Vertrauensberufe im Rechtsstaat

Wolfgang Huber

Es gilt das gesprochene Wort.


Festvortrag zum 57. Deutschen Anwaltstag in Köln

Vertrauen ist gut. Anwalt ist besser. Unter diesem Motto steht der 57. Deutsche Anwaltstag. Ich freue mich über die Einladung, mich in diesem Rahmen mit dem Thema Vertrauensberufe im Rechtsstaat auseinander zu setzen. Sowohl das Motto des Anwaltstages, als auch der Gegenstand meines Referates kreisen um ein Schlüsselthema, eine Grundkategorie, einen Kernbegriff: Vertrauen.

Dieses Thema ist sehr aktuell. Es gehört, um den Titel einer noch nicht abgeschlossenen Konferenzserie der Stiftung Schloss Neuhardenberg aufzugreifen, in das Zentrum der Verlegenheiten unserer Zeit. In den vergangenen Jahren haben wir in Deutschland viel Anlass gesehen, uns mit dem Vertrauen zu beschäftigen. Die letzte Berliner Rede des verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau war diesem Thema gewidmet. Ebenso war es Gegenstand in der Antrittsrede seines Nachfolgers. Die Frage nach einem Vertrauensverlust in der Politik war ein beherrschender Gegenstand des vergangenen Bundestagswahlkampfes. Die vielfache Beschäftigung mit dem Begriff des Vertrauens macht das Maß der Verunsicherung des Vertrauens deutlich, die sich zu einer Erosion des Vertrauens auszuwachsen droht. Es ist also ein Gebot der Stunde, sich mit dem Begriff des Vertrauens auseinander zu setzen.

Einer Vorankündigung zu dieser Veranstaltung habe ich entnommen, dass es den Organisatoren gerade darauf ankam, einen nichtanwaltlichen Blick auf das gestellte Thema werfen zu lassen. Das habe ich mit leichtem Schmunzeln zur Kenntnis genommen. Ich bin zwar mit Leib und Seele Theologe und Bischof; aber ich kann nicht ganz verleugnen, dass ich in einer Juristenfamilie aufgewachsen bin, in der es auch an Anwälten nicht gefehlt hat. Meinen nichtanwaltlichen Blick richte ich auf den Anwaltsberuf also aus freundschaftlicher und familiärer Halbdistanz. Ich hoffe, das ist weder zu weit weg noch zu nah dran.

Aber es stimmt: Die Erosion des Vertrauens ist nicht auf den Umgang mit dem Recht und die Rechtspflege begrenzt. Sie trifft andere Vertrauensberufe mindestens so hart, wenn nicht sogar härter. So mache ich kein Hehl daraus, dass ich den nun schon wochenlang anhaltenden, wenn auch immer wieder dosierten Streik der Klinikärzte deshalb für hoch beunruhigend halte, weil er schon jetzt in erkennbarer Weise das Vertrauen in einen Beruf schädigt, der ebenso wie der Anwaltsberuf ein Vertrauensberuf ist, nämlich den des Arztes. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass die streitenden Parteien eine gemeinsame Verpflichtung haben, möglichst schnell den Weg zu einem tragfähigen Kompromiss zu gehen, weil sie nicht weiter das Vertrauen in diejenigen aushöhlen dürfen, um deren Arbeits- und Entlohnungsbedingungen es geht: die Ärzte in unseren Kliniken.

Dies Beispiel zeigt schon: Es handelt sich nicht um ein Sonderproblem der Juristen. Zugleich liegt es aus einem anderen Grund nahe, nach einer nichtanwaltlichen Perspektive Ausschau zu halten. Vertrauen ist keineswegs ein juristischer Begriff. Unter juristischem Gesichtspunkt wird man diesen Begriff vielleicht sogar für kaum fassbar ansehen. Gleichwohl kann das Vorhandensein oder das Fehlen von Vertrauen eine erhebliche rechtliche Relevanz entwickeln. Für Theologen dagegen ist Vertrauen ein Kernbegriff. Wir Theologen kommen gar nicht umhin, uns mit diesem Begriff auseinander zu setzen. Deshalb möchte ich Ihnen einige elementare Überlegungen zu diesem Begriff aus der Sicht des evangelischen Theologen vortragen. Ich tue das in der Hoffnung, dass sie sich bei der weiteren Entfaltung des Themas als fruchtbar erweisen werden.

II.

In der biblischen Sprache gehören Glaube und Vertrauen unmittelbar zusammen. Denn die biblischen Worte, die wir heute mit Glauben wiedergeben, meinen in ihrem Kern Vertrauen. Ein sprachlicher Zusammenhang klingt damit an, der auch dem Juristen aus der Formel von Treu und Glauben bekannt ist. Das Besondere in diesen biblischen Zusammenhängen liegt nun freilich darin, dass es nicht nur darum geht, wie Vertrauen gewahrt, sondern auch wie es geweckt werden kann. Dabei ist nicht nur Vertrauen in diesen oder jenen im Spiel, sondern ein Vertrauen in das Leben als ganzes, das dadurch entsteht, dass Vertrauen in den Herrn des Lebens wächst. Deshalb ist Vertrauen in den Zusammenhängen, die ein Theologe zu bedenken hat, zuallererst und in seinem Kern Gottvertrauen.

Es gibt einen Zusammenhang, in dem sich dieser Grundzug besonders deutlich zeigt. Ich meine die neutestamentlichen Berichte darüber, wie Jesus Menschen aus auswegloser Krankheit oder niederdrückender Verzagtheit befreit. Das Entscheidende an diesen Vorgängen ist regelmäßig das Vertrauen, das er in den Menschen weckt. Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden! Solche Worte wecken das elementare Zutrauen dazu, dass Gott für das Leben Gutes will. Gewiss ist das Gute nicht immer identisch mit dem Erwarteten. Aber der Blick auf das Gute, das Gott will, macht frei für den Blick in die Zukunft und hilft dabei, mit ihren Unwägbarkeiten umzugehen. Vertrauen im biblischen Sinne lässt sich wohl am genauesten so beschreiben: Aus gutem Grund von Gott Gutes erhoffen. Das Vertrauen, das die letzte Anerkennung des Menschen in seinem Tun und Lassen in Gottes Hand legt, erweist sich als Grund alles Vertrauens überhaupt, ein vom Selbstruhm freies Selbstvertrauen eingeschlossen. Einem Selbstvertrauen, das im Gottvertrauen gründet, wird durch eine solche Klärung der Entfaltungsraum eröffnet.

Wie kann sich das auswirken? Vertrauen ist immer mit einem Sichverlassen verbunden – und zwar in dem doppelten Sinn, der diesen Ausdruck auszeichnet. Denn Sichverlassen bedeutet sowohl, von sich selbst abzusehen, als auch, sich auf einen anderen ganz einzulassen. Und dieses Vertrauen korrespondiert einem Versprechen, das ein solches Sichverlassen weckt und auslöst. Wer bei sich bleibt, muss sich mit der Unbeständigkeit der eigenen Person abfinden. Wer sich dazu entscheidet, bleibt in einem unguten Sinn des Wortes eigenverantwortlich und letztlich überfordert. Wer sich nicht verlässt, fühlt sich verlassen, vielleicht sogar unfrei oder – weil von den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der einen Wirklichkeit umher geschoben – orientierungslos. Gottvertrauen dagegen vermittelt einen Standpunkt im Leben. Aus christlicher Sicht ist deshalb beides nötig: sich in Gottesdienst und Gebet des Vertrauensverhältnisses zu Gott zu vergewissern und im Alltag des Lebens an Vertrauensverhältnissen zu arbeiten und sie zu erneuern.

In diesem Sinn wollen Christen zum Vertrauen in der Gesellschaft, in der sie leben, dadurch beitragen, dass sie an ihrem jeweiligen Ort das Gottvertrauen als den Grund allen Vertrauens zwischen Menschen und den entscheidenden Maßstab auch für alles Selbstvertrauen leben und predigen. Vertrauen wollen Christen dadurch fördern, dass sie um Verlässlichkeit im menschlichen Miteinander werben: um das Einhalten von Versprechen in den persönlichen Lebensbeziehungen von Ehe und Familie, um den Einsatz von Vertrauen in die nächste Generation, um eine Atmosphäre, in der die Freude an Kindern und die Bereitschaft, für sie Verantwortung zu übernehmen, wieder wachsen. Christen erwarten von allen Menschen in öffentlicher Verantwortung, solcher Verlässlichkeit im menschlichen Miteinander Raum zu geben. Dabei sind sie bereit, selbst entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Ohne einen solchen Grundkonsens kann es kein Vertrauen in die Grundregeln einer Gesellschaft geben.

III.

Zu dem Horizont des Vertrauens, den ich jetzt zwar keineswegs ausgeleuchtet habe, aber doch habe aufscheinen lassen, hat jeder Mensch sein eigenes, unverwechselbares Verhältnis. Aber es musste von ihm die Rede sein, damit deutlich wird. Überall, wo unser Vertrauen in konkreten Formen auf dem Spiel steht, ist schon immer ein Grundvertrauen vorausgesetzt. Menschliches Leben hat es, wie Erik Erikson von Jahrzehnten sagte, mit einem Urvertrauen zu tun, das er in den Ursprungsbeziehungen verankerte, in denen jeder Mensch aufwächst.

Auf die Frage, worin dieses Grundvertrauen besteht und worauf es sich gründet, werden in unserer Gesellschaft unterschiedliche Antworten gegeben. Sie können nicht von Staats wegen reglementiert werden. Aber dass solche Antworten gegeben, und vor allem: dass ihr Inhalt gelebt und praktiziert wird, ist eine elementare Voraussetzung dafür, dass praktiziertes Vertrauen in der Gesellschaft einen verlässlichen Ort behält. Zu den Voraussetzungen, auf die der freiheitliche, säkularisierte Staat angewiesen ist, ohne sie selbst garantieren zu können, gehört das Vertrauen als ein gesellschaftliches Grundphänomen, ohne das die Kommunikation zwischen Menschen ausgeschlossen ist. Johannes Rau hat nüchtern festgestellt: Ohne Vertrauen können Menschen nicht friedlich miteinander umgehen. Dies gilt für alle Bereiche der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft, des menschlichen Zusammenlebens. Wo Vertrauen fehlt oder verloren geht, droht der Gesellschaft ein zentrales Element ihrer Existenz- und Handlungsfähigkeit abhanden zu kommen.

Wo Vertrauen fehlt, wird Politik unmöglich. Die Demokratie beruht auf einem wechselseitigen Vertrauensverhältnis zwischen Wählenden und Gewählten. Wie bereits John Locke erläutert hat, ist es für den demokratischen Staat einerseits notwendig, dass die Bürger der legitimen Regierung vertrauen; andererseits aber muss auch die Regierung sich auf das rechtskonforme Verhalten der Bürger verlassen. Sicherlich beruht die Demokratie auf einer institutionellen Vertrauensbasis, die als solche von Personen unabhängig ist. Aber das Vertrauen in die Institutionen der Demokratie hängt wiederum ab vom Vertrauen in die handelnden Personen.

Bei alledem ist Vertrauen immer in die Zukunft gerichtet. Der Begriff "Vertrauensvorschuss" macht das deutlich. Vertrauen ist die von Hoffnung getragene Erwartung, von denjenigen, denen man vertraut oder denen man etwas anvertraut, in der Behandlung der jeweiligen Angelegenheit nicht enttäuscht zu werden. Vertrauen hält sich an die guten Gründe dafür, aus freier Entscheidung auf vorausschauendes Misstrauen zu verzichten und dadurch einen Weg in die Zukunft zu ermöglichen, der mehr ist als das Festhalten am Gegenwärtigen. Deshalb ist Vertrauen eine unerlässliche Bedingung für die Gestaltung von Zukunft. Vertrauen ist eine entscheidende Bedingung von Zukunftsfähigkeit. Wo Misstrauen herrscht, folgt daraus oft ein Streben danach, vorhandene Sicherheiten zu erhalten und keinerlei Wagnis um er Zukunft willen einzugehen.

Das Recht kann zwar durch äußere Reglementierungen das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft steuern. Es ist aber letztlich nicht in der Lage, Vertrauen zu schaffen. Insbesondere rechtlicher Zwang ist kein geeignetes Mittel, Vertrauen herbeizuführen. Johannes Rau drückt es so aus: Vertrauen kann man nicht anordnen, nicht befehlen. Vertrauen kann man nicht beschließen. Vertrauen muss wachsen. Vertrauen wächst zwischen einzelnen Menschen, in Gemeinschaften und muss eine ganze Gesellschaft prägen.

So grundlegend also Vertrauen für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft und damit für den Rechtsstaat ist, so fragil und gefährdet ist es. Wo aus Enttäuschung Vertrauen verloren geht – sei es in der Politik, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in den Medien, im privaten Zusammenleben, in vertraglichen Geschäftsbeziehungen – ist es besonders schwer, es wieder herzustellen.

Das kann man sich an Beispielen dafür verdeutlichen, dass das Vertrauen in bestimmte Produkte durch Informationen erschüttert wird, weil neue Informationen die Produktqualität massiv in Frage stellen. Kaum wieder aufzuholende Absatzeinbrüche beim jeweiligen Produkt sind die Folge. Ein plastisches Beispiel ist der massive Rückgang des Rindfleischkonsums im BSE-Skandal.

Wo ein Vertrauensverlust die Gesellschaft insgesamt erfasst, ist das gesamte System in Gefahr. Aus derart enttäuschtem Vertrauen wird Resignation gegenüber der gegebenen Form gemeinsamen Lebens überhaupt. Gesellschaftliche Reformprozesse, die gerade Vertrauen benötigen, verkehren sich in ihrer Wirkung in ihr Gegenteil; ihnen wird mit großem Misstrauen begegnet. Gewiss sieht der demokratische Rechtsstaat die Gewährung von Vertrauen immer nur auf Zeit vor. Vertrauen wird auf Bewährung gegeben. Niemand darf im demokratischen Rechtsstaat an das Vertrauen der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger appellieren, ohne zugleich einzuräumen: Dem Vertrauen korrespondiert die kritische Wachsamkeit. Im Zusammenhang politischer und sozialer Reformen die Erosion des Vertrauens und die Notwendigkeit des Vertrauens anzusprechen, bedeutet nicht, Vertrauen auf Kosten dieser Wachsamkeit einzufordern. Vielmehr muss heute beides zugleich gegeben sein: das Vertrauen, aber ebenso auch die Fähigkeit zur Kritik. Im öffentlichen Leben, insbesondere aber in der Politik, wird kritische Wachsamkeit immer die Begleiterin des Vertrauens bleiben.

Im Ergebnis sehen wir, dass Vertrauen eine unverzichtbare Grundbedingung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung ist. Es ist mit dem Mittel des Rechts nicht erzwingbar. Alle Glieder der Gesellschaft sind dieser Grundbedingung des Staates verpflichtet; jede gesellschaftliche Gruppe muss dazu ihren Beitrag leisten. Alle müssen sich um Vertrauen bemühen. Diese Vertrauensbereitschaft ist unverzichtbar. Im Fall des Verlustes von Vertrauen muss sie einhergehen mit der Bereitschaft, verlorenes Vertrauen zu erneuern. Nur so kann die Lebens- und Zukunftsfähigkeit eines Gemeinwesens gesichert bleiben.

IV.

Ebenso wie für den demokratischen Staat hat das Vertrauen auch für den Beruf im anspruchsvollen Sinn dieses Wortes eine Schlüsselbedeutung. Um zu erläutern, was Beruf in diesem anspruchsvollen Sinn meint, ist ein Blick auf die theologische Dimension auch dieses Begriffs nötig. Denn das Wort Beruf ist ursprünglich in der Bedeutung, die Martin Luther diesem Wort gab, in unserer Sprache heimisch geworden. Er knüpfte dafür an eine Aussage des Apostels Paulus an: Jeder soll so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gott einen jeden berufen hat ... Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde (1. Korinther 7, 17.20). Aus dieser biblischen Aussage entwickelte Martin Luther seine Vorstellung vom Beruf, den er bei jedem Menschen in einer Berufung begründet sieht. Berufung aber heißt für Luther, dem Ruf Gottes zu folgen und zu entsprechen – und zwar auch in der alltäglichen weltlichen Arbeit. Auch in einem solchen äußeren Beruf liegt eine innere Berufung: die Berufung nämlich zum Dienst am Nächsten. Kein Beruf ist davon ausgenommen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Stallmagd – so heißt eines von Luthers Lieblingsbeispielen – dem Fürsten absolut gleich. Damit ist jeder Vorrang einer religiösen Berufung vor weltlichen Tätigkeiten ausgeräumt. Jegliche Berufserfüllung im engeren wie in diesem weiteren Sinn wird von Luther als Gottesdienst verstanden. Das jeweilige berufliche Bemühen um das Herstellen von gegenseitigem Vertrauen ist nach diesem Verständnis ein Teilaspekt ausgeübter Nächstenliebe.

Jede Person, die einen Beruf, gleich welcher Art, ausübt, ist angewiesen auf das Vertrauen, das ihr in diesem Zusammenhang entgegengebracht wird. Zugleich begegnet sie ihrerseits ihrer Klientel mit Vertrauen. Bei der Ausübung jedweder beruflicher Tätigkeit, sei sie gewerblich oder gemeinnützig, kommt es letztlich auf die Beziehungen zwischen Menschen an. Dem Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern liegt ein Vertragsverhältnis zu Grunde, das vom Vertrauen in die wechselseitige Bereitschaft zur Vertragserfüllung geprägt sein muss. Die Orientierung an Tugenden wird vorausgesetzt, die jeweils Einzelaspekte dessen darstellen, was in der Gesamtheit das Vertrauen ausmacht. Hierzu zählen Verlässlichkeit, Verantwortlichkeit, Leistungsbereitschaft, das Einbringen und Fördern der eigenen beruflichen Fähigkeiten, Korrektheit, Fairness, Berechenbarkeit, Beständigkeit, Vertragstreue, Verschwiegenheit und sofort. So verstanden ist jeder Beruf ein "Vertrauensberuf" – ganz im Sinne der Überlegungen Martin Luthers.

Berufliche Vertrauensbeziehungen sind ursprünglich immer mit persönlichem Kontakt verbunden gewesen. Die unmittelbare menschliche Kommunikation ist, wie wir gesehen haben, für das Entstehen von Vertrauen entscheidend. Verträge sind ursprünglich durch Handschlag geschlossen worden. Längst sind Vertragsbeziehungen viel komplizierter geworden. Besondere Vorkehrungen sollen das eigene Risiko minimieren und den jeweiligen Sicherheitsinteressen Rechnung tragen. In immer globaleren Beziehungen findet die Kommunikation der Partner längst ohne ein unmittelbares Zusammentreffen der Beteiligten statt. Telefon und E-Mail, Internet und Unterschriften durch Code-Nummern gehören inzwischen zu den technischen Kommunikationsmitteln. Dabei lässt sich zugespitzt sagen: Je mehr der persönliche Kontakt abnimmt, umso höher werden die Anforderungen an die Mittel der Risikoabwehr. Vertrauen wird so nicht mehr hergestellt, sondern im Wege der technischen, rechtlichen, formalisierten Absicherung simuliert. Der Bereich wächst, in dem das Zusammenwirken durch äußere Reglementierungen und technische Absprachen geregelt ist. Aber ein Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft entsteht so nicht. Umso wichtiger werden diejenigen Zusammenhänge, in denen die unmittelbare menschliche Kommunikation unentbehrlich ist. Sie gewinnen in wachsendem Maß eine Stellvertretungsbedeutung für die Gesellschaft im Ganzen. Was wir in einem spezifischen Sinn die Vertrauensberufe, die Professionen im eigentlichen Sinn nennen, ist genau durch diese persönliche Beziehung gekennzeichnet. Sie beruhen, wie man im anwaltlichen Bereich sagt, auf einem Mandat: einem Auftrag, den eine Person einer anderen Person gibt. Sie bedarf des unmittelbaren persönlichen Kontakts.

V.

Eine Liste, welche Berufe als Vertrauensberufe zu verstehen sind, ergibt sich aufgrund rechtlicher Regelungen des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung, die Ausnahmevorschriften für eine Reihe besonderer Berufe aufgestellt haben. Einschlägig sind hier § 203 StGB und die für bestimmte Amtsträger dazugehörende Spezialnorm des § 353 b StGB, in denen der Verrat von im Beruf erlangten Geheimnissen sanktioniert wird, und § 53 StPO, in dem für abschließend benannte Berufe und Berufsgruppen ein Recht der Zeugnisverweigerung als Ausnahme vom rechtstaatlich bestehenden Zeugniszwang normiert wird.

Die in den §§ 203 StGB und 53 StPO aufgeführten Berufslisten sind zwar nicht kongruent. Der Kreis der zur Aussageverweigerung Berechtigten ist enger als der Kreis derjenigen, denen die Geheimniswahrung geboten ist. Für unsere Fragestellung spielt das aber keine entscheidende Rolle. Entscheidendes Merkmal für die jeweils genannten Berufe ist nämlich übereinstimmend, dass es bei der Berufsausübung jeweils um besondere Näheverhältnisse zu Menschen geht, die etwa als Klienten oder Patienten mit den Berufsträgern in unmittelbarem Kontakt stehen und darauf angewiesen sind, dass die Fragen und Sachverhalte ihrer privaten Lebenssphäre angemessen aufgenommen werden. Dabei kann es sich um höchst sensible Angelegenheiten handeln.

Vertrauensberufe haben es mit der Integrität der Person, ja unter Umständen mit der Unantastbarkeit ihrer Würde zu tun. Jeder Einwirkung der öffentlichen Gewalt in diesen unantastbaren Bereich stehen Grundnormen der Verfassung entgegen. Das Gebot, die Intimsphäre des Einzelnen zu achten, ist durch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verbürgt, dessen Inhalt und Reichweite anhand der Würde des Menschen als Grundnorm des Grundgesetzes zu bestimmen ist. Im Interesse dieser Privatsphäre der Menschen müssen diejenigen, die von Berufs wegen Angelegenheiten aus diesem Bereich für ihre Klienten behandeln, bei ihrer Tätigkeit vor Zugriffen des Staates geschützt werden. Der professionelle Zugang zu dem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung verlangt zugleich Kompetenz und Integrität. Auf Menschen, denen man sich auf eine solche Weise anvertraut, muss man sich verlassen können.

Damit sind wir im Kernbereich des Vertrauens. In einer Entscheidung zu der Frage, ob Sozialarbeitern ein Zeugnisverweigerungsrecht im Sinne von § 53 StPO zukommt, hat das Bundesverfassungsgericht hierzu bereits 1972 Folgendes ausgeführt: Vielfach ist es Teil seiner (des Bürgers) unabweisbaren Lebensbedürfnisse, Vertreter bestimmter Heil- und Beratungsberufe in Anspruch zu nehmen. Wirksame Hilfe kann er von ihnen zumeist nur erwarten, wenn er sich rückhaltlos offenbart und sie zu Mitwissern von Angelegenheiten seines privaten Lebensbereiches macht. Andererseits hat er ein schutzwürdiges Interesse daran, dass solche Tatsachen nicht zur Kenntnis Dritter gelangen. Die grundsätzliche Wahrung dieses Geheimhaltungsinteresses ist notwendige Vorbedingung des Vertrauens, das er um seiner selbst willen aufbringen muss, und Grundlage für die erfolgreiche Berufstätigkeit jener, von denen er Beistand benötigt. anderenfalls bliebe ihm oft nur die Wahl, entweder eine Offenbarung seiner privaten Sphäre in Kauf zu nehmen oder aber auf eine sachgemäße Behandlung oder Beratung von vornherein zu verzichten. Das Gericht macht allerdings auch deutliche Aussagen darüber, dass die Geheimhaltungspflicht sich nur auf Gegenstände beziehen kann, die dem schlechthin unantastbaren Bereich der privaten Lebenssphäre zuzuordnen sind, und knüpft daran Konsequenzen, auf welche Berufe sich das beziehen kann.

In den klassischen Kernbereich der Professionen, der Vertrauensberufe also, gehören Geistliche, Rechtsanwälte und Ärzte. Neben Mitarbeitern von Presse und Rundfunk werden auch noch andere vergleichbare Berufe genannt. In allen diesen Berufen kommt es auf das Bestehen eines festen Vertrauensverhältnisses zwischen den Beteiligten an. Das schließt das Recht der Zeugnisverweigerung ebenso wie das Verbot des Geheimnisverrats ein. Wenn übrigens unter den Berufen, die zur Geheimniswahrung verpflichtet sind, die Geistlichen nicht genannt sind, so liegt das nicht darin, dass sie etwa keiner Verschwiegenheitspflicht unterlägen. Das Gegenteil ist der Fall. In der evangelischen Kirche hat das Beicht- und Seelsorgegeheimnis einen hohen Stellenwert. Nur gehört diese Pflicht zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen und hat in deren Ordinationsverpflichtungen und Pfarrerdienstgesetzen ihren Ort. Der religionsneutrale Staat  dagegen kann die besonderen Berufspflichten der Geistlichen nicht festlegen oder gar mit staatlichen Strafsanktionen sichern.

Die Träger von Vertrauensberufen stehen in einem besonderen Verpflichtungsverhältnis zu ihren Klienten. Und sie brauchen in einem besonderen Maß einen Schutz nicht nur durch den Staat, sondern auch gegenüber dem Staat. Denn dieser darf in die unantastbaren Rechte seiner Bürger nicht eingreifen und hat dennoch sicherzustellen, dass sich die Bürger zur Wahrung ihrer Belange und ohne Risiko für ihre Privatsphäre gegenüber den Sachwaltern ihrer Angelegenheiten öffnen können. Dazu ist der Staat umso mehr verpflichtet, als in den Professionen jeweils besondere Gemeinwohlbelange auf dem Spiel stehen. Die Tätigkeit von Ärzten dient der Gesundheitspflege, die Tätigkeit von Geistlichen dient der Religionsfreiheit und in ihrem Rahmen insbesondere der Seelsorge; die Tätigkeit der Rechtsanwälte dient der Rechtspflege.

So wichtig nach alledem die Vertrauensberufe für den Rechtsstaat sind, so sehr der Staat deshalb auch die Rechtsgrundlage für besonders geschützte Berufsausübung schafft, so klar müssen allerdings auch die Grenzen der besonderen Behandlung der Vertrauensberufe gesteckt sein. Die Reichweite eines Zeugnisverweigerungsrechts kann der Staat vor dem Hintergrund der unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung nicht grenzenlos ausdehnen. Vielmehr müssen Ausnahmen dieser Art stets plausibel begründet und legitimiert sein. Umgekehrt aber ist mit großer Sorgfalt darauf zu achten, inwieweit durch neuere Entwicklungen die Vertrauensbasis der Vertrauensberufe untergraben oder ausgehöhlt wird. Problematisch sind dabei wettbewerbsrechtliche Entwicklungen auf europäischer Ebene ebenso wie ständig wachsende Anforderungen an die Instrumente der Strafverfolgung im Zuge der Ausweitung krimineller oder terroristischer Handlungen.

In diesem Zusammenhang muss gefragt werden, ob und inwieweit eine rein marktwirtschaftlich ausgerichtete Organisation von Vertrauensberufen ihre besondere Funktion für das Gemeinwesen gefährden kann. Nicht nur im Hinblick auf Rechtsanwälte stellt sich diese Frage. Sie gilt für andere Vertrauensberufe – Geistliche oder Ärzte zumal – in gleicher Weise. Eine marktwirtschaftliche Liberalisierung darf nicht so weit gehen, dass es am Ende den Berufsstand gar nicht mehr gibt, dem wir den Status eines Vertrauensberufs zuordnen könnten. Will man die Vertrauensberufe im Wege von Deregulierungen stärker dem Wettbewerb aussetzen und dabei die Berufsausübung stärker formalisieren und schematisieren, so muss man sich bewusst sein, dass eine schematisierte Behandlung höchstpersönlicher Angelegenheiten der Individualität dieser Angelegenheiten widerspricht. Es darf nicht die Gefahr entstehen, dass die Klienten zu bloßen Objekten einer gleichförmigen Berufsausübung werden. Das steht der Bildung des gebotenen Vertrauensverhältnisses und damit der Aufrechterhaltung der Funktion und Bedeutung der Vertrauensberufe entgegen.

Ein anderes Gefahrenpotential, auf das ich Ihr Augenmerk lenken möchte, besteht für Geistliche und das von ihnen zu wahrende Beicht- und Seelsorgegeheimnis. Denn angesichts moderner Methoden verdeckter Informationsbeschaffung stellt sich die Frage, ob ein umfassender Schutz des Beicht- und Seelsorgegeheimnisses überhaupt noch gewährleistet werden kann. Man wird dafür allenfalls dann noch kämpfen können, wenn es durch den Gebrauch von weithin wirksamen Richtmikrofonen schon längst missbraucht ist. Wie lässt sich dann dafür sorgen, dass das Vertrauen der Menschen in den Seelsorger oder die Seelsorgerin nicht erschüttert wird? Wie sieht es hier mit Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsgeboten aus? Sind sie an Personen oder an bestimmte kirchliche Räumlichkeiten zu binden? Wie ist das mit der Telefonseelsorge? Mit der Notfallseelsorge? Wer ist "Geistlicher" oder "Seelsorger" im Sinn der gesetzlichen Bestimmungen? Wer wird dies künftig definieren? Und wie? Hier stehen Klärungen an, die sich nach meiner festen Auffassung an dem Ziel orientieren müssen, die Funktionsbedingungen für Vertrauensberufe aufrechtzuerhalten und zu stärken.

Es wird Sie vielleicht verwundern, dass in dieser Betrachtung der Anwalt und der Geistliche in eine gute Nachbarschaft zueinander geraten. Das liegt nicht nur an dem Redner, den Sie sich zu diesem Thema eingeladen haben. Es liegt auch in der Natur der Sache. Die Aufgabe der Rechtspflege und die Wahrnehmung von Grundrechten sind nahe miteinander benachbart. Unter den Grundrechten aber kommt der Freiheit der Religion und damit der Freiheit des Glaubens und des Gewissens schon immer eine Schlüsselstellung zu. Es wundert deshalb nicht, dass in Ländern, in denen die Religionsfreiheit einschränkenden Bedingungen unterliegt, auch die Freiheit der Rechtspflege mit Hindernissen zu kämpfen hat. In einer Woche, in der durch den Besuch der Bundeskanzlerin die Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf China gelenkt worden ist, liegt es nahe, dies mit einem Hinweis auf China zu verdeutlichen. Dass die Kirchen sich darum bemühen, bessere Bedingungen für die Wahrnehmung der Religionsfreiheit in China zu erreichen, liegt deshalb genauso nahe, wie dass Rechtsanwälte sich mit der beruflichen oder persönlichen Situation ihrer chinesischen Kollegen beschäftigen. Beide Fragen gehören deshalb in meinem Verständnis auch zu den Themen des Rechtsstaatsdialogs, der nach dem des Erinnerns werten Besuch von Johannes Rau im Land der Mitte zwischen Deutschland und China in Gang gekommen ist. 

VI.

Meine These heißt: Nichts ist besser als Vertrauen. Wo Vertrauen enttäuscht wird, wird an den Grundfesten des Zusammenlebens gerüttelt. Vertreter von Vertrauensberufen wissen das am besten. Deshalb liegt ihnen daran, dass diese besondere Bedingung ihrer Profession gewahrt, im beruflichen Verhalten bewährt und von der staatlichen Rechtsordnung geachtet wird.

So führt mein Nachdenken zu dem Ergebnis, dass das Motto Ihrer Veranstaltung wohl am ehesten ironisch zu verstehen ist. Mit der Parole Vertrauen ist gut. Anwalt ist besser knüpfen Sie an den berühmten Satz Lenins an: Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser. Dieser Satz indessen erklärt die Notwendigkeit von Misstrauen zur Basis des Staates. Ein von dieser Maxime getragener Staat endet zwangsläufig als Unrechtsstaat. Ihm fehlt das Vertrauen des Staates in seine Bürger ebenso wie das Vertrauen der Bürger in ihren Staat. Ich habe dagegen versucht, die grundlegende Bedeutung von Vertrauen für ein Gemeinwesen zu beschreiben. Aus meinen Überlegungen folgt, dass im freiheitlichen Rechtsstaat ein Anwalt dann am besten ist, wenn er durch das Vertrauen seiner Klienten getragen wird. Dieses Vertrauen, so habe ich durch manche Erfahrung gelernt, wird ganz besonders dadurch gestützt, dass ein Anwalt auch dann Recht Recht und Unrecht Unrecht nennt, wenn er damit den vorgefassten Meinungen und den Interessen seines Klienten widerspricht. Ein Anwalt, so füge ich hinzu, ist dann am besten, wenn er im Rahmen einer Rechtsordnung arbeiten kann, die diesen Bereich des Vertrauens schützt, ohne ihn durch Aushöhlung der Professionen oder durch eingreifende Kontrolle zu zerstören. Deshalb schlage ich Ihnen, meine Überlegungen zusammenfassend, vor, das Motto Ihrer Veranstaltung zu ändern und zu sagen: Ist das Vertrauen gut, ist der Anwalt besser.