „global prayer“, der seine wichtigste Aufgabe darin hat, Gott nicht ohne Lobgesang in seinem Himmel zu lassen. Das Gebet vor Gott und die Bitte um seinen Trost bilden den harten Kern seines einzigartigen Tuns, und gerade dieser Wert des Glaubens lässt sich nicht berechnen oder einplanen, verzwecken oder ausnutzen. Deswegen: wenn es darauf ankommt, erkennt man einen Christen nicht zuerst an seinen guten kulturellen Werten – die können bekanntlich auch korrumpiert werden; man erkennt ihn auch nicht an seinen guten Werken – die können ebenfalls auf der Strecke bleiben; sondern man erkennt einen Christenmenschen an seiner Sehnsucht nach Gott, an seinem Gebet für sich und für die anderen, und an seiner Hoffnung darauf, dass Gott die Welt trösten und stärken kann mit einem Frieden, den sie sich selbst niemals geben kann. Aus dieser Hoffnung heraus wendet sich der evangelische Glaube der modernen Welt zu und bleibt gewiss, dass er sich in dieser Welt gar nicht so verlaufen kann, dass Gott ihn nicht wieder finden könnte.