Eröffnungsstatement des Vorsitzenden des Rates der EKD bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der Woche für das Leben 2006, Berlin

Wolfgang Huber

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Kardinal Lehmann hat soeben die grundsätzlichen Überlegungen skizziert, die uns veranlasst haben, die diesjährige Woche für das Leben unter die Überschrift „Von Anfang an uns anvertraut. Menschsein beginnt vor der Geburt.“ zu stellen. Während wir uns im vergangenen Jahr in der Woche für das Leben auf den Schutz des Lebens der bereits geborenen Kinder konzentriert haben und im nächsten Jahr die Frage nach dem Ja zu Kindern, der Entscheidung für sie noch vor Beginn der Schwangerschaft in den Blick nehmen werden, geht es dieses Jahr um den Schutz des ungeborenen Lebens.

Ich habe schon gestern Abend in meiner Grundsatzrede zu Fragen der Familienpolitik diesen Bereich ausdrücklich angesprochen. Das will ich heute nicht wiederholen. Aber festzuhalten ist: Die Daten für Deutschland sind alarmierend, ja erschütternd. Selbst nach der offiziellen Statistik kommt auf jedes fünfte lebend geborene Kind ein Schwangerschaftsabbruch. In diesem Jahr fängt man an, auf diesen Sachverhalt verstärkt zu achten. Der historisch niedrige Stand der Geburten in Deutschland –  nur 676 000 Kinder wurden im Jahr 2005 geboren – lässt uns darauf achten, dass es über 800 000 gewesen wären, wenn die statistisch erfassten Schwangerschaftsabbrüche sich hätten vermeiden lassen.

So bewegend schon diese Zahlen sind, so wichtig ist es zugleich, dass es unabhängig von aller Statistik in jedem Einzelfall, bei jeder einzelnen Schwangerschaft um das Leben eines einmaligen Kindes geht. Alle, die das Glück hatten, Vater oder Mutter werden zu dürfen, wissen, wie vom Anfang der Schwangerschaft an das noch völlig unbekannte und zunächst auch kaum erkennbare Kind präsent ist und das Leben zunächst der Mutter und dann der Eltern in vielfältiger Weise mitbestimmt. Dass die Umgebung sich mitfreut, gehört dabei zu den elementaren Ausdrucksformen der Humanität. Vorgestern haben die Herrnhuter Losungen uns in der evangelischen Kirche an eines der
biblischen Beispiele für diese gemeinsame Freude erinnert, nämlich durch den neutestamentlichen Text über die Geburt Johannes des Täufers. Im Lukasevangelium heißt es dazu: „Für Elisabeth kam die Zeit, dass sie gebären sollte; und sie gebar einen Sohn. Und ihre Nachbarn und Verwandten hörten, dass der Herr große Barmherzigkeit an ihr getan hatte, und freuten sich mit ihr“ (Lukas 1, 57 f.).

Die Freude über ein empfangenes Kind sollten wir teilen und unterstützen, wo wir nur können. Das hat Folgen für die gesetzlichen Rahmenbedingungen und für viele sozialpolitische Fragestellungen. Es gilt aber auch für die persönlichen Reaktionen, die in ihrer Summe die gesellschaftlichen Mentalitäten bestimmen. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Vermieterinnen und Vermieter, Professorinnen und Professoren, Nachbarn und Freunde, die neuen Großeltern, Tanten und Onkel sind hier ebenso gefragt und in der Pflicht wie die Partner selber. Immer sollte die Freude und der Glückwunsch im Vordergrund stehen und die ausdrücklich formulierte Absicht, die kommenden Herausforderungen gemeinsam zu bestehen, sich auf und über das „Abenteuer Kind“ zu freuen und auch in Konfliktsituationen gemeinsame, lebensdienliche Lösungen zu suchen.

Dieser Freude korrespondiert die Trauer um jedes Kind, das wegen eines Schwangerschaftskonflikts nicht das Licht der Welt erblicken wird. Dabei halten wir unmissverständlich daran fest, dass wir das werdende Leben nur mit den Frauen und nicht gegen sie schützen können. Ebenso wichtig ist es festzuhalten, dass einseitige Schuldzuweisungen an die betroffenen Frauen der Vergangenheit angehören müssen. Niemand freut sich über die Entstehung neuen Lebens so sehr wie eine Mutter, niemand leidet unter einem Schwangerschaftskonflikt so sehr wie eine betroffene Frau, niemandem fällt ein Schwangerschaftsabbruch schwerer als der Frau, an der er vorgenommen wird.

 Schwangere Frauen in Konfliktsituationen verdienen daher unseren uneingeschränkten Respekt, unsere Unterstützung und Stärkung. Natürlich werben wir dafür und hoffen, dass es gelingt, gemeinsam mit den betroffenen Frauen Wege aus dieser Konfliktsituation hinaus zu finden und so eine Entscheidung für das Leben zu ermöglichen. Aber auch dort, wo dies nicht gelingt, haben wir an der Seite der Frauen zu bleiben. Doch der Lebensschutz muss besser gelingen als bisher; dass den gesetzlich ermöglichten Spätabtreibungen ein Ende gemacht wird, ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger und notwendiger Schritt. Aber auch darüber hinaus ist der
Einsatz dafür notwendig, dass Schwangerschaften angenommen werden und gelingen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Beitrag von Christiane Kohler-Weiß in dem Ihnen vorliegenden Materialheft hinweisen. Pfarrerin Dr. Kohler-Weiß ist für Ihr Buch zu diesem Thema, das aus einer Heidelberger Dissertation hervorgegangen ist, mit dem Hanna-Jursch-Preis der EKD ausgezeichnet worden.

Im Mittelpunkt dieser Woche für das Leben stehen Konfliktsituationen des Alltags, Konfliktsituationen, zu deren Lösung wir alle beitragen können. Gerade aus unseren Beratungsstellen hören wir immer wieder, wie Schwangerschaftskonflikte erst dadurch überhaupt entstehen, dass Schwangere von den Kindsvätern, die sich vor der Verantwortung für ein Kind scheuen, von Eltern, die noch keine Lust verspüren, Großeltern zu werden, oder von anderen Menschen aus ihrer unmittelbaren Umgebung zum Abbruch einer Schwangerschaft gedrängt werden. Das ist ein Druck, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Dass sich die gesellschaftliche Mentalität in solchen Fragen ändert, ist in meinen Augen das wichtigste Ziel der vielen Bemühungen unserer Kirchen, zu denen die Woche für das Leben ihren besonderen Beitrag leisten soll.

Und in der Tat: Die gesellschaftliche Atmosphäre ändert sich. Das Ja zu Kindern findet wieder Resonanz. Mein Wunsch ist, dass dieses Ja nicht damit begründet wird, dass Kinder die Rente sichern, sondern dass sie ein Gottesgeschenk, das wichtigste Glück des menschlichen Lebens und ein Wert in sich selbst sind.

Sie finden in dem Ihnen vorliegenden Materialheft wieder eine Fülle von Beiträgen, die zahlreiche Aspekte des Themas ausleuchten. Wir hoffen darauf, dass auch in diesem Jahr landauf, landab in vielen Veranstaltungen über diese Thematik gesprochen wird. Jeder Schritt, der zu einer Kultur des Lebens beiträgt und dazu hilft, Schwangerschaftskonflikte zu vermeiden oder so zu lösen, dass es nicht zu Schwangerschaftsabbrüchen kommen muss, ist hoch willkommen.

Deshalb begleite ich die Vorbereitungen für die Woche für das Leben 2006 mit meinem persönlichen Engagement und hoffe auf viele Veranstaltungen mit der nötigen Intensität wie mit der nötigen Resonanz.