"Kristall von Perspektiven" - Grußwort zur Eröffnung des Internationalen Schleiermacher-Kongresses in der Humboldt-Universität zu Berlin

Wolfgang Huber

Nach Schleiermacher ist derjenige, welcher „mehr das Wissen um das Christentum in sich ausgebildet hat, ein Theologe im engeren Sinn“. Hingegen ist derjenige, „welcher mehr die Tätigkeit für das Kirchenregiment in sich ausbildet, ein Kleriker.“ (Kurze Darstellung § 10). Dieser, wie er sagt, „natürlichen Sonderung“ stellt Schleiermacher die „Idee eines Kirchenfürsten“ gegenüber, der beides, den Theologen und den Kleriker, im „möglichsten Gleichgewicht“ in sich vereint.

Das ist ein Idealbild. In der Wirklichkeit steht diesem Bild ein Raub entgegen. Die Kirchenleitung raubt die Zeit für das Studium der reizvollen Details der wissenschaftlichen Theologie. Und die Eigendynamik des theologischen Betriebs raubt die Zeit dafür, die theologischen Herausforderungen wahrzunehmen, die sich aus der Tätigkeit des Kirchenregiments ergeben. Insofern kommt es einer List der Vernunft gleich, wenn der Internationale Schleiermacher-Kongress eine Gelegenheit dazu bietet, diesen Raub für eine kleine Weile zu unterlaufen. Wenn Schleiermacher an der von mir herangezogenen Stelle ausdrücklich bemerkt, dass die Kirche ohne eine lebendige Wechselwirkung zwischen Theologie im engeren Sinn und Kirchenleitung „nicht bestehen“ kann, so ist es gewiss in seinem Sinn, wenn man auch das Umgekehrte behauptet: Auch die Theologie verkümmert, wenn es ihr an dieser Wechselwirkung gebricht. Deshalb hat Schleiermacher im weiteren Fortgang seiner „Kurzen Darstellung des Theologischen Studiums“, dieser bis auf den heutigen Tag in ihrer Meisterschaft unüberbotenen Schrift, das Wort „Theologie“ nur noch in einem weiteren Sinn verwendet – in einem Sinn nämlich, der die Theologie als Wissenschaft und die Theologie als Kirchenleitung gemeinsam umfasst.

Die überragende Stellung Schleiermachers für die Geschichte des Protestantismus muss ich hier nicht eigens herausstellen. Sie ist anerkannt. Nur zu zwei Herausforderungen möchte ich in diesem Grußwort deshalb kurz Stellung nehmen. Sie betreffen die Rolle der Theologie im System der Wissenschaften, eine Frage, die die theologischen Fakultäten an der Universität zwischen Exzellenz und Modularisierung heftig betrifft. Und sie betreffen die Frage nach der Zukunft der Kirche, die Schleiermacher auf die unnachahmliche Formel über die Aufgaben einer „zusammenstimmenden Leitung der Kirche“  gebracht hat.

Auf neue und für manche überraschende Weise ist die Theologie durch die Religionsthematik herausgefordert. Manche sind davon überrascht, dass die Menschen wieder „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ entwickeln. Wer an Schleiermacher geschult ist, wird darauf mit etwas weniger Befremden reagieren, als hier oder da zu beobachten ist.

Wenn wir dabei wahrnehmen, dass manche Universitäten sich in ihrer Fächeraufstellung und Forschungspraxis auf die Religionsthematik so einstellen, dass sie neben oder mit der Theologie auf Zentren der vergleichenden Religionsforschung zustreben, dann stellt sich die Frage, welcher Ort und welche Rolle der Theologie in diesem Rahmen zukommen. Wie und mit welchen Bestimmungen wird Religion zum Thema der Theologie? Begreift man Theologie als Reflexionsform der Religion des Christentums, die sich der Aufgabe verschrieben hat, den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu deuten und zu interpretieren, dann läuft dies unausweichlich auf die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Wahrheit hinaus.

Solche Fragen sind der Theologie im System der Wissenschaften und am öffentlichen Ort der Universität aufgegeben. Das Pensum der Arbeit, das damit heute verbunden ist und das diesen Kongress in den nächsten Tagen sicherlich beschäftigen wird, kann sich bei allen notwendigen Neuakzentuierungen ohne Zweifel auf das nahezu zwei Jahrhunderte alte Programm von Schleiermacher berufen.

In Schleiermachers Werk wird der frühromantische Weichzeichner, der nach den Reden „Über die Religion“ von 1799 vielleicht zu befürchten war, durch ein Kristall von Perspektiven ersetzt, wie es sich besonders in der „Kurzen Darstellung“ von 1810 studieren lässt. Das in der „Kurzen Darstellung‘ entfaltete Wissenschaftsprogramm gehört nach meinem Urteil zu den kostbarsten Elementen, die wir dem Bemühen um eine gebildete Religion verdanken – im Erbe protestantischer Aufklärung wie eines aufgeklärten Protestantismus. Wo dieses Programm aufgenommen wird, muss uns um die Zukunft der Theologie im System der Wissenschaften und am Ort der Universität nicht bange sein.

Dem ist aus der komplementären Perspektive nur eines hinzuzufügen: Die Zeiten, in denen Schleiermachers Engagement in Angelegenheiten seiner Kirche sanft bespöttelt wurde, liegen schon länger hinter uns. Ebenso wie er ein begnadeter Universitätsreformer war, hat sein Werk bahnbrechende Bedeutung für die Aufgaben der Kirchenreform. Er war, um es bei dem einen Hinweis zu belassen, nicht nur der erste, der das Wort „Volkskirche“ verwandte. Er war es vielmehr, der diesem Wort – im Unterschied zu manchen Späteren – einen bis heute tragfähigen Sinn verlieh: eine Kirche nämlich durch das Volk und für das Volk. Insgesamt besticht die souveräne Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven, die Schleiermacher für die Aufgabe, den Ort und die Gestalt der Kirche im Prozess gesellschaftlichen und kulturellen Wandels vornimmt.

Realistisch und unverbraucht wirkt der Blick, mit dem er sich der Frage nach der Organisation der Kirche annimmt. Maßgeblich wird dieser Blick aber dadurch, dass er die Organisationsthematik auf das zu beziehen weiß, was gewöhnlich als polarer Gegensatz zur Organisation behandelt wird. Schleiermacher nennt es die „freie geistige Macht“, heute nennen wir es Charisma oder die schöpferische Kraft des gelebten Glaubens. Dass der Zustand eines kirchlichen Ganzen umso befriedigender ausfällt, je lebendiger Organisation und Kreativität des Glaubens ineinander greifen, durchaus „mit dem Bewusstseins ihres Gegensatzes“ (Kurze Darstellung § 314), wird man auch heute als leitenden Grundsatz anerkennen können. Ja, man möchte sich wünschen, dass manches Problem, das die Kirche auf der Suche nach Prägnanz und Profil in Zeiten knapper Mittel umtreibt, im Geiste dieses Grundsatzes beherzt aufgenommen und bearbeitet wird.

Schließlich erfahren wir von Schleiermacher wohlbedachten Rat für die aktuelle Frage nach dem Zusammenhang von Religion, Bildung und Glaubenswissen, also für Religionsunterricht und Schule. Gewiss ist gerade in diesem Feld die Situation in Zeiten der geistlichen Schulaufsicht mit der heutigen Lage nicht zu vergleichen. Doch hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang zwei Gesichtspunkte, die man der beachtenswerten Berliner Dissertation von Christiane Ehrhardt zu diesem Thema entnehmen kann. Zum einen konzipiert Schleiermacher den Religionsunterricht in der Schule vorrangig unter pädagogischem, nicht unter kirchlichem Gesichtspunkt. Zum andern aber wagt er die klare Diagnose: „Wo die Tendenz ist die Schule aus der Verbindung mit der Kirche herauszureißen, ist auch das Bestreben die kirchlichen Gegenstände aus der Schule zu verdrängen.“ Den Realitätsgehalt dieser Aussage kann man gegenwärtig in Berlin studieren.

Unzweideutig macht Schleiermacher im Übrigen klar, dass religiöse Bildung nicht auf Indoktrination zielt, sondern zum „freien Gebrauch des göttlichen Wortes“,  anders gesagt zum mündigen Umgang mit der eigenen Religionsfreiheit befähigen will. Thema eines solchen Unterrichts ist das Christentum, „inwiefern es lehrbar ist.“ Gerade darin ist aber das Christentum auch ohne Zweifel ein Teil der allgemeinen Bildung. Eine Institution der allgemeinen Bildung wird nur zum eigenen Schaden auf einen solchen Unterricht verzichten.

Das mag genügen, um deutlich zu machen, welches Anregungspotential Schleiermachers Theologie gerade dann enthält, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Balance von theologischer Wissenschaft und kirchenleitender Verantwortung betrachtet. Diese Balance aber war für Schleiermacher von so prägender Bedeutung, dass ich mir keinen Kongress über seine Theologie vorstellen kann, der von diesem Wechselverhältnis absieht. So wünsche ich Ihnen, dass Sie bei der Trias ihres Kongressthemas „Christentum – Staat – Kultur“ das unumgängliche Vierte, nämlich die Wirklichkeit der Kirche, stets mitbedenken. Wenn sich darüber die außerordentliche Anregungskraft eines Berliner protestantischen Denkers für die Herausforderungen unserer Gegenwart weiter herumspricht, wird dies ein unschätzbarer Gewinn sein.

Von Herzen wünsche ich Ihnen deshalb für Ihren Kongress gutes Gelingen.