Christliche Moral und ökonomische Vernunft - ein Widerspruch?

Wolfgang Huber

Wirtschaftspolitisches Frühstückin der Industrie- und Handelskammer Berlin

I.
Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben in manchen Hinsichten Lehren enthalten. Eine Lehre will ich an den Beginn meiner Überlegungen stellen. Das Seebeben im Indischen Ozean hat uns vor Jahresfrist gelehrt, dass wirtschaftliche Beziehungen auch moralische Verpflichtungen entstehen lassen. Die Tatsache, dass wir in einer globalisierten Welt leben, ist uns nicht nur in ihrer ökonomischen Bedeutung vor Augen getreten. Wir haben gemeinsam Anteil an der Verletzlichkeit des menschlichen Lebens. Gemeinsam müssen wir Rücksicht darauf nehmen, dass die Natur uns nicht zur beliebigen Verfügung steht. Besser Vorsorge zu treffen für Naturkatastrophen, die in der jüngsten Vergangenheit immer dichter aufeinander folgten, ist eine gemeinsame Aufgabe. Wenn die Menschen in einer Region der Erde unter Naturkatastrophen leiden, dann spüren wir das an allen Orten. Wir merken auch, wie problematisch es ist, wenn wir menschliches Leid mit zweierlei Maß messen – je nachdem, wie unmittelbar wir selbst oder unsere wirtschaftlichen Interessen betroffen sind. Nach einer Reise in den Sudan vor zwei Monaten bedrückt es mich noch mehr als vorher, wie wenig wir uns beispielsweise anrühren lassen von der millionenfachen Flucht und den hunderttausenden von Toten, die im Sudan zu beklagen sind; immer wieder habe ich gedacht, dass wir diesem massenhaften Leiden vergleichbare Aufmerksamkeit zuwenden müssten wie den Opfern der Flutkatastrophe im Indischen Ozean.

Immer deutlicher tritt uns vor Augen: Wer global handeln will, muss auch global fühlen. Wir brauchen in unserer Welt nicht nur eine Globalisierung wirtschaftlichen Denkens, sondern auch eine Globalisierung der Solidarität, nicht nur eine Globalisierung der Märkte, sondern auch eine Globalisierung des Herzens.

Heute morgen fragen wir danach, wie sich beides zueinander verhält: eine Moral, die sich dem christlichen Glauben verbunden weiß, und eine ökonomische Vernunft, die sich auf Effizienz, Rationalität und Rentabilität richtet? In diesem Kreis unterstelle ich einen Konsens darüber, dass beides miteinander zu tun hat. Ökonomisches Handeln ohne Ethik ist genauso verkehrt wie christliche Moral ohne ökonomischen Sachverstand.

Christliche Ethik hat sich immer wieder als ein entscheidender Motor wirtschaftlichen Engagements erwiesen. Im Jubiläumsjahr von Max Webers Untersuchungen über die „protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus“ braucht das kaum eigens hervorgehoben zu werden. Christliche Ethik in ihrer evangelischen Gestalt hat ebenso wie die katholische Soziallehre einen maßgeblichen Einfluss auf Konzeption und Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft ausgeübt. Am Beispiel des „Freiburger Kreises“ im deutschen Widerstand oder an der Gestalt von Alfred Müller-Armack, der den Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ prägte, ist das immer wieder deutlich gemacht worden. „Verantwortete Freiheit“ – so lässt sich der Impuls bezeichnen, den die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens in die ethische Begründung wirtschaftlichen Handelns eingebracht hat.

Neue Untersuchungen bestätigen, dass dieser Impuls von durchaus aktueller Bedeutung ist. Sie zeigen nämlich – die Online-Befragung „Perspektive Deutschland“ ist ein deutliches Beispiel dafür – , dass die Lebenshaltung von Christen sich von anderen Lebenseinstellungen durch Verantwortungsbereitschaft und Zuversicht auszeichnet. Menschen, die von Gott auch im Angesicht von Schwierigkeiten Gutes erwarten, stellen sich zuversichtlicher auf die Zukunft ein als diejenigen, für die der Mensch das Maß aller Dinge ist. Menschen, die sich an die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst gebunden wissen, beziehen in ihre Überlegungen auch das Wohl des Nächsten und nicht nur das eigene Wohl ein. Menschen, denen bewusst ist, dass sie für ihr Leben im Letzten Gott Rechenschaft schulden, werden Anstand und Fairness auch dann gelten lassen, wenn die Verletzung dieser Regeln ihnen einen Vorteil bringen würde. Menschen, die aus der Zusage von Vergebung und Rechtfertigung leben, werden in jedem Menschen mehr sehen, als er selbst aus sich macht, und auch den Menschen in seiner Würde achten, der vor den Anforderungen der Leistungsgesellschaft versagt.

Natürlich gibt es Themen der christlichen Ethik, die nichts oder nur wenig mit ökonomischen Fragen zu tun haben. Aber es gibt kein wirtschaftliches Handeln, das nicht direkt oder indirekt ethische Implikationen hat und auf ethischen Grundsatzentscheidungen beruht oder solche Entscheidungen verletzt. Es wird von einer bestimmten Motivation getragen und verfolgt Ziele, die sich niemals nur innerhalb der Grenzen von Angebot und Nachfrage beschreiben lassen, sondern die stets die Grundfragen menschlichen Seins und menschlichen Handelns berühren. Der Verfasser des neusten Buchs zu unserem Thema – der Theologe und Manager Ulrich Hemel – hat es kurz auf den Begriff gebracht. Er sieht eine entscheidende Grundlage unternehmerischen Handelns „in der Unverzichtbarkeit persönlicher Verantwortung, im langfristigen Mehrwert ethischer Orientierung auch für wirtschaftlichen Erfolg und in der Forderung nach Professionalität, etwa im Bereich der Strategie und der Wertschöpfung“.

In unserer öffentlichen Diskussion spielen diese Grundfragen allerdings eine marginale Rolle. Weittragende wirtschaftliche Entscheidungen – Entscheidungen zum Abbau von Arbeitsplätzen sind nur ein Beispiel dafür – werden angekündigt, ohne dass der ethische Horizont solcher Entscheidungen ausgeleuchtet wird. Auch die politische Debatte folgt diesem Muster. Über steuerpolitische Details wird intensiver gesprochen als über die Frage nach dem Bild der Gesellschaft, an dem wir uns orientieren wollen. Doch auf diese Frage kommt es ebenso sehr an wie auf eine erneute Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die unterschiedlichen Politikansätze sind von eben so hohem Interesse wie die Frage danach, worin Unternehmer heute ihre Verantwortung sehen, nicht nur für das eigene Unternehmen, sondern auch für die eigene Belegschaft, nicht nur für das eigene Interesse, sondern auch für das eigene Land. Deshalb sind auch die Unterschiede in weltanschaulichen und ethischen Fragen von hohem Gewicht; sie sollten deutlich ins Gespräch mit einbezogen werden.

Ökonomische Vernunft – dessen bin ich gewiss – ist unter Ihnen ein selbstverständliches Thema. Doch Ihre Bereitschaft, sich für dieses Frühstücksgespräch Zeit zu nehmen, ist darüber hinaus auch ein sicheres Zeichen dafür, dass Sie den ethischen Dimensionen unternehmerischen Handelns einen wichtigen Platz einräumen.

II.
Lassen Sie mich von den gerade skizzierten Grundlagen aus fünf Aspekte entfalten, die für mich im Blick auf das Verhältnis von ökonomischer Vernunft und christlicher Moral von hervorgehobener Bedeutung sind.


1. Wir leben in einer Welt, in der die Ressourcen begrenzter sind, als wir vor Generationen gedacht haben. Wir sind alle darauf angewiesen, dass mit ihnen sinnvoll, und das heißt schonend, umgegangen wird. Nur dann haben wir eine gemeinsame Zukunft auf diesem Planeten. Allein schon von dieser Einsicht her sind Rationalität und Effizienz im Umgang mit den Ressourcen geboten – aus Nächstenliebe, aus Liebe für die nächste Generation und auch aus ökonomischer Einsicht. So kann eigentlich kein Gegensatz zwischen christlichem Menschenbild und ökonomischer Vernunft aufkommen. Da es in beiden Bezugssystemen letztlich um das Wohl des Menschen geht, müsste von vornherein klar sein, dass eine Orientierung aus dem christlichen Glauben und eine Orientierung an wirtschaftlicher Effizienz in dieselbe Richtung laufen.

Nachhaltigkeit wird zu einem wichtigen Kriterium wirtschaftlichen Handelns. Der Lebensstandard der westlichen Industrienationen ist indessen in keiner Weise nachhaltig. Es erscheint heute als unmöglich, auf dem ganzen Globus zu einer Angleichung des Lebensstandards auf dem Niveau westlicher Industriestaaten zu kommen. Zugleich erzwingt die Globalisierung nach der Auffassung vieler bestimmte Angleichungen. Sie werden dann nur auf einem niedrigeren Niveau möglich sein. Die politische Brisanz dieser Überlegung ist offensichtlich. Politik muss in unserem Land gegenwärtig neues Vertrauen erwerben, ohne dass sie für die Zukunft immerwährende Zuwächse für alle versprechen kann.

2. Die menschliche Arbeit hat eine ganz klare Bestimmung: sie dient vor allem dazu, Lebensmittel in einem umfassenden Sinn des Wortes für sich selbst und für den Nächsten, ja für die ganze Gesellschaft bereitzustellen. Die Mitarbeit an der Schaffung von Wohlstand und gesellschaftlichem Reichtum ist in diesem Sinne jedem Christen aufgetragen. Die biblische Tradition ist sich völlig klar, dass in dieser Hinsicht jeder Mensch die Chance haben soll, die ihm von Gott gegebenen Gaben und Talente zu entwickeln, um seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung zu leisten. Deutlich ist allerdings auch, dass dies nicht zu einer Überforderung der Menschen und zu einer einseitigen Bevorzugung einer besonderen Leistungsgruppe führen darf.

Die Arbeit erfährt in der christlichen Tradition eine hohe Wertschätzung. Es ist schon bezeichnend, dass Martin Luther und Johannes Paul II. mit dem selben Vergleich den hohen Rang der Arbeit betont haben: „Die Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen“. Um dieses hohen Rangs willen ist sie so zu organisieren, dass alle an ihr Anteil haben, auch die Leistungsschwächeren. Zudem sind der Arbeit durch den Sonntag und durch andere Regelungen Grenzen gesetzt, die zum Wohle des Menschen einzuhalten sind. Wirtschaft soll durch alle betrieben werden. Die Ungleichheit, die mit der Gestaltung der Wirtschaft einhergeht und die den Leistungsfähigeren und den Leistungsbereiteren mehr zukommen lässt als den Leistungsschwächeren und den Leistungsunbereiteren, darf nur so groß sein, dass durch die dadurch gesteigerte Produktivität auch den Schwächeren ein würdiges Leben ermöglicht und ein voller Anteil an der Gesellschaft eröffnet wird. Gerechtigkeit ist auf diesem Hintergrund insbesondere als Befähigungs- und Beteiligungsgerechtigkeit zu verstehen. Eine Gesellschaft, in der so viele Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wie das bei uns gegenwärtig der Fall ist, hat deshalb ein elementares Gerechtigkeitsproblem.

Unsere Gesellschaft hat mit guten Gründen die Entscheidung getroffen, die Bearbeitung dieses und anderer Gerechtigkeitsprobleme und damit vor allem den aus christlicher Sicht unverzichtbaren sozialen Ausgleich in die Hände des Staates zu legen. Das Gegenmodell eines reinen Vertrauens auf die Hilfs- und Spendenbereitschaft Einzelner verkennt die strukturellen Dimensionen der Aufgabe, um die es geht.

3. Der Welt der Bibel und insbesondere den Traditionen der protestantischen Ethik ist jede Form von Verschwendung und Luxussucht fremd. Sparsamkeit und das kalkulierte zielorientierte Einsetzen von Ressourcen gehören zur Verantwortung des Christen. Man könnte geradezu sagen, dass der - in diesem Sinne - wirtschaftliche Umgang mit Ressourcen aller Art ein Akt der Nächstenliebe ist; denn er ermöglicht es, dass auch andere an diesen Ressourcen Anteil haben können. Immer wieder warnen die biblischen Texte vor der Anhäufung von Reichtum als Selbstzweck.
Nicht, wie man heute oft hören kann, die Gewinnorientierung als solche, sondern der Umgang mit dem Gewinn ist das im Neuen Testament hervorgehobene Grundproblem. Besonders im Lukasevangelium findet man dafür viele Belege. Das Problem kommt besonders zugespitzt in dem Wort Jesu zur Sprache, man könne nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon. Die Verantwortung für den Umgang mit Gewinn und Besitz wird an dem Beispiel eines selbstgefälligen reichen Kornbauern geschildert, der über seinem Besitz vergisst, dass sein Leben an jedem Tag von ihm genommen werden kann. An den Beispielen des reichen Mannes, der beim armen Lazarus um Hilfe fleht, oder des wohlhabenden jungen Mannes, den Jesus zur Nachfolge einlädt, wird immer wieder davor gewarnt, sein Herz an weltliche Güter und in diesem Sinne an Reichtum zu hängen. Denn dies kann nicht zu Gelassenheit und Sicherheit im Leben führen, sie stiftet vielmehr nur der Glaube an Gott.

Die biblischen Aussagen sind durch die Vorstellung geprägt, dass mit Geld, Reichtum und irdischem Besitz instrumentell so umgegangen wird, dass damit etwas für den Nächsten und den gemeinsamen Nutzen erreicht wird. Reichtum soll genutzt werden - zum Wohle aller. Dass Eigentum sozial verpflichtet, steht nicht nur im Grundgesetz, sondern ist eine der Grundüberzeugungen der gesamten christlichen Tradition.

Solche Überlegungen haben individuell-persönliche und öffentlich-institutionelle Konsequenzen. Den individuell-persönlichen Aspekt stelle ich voran: Geld alleine macht nicht glücklich; vielmehr vermag es auch zur Last zu werden. In der seelsorgerlichen Zuwendung zu Unternehmerinnen und Unternehmern steht daher für uns als Kirche die persönliche Begleitung im Vordergrund und damit der Rat, das eigene Herz nicht an den Mammon zu hängen.

Natürlich hat dieser Gedanke auch öffentlich-institutionelle Aspekte und Konsequenzen. Um des Zusammenhalts unserer Gesellschaft willen ist es unverzichtbar, dass auch und gerade wirtschaftlich erfolgreiche Menschen Maß halten und ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung nicht vergessen.

4. Wirtschaftliches Handeln im Sinne von Effizienz und instrumenteller Rationalität ist vom christlichen Glauben her nicht nur gerechtfertigt, sondern verpflichtend. Zugleich ist deutlich, dass solch ein Handeln nicht im Gegensatz zur Menschlichkeit steht, sondern sie sowohl voraussetzt als auch zum Ziel hat. Damit ist aber auch schon gesagt, dass wirtschaftliches Handeln von gesellschaftlich anerkannten und kulturell wertvollen Zwecken her gesteuert werden muss. Der Wirtschaft kommt so wenig wie dem Geld ein Eigenwert zu. Tendenzen dazu, dass sich, wie das heute zu beobachten ist, das ökonomische Denken auf alle Bereiche unseres Lebens, und insbesondere auf die Bereiche der Kultur und der Werte ausbreitet, ist aus der Perspektive des christlichen Menschenbildes deutlich zu widersprechen.

Die sogenannte "Heuschrecken"-Debatte aus dem Frühsommer des letzten Jahres hatte einen unglücklichen und sehr unpassenden Namen, aber einen ernsten Kern. Dort, wo Finanzkapital gänzlich anonymisiert um den Globus kreist und ohne Rücksicht auf die betroffenen Menschen, ja: ohne Rücksicht auf ganze Völker nur den kurzfristigen Gewinn sucht, muss es mit dem Widerstand der Betroffenen und auch mit kritischen Fragen aus dem Bereich der Kirche rechnen. Es geht um die Frage, wer eigentlich von der Globalisierung der Finanzwelt profitiert und ab welchem Punkt wir die Konzentration des Reichtums und damit der Gestaltungsmöglichkeiten in der Hand weniger als ethisch problematisch oder gar als gefährlich für den sozialen Frieden ansehen müssen.

5. Menschen müssen mit den Gütern dieser Welt wirtschaftlich umgehen; sie selbst unterliegen aber nicht den ökonomischen Rationalitätskalkülen. Menschen, von Gott geschaffen und ihm zum Ebenbild bestimmt, erschöpfen sich nicht darin, einen Wert für andere zu haben, der gegen Geld aufgewogen werden kann; sondern sie haben eine eigene Würde, die nach einem wichtigen Wort Immanuel Kants „kein Äquivalent verstattet“. Deshalb muss die Wirtschaft im Dienst des Menschen stehen und nicht umgekehrt – oder in Abwandlung eines Wortes Jesu über den Sabbat: Die Wirtschaft ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen.

Von diesem Gedanken her muss die Kirche allen Tendenzen widersprechen, kulturelle Güter ökonomischen Kalkülen zu opfern – auch dann beispielsweise, wenn Feiertage abgeschafft werden sollen, um dadurch eine geringfügige Steigerung des Bruttosozialprodukts zu erreichen. So weit dafür eine Verlängerung der Arbeitszeit nötig ist – aller Wahrscheinlichkeit nach übrigens nur jeweils branchenspezifisch und nicht einfach generell – , sind dafür sinnvollere und intelligentere Wege zu suchen als die generelle Abschaffung von Feiertagen. Auch die Auseinandersetzung um den Sonntag ist von daher zu verstehen: Der Sonntag symbolisiert aus biblischer Sicht die Grenze des Ökonomischen - “Ohne Sonntag sind alle Tage Werktage“ - und muss deswegen um der Menschlichkeit des Menschen willen erhalten bleiben.

III.
Drei Folgerungen will ich aus diesen Überlegungen ziehen: Wir müssen uns der christlichen Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens neu bewusst werden. Wir müssen die Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln in der Wirtschaft stärken. Wir müssen uns den großen ethischen Herausforderungen der weltwirtschaftlichen Situation stellen. Alle drei Aufgaben will ich abschließend kurz erläutern.

1. Zunächst ist dankbar festzustellen: Viele der aufgezeigten Grundsätze finden in unserer Gesellschaft Resonanz. Ja, in manchen Bereichen beobachten wir eine verstärkte Zuwendung zu den christlichen Wurzeln unserer gesellschaftlichen Ordnung. Doch weithin scheinen diese Grundlagen in Vergessenheit geraten zu sein. Eingebunden in einen Bogen zwischen Individualisierung und Globalisierung reduzieren Menschen ihre Wahrnehmung auf das jeweils eigene Interesse. Den vielfältigen Einflüssen der Informations- und Mediengesellschaft ausgesetzt, drohen wir alle zu elektronischen Nomaden zu werden. In einer groben Fehleinschätzung halten manche Menschen die christliche Grundlegung unseres gemeinsamen Lebens einfach für gegeben, so dass sie den eigenen Kindern gar nicht mehr weitergegeben wird.

Über Jahrzehnte war es in unserer Gesellschaft eine Art „säkularer Glaubenssatz“, dass Glaube und Religion ihre Zeit gehabt hätten. Die Abgesänge auf das Christentum und auf die Religionen insgesamt waren nicht zu überhören. Aber inzwischen weisen wichtige Signale in eine andere Richtung. Die große Aufmerksamkeit für die Papstereignisse und andere Vorgänge im Bereich der Kirchen – ich nenne die Einweihung der Frauenkirche als Beispiel – haben das während des vergangenen Jahres deutlich gezeigt. Es gibt heute kaum einen kulturellen oder gesellschaftlichen Bereich, in dem man nicht Zeichen für eine Wiederkehr des Religiösen beobachten könnte. Das muss auch Folgen für die Wahrnehmung wirtschaftlicher Verantwortung haben.

Es entsteht ein neues Gespür dafür, dass ein komplett diesseitiges, rein wirtschaftstaumeliges und radikal konsumzentriertes Leben zu banal, zu äußerlich und zu oberflächlich ist. Je unerbittlicher die europäische Welt auf die globalisierte Wirtschaft ausgerichtet wird, je strikter Markt und Finanzkraft, Lohnnebenkosten und Konkurrenzkampf das Leben aller bestimmen sollen, desto stärker wird nach Gegenkräften gefragt. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht. Mit der Zuwendung zur Religion rebelliert die Seele der Menschen gegen ihre kommerzielle Reduktion.

Ich halte es für einen Mangel an Sensibilität für diese Situation, wenn ausgerechnet jetzt in Berlin die Bedingungen für den Religionsunterricht an den Schulen, insbesondere in der Sekundarstufe I, zusätzlich erschwert werden sollen. Mein Widerspruch richtet sich nicht dagegen, dass alle Schülerinnen und Schüler an einem wertorientierten Unterricht teilnehmen sollen; ich widerspreche auch nicht dem Vorhaben, zu diesem Zweck neben den Religionsunterricht, den die Kirchen verantworten, einen vom Staat verantworteten Religionsunterricht zu stellen. Aber ich halte es für völlig falsch, diesem Ethikunterricht dadurch eine faktische Monopolstellung zu geben, dass man nicht zwischen ihm und dem Religionsunterricht wählen kann. Auch hier sollte man sich an die Aussage von Ernst-Wolfgang Böckenförde erinnern: „Der freiheitliche säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Er sollte auch nicht den Anspruch erheben, über sie zu verfügen.

2. Wir müssen die Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln in den Unternehmen stärken. Es gibt nach meiner festen Überzeugung kein Unternehmen, das nur auf der Grundlage des Eigeninteresses der Beteiligten überleben könnte. Unternehmen, die nur auf kurzfristige Gewinnerzielung setzen, sind ganz schnell auf der Verliererseite. Demm ihnen geht leicht eine wichtige Ressource verloren, die Ressource des Vertrauens. Sie steigern ihre Kapitalrendite, verspielen aber unter Umständen einen wichtigen Teil ihres Vermögens, nämlich das Humanvermögen. Franz Xaver Kaufmann hat übrigens im Zusammenhang solcher Debatten deutlich gemacht dass es – wenn schon – viel richtiger wäre, von Humanvermögen statt von Humankapital zu sprechen. 

Die evangelische Kirche zeichnet seit Jahren Unternehmen mit einer vorbildlichen Unternehmenskultur sowie einer Personalpolitik, die an der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, an der Bereitschaft zur Förderung der jungen wie der Achtung der älteren Arbeitnehmer orientiert ist, mit dem Arbeitsplatzsiegel "ARBEIT PLUS" aus.

3. Wir stehen heute vor gewaltigen neuen Herausforderungen, die Anlass dazu sind, Wertorientierung und wirtschaftliches Denken wieder so miteinander zu verbinden, wie dies die Gründergestalten der Sozialen Marktwirtschaft getan haben. Zu diesen Herausforderungen gehört vor allen Dingen die Entwicklung der Weltwirtschaft. Wird sich in ihr das europäische und insbesondere deutsche Modell einer sozial verantworteten Wirtschaft als überholt erweisen? Oder enthält die Globalisierung auch eine Chance dazu, Maßstäbe der sozialen Verantwortung auch international stärker zur Geltung zu bringen, als dies bisher möglich war? Unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen gibt es eine starke Tendenz dazu, sich der persönlichen Zurechenbarkeit von Verantwortung zu entziehen. Das bestimmt heute in hohem Maß das öffentlich erzeugte Bild der Wirtschaft. Das ist – gerade in Bezug auf den Mittelstand, auf eigentümergeführte Unternehmen wie auch auf das Handeln vieler Menschen in großen Kapitalgesellschaften – ungerecht. Aber es ist nicht grundlos.

Die Frage kann nicht umgangen werden, ob sich wirtschaftliches Handeln immer mehr und immer deutlicher als abhängig von den großen, die Welt umkreisenden Finanzkapitalfonds erweisen wird. Dabei ist es bei aller Globalisierung offenkundig nötig,  dass die Wirtschaft einen realen Bezug zu den Menschen, zu dem Land, zu den Räumen und Zeiten behält, in denen sie sich vollzieht. Deutlich stehen wir heute vor der Frage, ob die Maßstäbe des Generationenvertrags und der Nachhaltigkeit nur Forderungen an die Politik darstellen oder ob diese Maßstäbe auch im wirtschaftlichen Handeln zum Zuge kommen können.

Christlicher Glaube oder ökonomische Vernunft? Es hängt auch an uns, Antworten auf diese Frage zu finden, Antworten, die das „oder“ in ein „und“ verwandeln – mit klarem Kopf, aber mit heißem Herzen, also, wie Max Weber gesagt hätte, mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.