"Die Herausforderungen für die Theologie in einem pluralistischen Europa aus ökumenischer Perspektive - Eine evangelische Stellungnahme" - Vortrag bei der Zweiten Konsultation der Theologischen Fakultäten und Ausbildungsstätten in Europa in Graz

Wolfgang Huber

Christliche Theologie steht immer vor einer doppelten Herausforderung. Sie ist danach gefragt, welchen Beitrag sie zum Leben der Kirche leistet. Und sie muss sich zugleich der Frage stellen, in welchem Verhältnis sie zur Welt der Wissenschaft steht. In beiden Hinsichten erleben wir gegenwärtig einen tiefgreifenden Wandel. Dabei wird – in gewisser Weise zum ersten Mal seit dem Mittelalter – Europa bewusst als der Raum solchen Wandels wahrgenommen. Die Universitätsgründungen des späten Mittelalters vollzogen sich im Horizont einer gesamteuropäischen Entwicklung. In der Neuzeit verengte sich dieser Horizont; die Universitäten nahmen in den verschiedenen Nationalstaaten einen unterschiedlichen Weg. Heute aber wird Europa bewusst als Wissenschaftsraum wahrgenommen und gestaltet. Als Kirchen bejahen wir das und reagieren konstruktiv darauf; wir tun das, indem wir das Verhältnis von Kirche und Theologie und die zukünftigen Entwicklungen der theologischen Ausbildung im europäischen Rahmen bedenken. Ich bin dafür sehr dankbar und freue mich darüber, dazu einen Beitrag leisten zu können. Dass sich hier in Graz nun schon zum zweiten Mal nach 2002 Vertreterinnen und Vertreter theologischer Hochschulen und Ausbildungsstätten gemeinsam mit denjenigen treffen, die in den Kirchen Europas für die theologische Ausbildung Verantwortung tragen, ist für mich ein ermutigendes Zeichen.

Sie haben den drei Vertretern der Kirchen, die heute Vormittag sprechen sollen, ein gemeinsames Thema gestellt: Die Herausforderungen für die Theologie in einem pluralistischen Europa aus ökumenischer Perspektive. Ich habe die Aufgabe, einen evangelischen Blick auf dieses Thema zu werfen.  

Was sind die Herausforderungen für die Theologie in einem pluralistischen Europa? Lassen Sie mich darauf in vier Schritten eingehen: Ich möchte zunächst aus reformatorischer Perspektive das Selbstverständnis evangelischer Theologie darstellen, um dann in einem zweiten Schritt auf die gegenwärtigen hochschulpolitischen Herausforderungen in Europa aus der deutschen Perspektive einzugehen. Drittens werde ich auf die Möglichkeiten und Chancen von ökumenischer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Theologie und insbesondere der theologischen Ausbildung eingehen; abschließend werde ich mich zur aktuellen ökumenischen Situation und den damit verbundenen Herausforderungen äußern.

I. Das Selbstverständnis evangelischer Theologie: Theologie ist Kirchenleitung

Der Ursprung der Reformation ist die Hochschule. Martin Luther war ein Hochschullehrer. Die Reformation ist von ihrem Kern her eine Reformbewegung akademischer Theologie gewesen. Seitdem ist die wissenschaftliche Theologie eine entscheidende Reflexions- und Steuerungsinstanz evangelischer Kirchen. Die evangelische Kirche verständigt sich über ihren Auftrag und ihren Weg, über ihre Herkunft und ihre Zukunft, über die Notwendigkeit des Bewahrens wie über die Notwendigkeit des Veränderns im Medium theologischer Reflexion. Die Theologie kann diese Aufgabe nur wahrnehmen, wenn einerseits ihre Selbständigkeit geachtet, andererseits aber – auch von ihr selbst – ihre Kirchlichkeit bejaht wird.

Nach evangelischem Verständnis sind und bleiben Kirche und Theologie konstruktiv und kritisch aufeinander bezogen. Gewiss wurde schon die Gründung der mittelalterlichen Universitäten im Kontext und auf Betreiben der Kirche vollzogen. Aber die Reformation bestimmt den Ort der Universität und in ihr den Ort der Theologie neu. Mit dem kritischen Begriff der Wissenschaft, der in der reformatorischen Tradition bewusst bejaht wird, verbindet sich die Befreiung der Wissenschaft von heteronomen Ansprüchen; die Autonomie der Wissenschaft und um ihretwillen auch die Autonomie der Universität werden auch aus kirchlicher Sicht bejaht. So wie jedem Christenmenschen zugetraut und zugemutet wird, von seinem Verhältnis zu Gott selbst und in eigener Verantwortung Rechenschaft abzulegen, so wird auch die Theologie als eine selbst verantwortete Wissenschaft bejaht. Aber diese Wissenschaft hat der individuellen Gewissensbildung ebenso zu dienen wie die Gemeinschaft der Glaubenden zu fördern. Denn die Kirche wird nach reformatorischem Verständnis nicht zu einer bloßen Bildungseinrichtung, sondern sie ist nach Artikel 8 des Augsburger Bekenntnisses die Versammlung aller Gläubigen und Heiligen.

Die Kirche bleibt nach evangelischem Verständnis in besonderer Weise auf die Theologie verwiesen. Das hat in unüberbietbarer Weise der große Theologe und Kirchentheoretiker des neunzehnten Jahrhunderts, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher zum Ausdruck gebracht. Seiner Definition zufolge ist die Theologie der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist. Unter Kirchenleitung ist dabei nach Schleiermacher umfassend die praktische Tätigkeit zu verstehen, die darauf gerichtet ist, dass die Kirche als ganze ihren Auftrag wahrnimmt – nämlich den Glauben an Gott zu wecken und ihn zu loben und zu ehren. Wer also Theologie treibt, nimmt damit eine kirchenleitende Aufgabe und Verantwortung wahr. Theologie ist eine zugleich praktische, nämlich auf kirchenleitendes Handeln ausgerichtete wie auch eine kritische, nämlich alles kirchenleitende Handeln eigenständig prüfende Wissenschaft. Die kirchenleitenden Gremien auf allen Ebenen werden mit den Mitteln theologischer Reflexion auf die Angemessenheit ihres Handelns befragt. Entscheidender Maßstab dieser Prüfung ist die Frage, ob dieses Tun evangeliumsgemäß ist. Schrift und Bekenntnis sind hierfür der alleinige Maßstab.   
Wie wichtig dieser Vorgang kritischen Prüfens ist, kann ich aus eigener täglicher Erfahrung berichten. Nach meinem Verständnis als Hochschullehrer wie jetzt als Bischof einer Landeskirche und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist es die primäre Aufgabe der Theologie, für die Freiheit des Glaubens so einzutreten, dass die Vernunft beim Verstehen des Glaubens keinerlei ideologischen Vorgaben unterworfen wird. Und es ist ebenso mein Verständnis, dass es die Aufgabe der Kirchenleitung ist, für die Freiheit der Theologie so einzustehen, dass dies auch der Freiheit des Glaubens dient. 

Die konstruktive Verbindung von Theologie und Kirche ist ein Konvergenzpunkt der großen Traditionen evangelischer Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Auf Schleiermacher habe ich hingewiesen. Karl Barth hat dieser Verbindung dadurch programmatischen Ausdruck gegeben, dass er seine Dogmatik im zweiten Anlauf nicht mehr Christliche Dogmatik, sondern Kirchliche Dogmatik nannte. In seinem Gefolge hat neben anderen beispielsweise der evangelische Theologe Hans-Joachim Iwand betont, dass sich die Theologie primär am Worte Gottes zu orientieren habe. Aufgabe der Theologie sei es, in einer sich wandelnden Welt auf das Wort Gottes zu achten und es weiterzugeben. Insofern seien Theologie und Verkündigung eng aufeinander bezogen, so dass nicht das Katheder, sondern die Kanzel der Punkt ist, auf den Lehren und Lernen ausgerichtet sein sollen. Daran schloss er eine Mahnung an alle diejenigen an, die in der theologischen Lehre aktiv sind: Der theologische Lehrer muss also seinen Schüler zu einem Prediger erziehen, aus dessen Verkündigung er selbst seinen Glauben schöpfen könnte. Das ist eine Mahnung, die auch ich für weiterhin aktuell halte.

Bei allem konstruktiv-kritischen Miteinander von Theologie und Kirchenleitung ist jedoch auch nicht zu übersehen, dass beide institutionell auseinander treten. Die akademisch-wissenschaftliche Theologie und das gegliederte kirchenleitende Amt sind voneinander unterschieden, um miteinander in einen konstruktiven Dialog eintreten zu können. Gerade durch dieses institutionelle Auseinandertreten kann die Theologie zur unverzichtbaren, weil kritischen Instanz der kirchlichen Praxis werden – und sie wird es hoffentlich auch bleiben. Gerade dadurch kann umgekehrt auch die Kirchenleitung zur kritischen Instanz der Theologie werden – und es hoffentlich bleiben. Die eine Seite gibt über das Resultat ihrer theologischen Überprüfung kirchlichen Handelns Auskunft, die andere Seite gibt zu erkennen, ob und inwieweit jene theologische Überprüfung das jeweilige kirchliche Handeln tatsächlich trifft und es möglicherweise unterstützt. Dabei muss Freiheit die Grundlage dieses gegenseitigen Handelns sein, damit die unlösliche Verbundenheit von Theologie und Kirchenleitung wirklich fruchtbar werden kann. Die Theologie hat die Freiheit, ein anderes kirchliches Handeln vorzuschlagen – die Kirchenleitung hat die Freiheit, sich eine andere Theologie zu wünschen. Nur so kann die Theologie ihre kirchenleitende Aufgabe wahrnehmen, nur so kann die Kirchenleitung ihre theologische Qualität wahren.

Nachdem ich mich zum Selbstverständnis und Profil evangelischer Theologie geäußert habe, lassen Sie mich jetzt zur hochschulpolitischen Situation in Europa und zu ihren besonderen Herausforderungen für die Theologie Stellung nehmen. Ein hierfür maßgebliches Stichwort ist der Bologna-Prozess.

II. Der Bologna-Prozess und die Theologie –  Chancen und Anfragen

Unsere Konsultation fragt dezidiert auch nach den Implikationen des Bologna-Prozesses für die Theologie. Die Gremien der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) haben sich in den letzten Jahren intensiv mit diesem Themenbereich beschäftigt. Hierbei gehört es zu den guten Gepflogenheiten, dass wir in solchen Fragen einvernehmliche Lösungen mit den theologischen Fakultäten anstreben. Das ergibt sich - wie oben dargestellt - schon aus dem Selbstverständnis und der Bedeutung der wissenschaftlichen Theologie für die Kirche. Das Ergebnis dieses Beratungsprozesses ist eine gemeinsame Positionsbestimmung von evangelischer Kirche und Evangelisch-theologischem Fakultätentag, die wir in diesem Januar vorgelegt und veröffentlicht haben. 

Wir begreifen den Bologna-Prozess als eine Herausforderung und Chance, die bisherigen Reformbemühungen für das Theologiestudium weiter voranzutreiben. Wir wissen also um den Reformbedarf. Das betrifft u.a. das Bemühen, den theologischen Pfarramtsstudiengang effizienter und verbindlicher zu strukturieren. Dadurch soll eine bessere Orientierung für Studierende im Theologiestudium erreicht werden, was auch zur Verkürzung der oftmals zu langen Studienzeiten beitragen kann. Solches wird auch von studentischer Seite gewünscht. Zugleich ist es unser Anliegen, die Übergänge sowohl von der Schule zur Hochschule als auch von der Hochschule in die zweite Ausbildungsphase effektiver zu gestalten.

Zurzeit werden in den gemeinsamen Ausbildungsgremien von Kirche und Fakultäten Modulkonzepte entwickelt, die vor allem das Grundstudium betreffen. Eine Schwierigkeit besteht nun darin, wie das Erlernen der alten Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein sinnvoll in die Studieneingangsphase integriert werden kann. Denn für die reformatorischen Kirchen bleibt das angemessene Beherrschen der alten Sprachen für das Pfarramtsstudium unaufgebbar. Allerdings ist uns auch bewusst, dass immer weniger Studierende Vorkenntnisse in den alten Sprachen mitbringen, so dass verstärkt nach innovativen Modellen für den Sprachenerwerb, kombiniert mit einer ersten Einführung in den methodischen Umgang mit biblischen Texten und Quellen der Kirchengeschichte, gesucht wird.
Interessant ist, dass die Studierenden in der weitaus überwiegenden Mehrzahl Wert darauf legen, dass es weiterhin eine Zwischenprüfung am Ende des Grundstudiums gibt, denn diese helfe ihnen, das Studium besser zu strukturieren, und erleichtere auch den Wechsel des Studienorts.

Es gehört zu den wesentlichen Anliegen des Bologna-Prozesses, die Mobilität der Studierenden wie Lehrenden in Europa zu erhöhen. Leider zeigen die ersten Erfahrungen bei uns in Deutschland, dass dort, wo auf das konsekutive Bachelor-/Mastersystem umgestellt worden ist, genau dieses Ziel nicht erreicht wird. Im Gegenteil: Der Studienortwechsel wird eher erschwert. Die einzelnen Modulsysteme müssen zwar zu Recht universitätsintern entwickelt werden, aber deren Kompatibilität mit anderen Hochschulen bleibt viel zu wenig im Blick. Aus der bisherigen Erfahrung sowohl von Fachhochschulen als auch von Universitäten muss leider gesagt werden, dass die Umstellung auf das konsekutive Studiensystem, das einhergeht mit einer Modularisierung, kaum zu einer größeren Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit von Studienleistungen geführt hat. Dies muss kritisch angemerkt werden, läuft es doch dem politisch geäußerten Willen des Bologna-Prozesses zuwider. Die Einführung von Credit points, die zur Vergleichbarkeit beitragen soll, hilft nicht weiter, wenn beispielsweise bei der Festlegung von Workloads unterschiedliche Parameter zu Grunde gelegt werden. In dieser Hinsicht herrscht gegenwärtig in Deutschland eher eine große Unübersichtlichkeit. Zudem erfordert die Einführung des Modulsystems einen enorm hohen Aufwand an Organisation und Verwaltung. Nach anfänglicher Offenheit und der Bereitschaft, sich auf das neue Studiensystem einzulassen, macht sich bei vielen jetzt eher Ernüchterung breit, da sowohl Studierende als auch Lehrende in ein System gezwängt werden, das ihnen nur noch wenig Freiraum lässt. Nicht zu Unrecht ist von einer zunehmenden und zu weit gehenden Verschulung des Studiums die Rede.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass von politischer Seite allzu lang versucht worden ist, den Kirchen den Bachelor als Regelabschluss auch für das Pfarramt nahe zu legen. Was von staatlicher Seite nicht zuletzt als Mittel gedacht war, um die Studienzeiten zu verkürzen und die Hochschulen von Studierenden zu entlasten, wurde zugleich als ein zukunftsträchtiges und innovatives Studienmodell propagiert: der dreijährige berufsqualifizierende Bachelor. Dabei wurde die Einsicht vernachlässigt, dass dieses Modell nicht auf alle Berufsfelder angewandt werden kann. Meine persönliche Überzeugung ist, dass es gerade bei den klassischen Professionen – Pfarrern, Ärzten und Juristen – nicht greift. Deshalb halten wir daran fest, dass die Pfarramtsausbildung – bei allem Reformbedarf - keine Niveauabsenkung verträgt. Insofern sind evangelische wie katholische Kirche zu Recht den Wünschen der staatlichen Seite entgegen getreten und haben damit letztendlich auch Gehör gefunden. Die staatliche Seite, so hat erst vor kurzem ein Spitzengespräch der beiden großen Kirchen mit den deutschen Kultusministern ergeben, besteht nicht auf dem Bachelor als dem berufsqualifizierenden Abschluss für den Pfarrberuf. Wörtlich sagte einer der Kultusminister: Wir wollen keine Bachelor-Pastoren. Dem können wir nur aus vollem Herzen zustimmen.   

Ob bei uns in Deutschland eine Modularisierung nicht nur des Grundstudiums, sondern des gesamten Pfarramtsstudiums eingeführt wird, ist derzeit noch offen. Jedoch sind sich alle Beteiligten darin einig, einen angemessenen Freiraum zur eigenen Studiengestaltung zu erhalten. Vor allem im Hauptstudium muss die Möglichkeit zur eigenen Schwerpunktbildung weiterhin gewährleistet sein. Auch werden wir am Abschlussexamen als einem obligatorischen zusammenhängenden Prüfungsgeschehen festhalten. Zwar können bestimmte Prüfungsleistungen, etwa durch Modulprüfungen, schon im Verlauf des Studiums erbracht werden. Aber darüber hinaus bedarf es auch weiterhin einer schriftlichen wie mündlichen, zusammenhängenden Abschlussprüfung. Die Prüflinge sollen zeigen, dass sie nicht nur über theologisches Wissen verfügen, sondern dass sie theologische Zusammenhänge erfassen und formulieren können.

Wichtig ist bei allen Reformvorhaben, dass das Pfarramtsstudium auch zukünftig mit anderen Studiengängen kompatibel bleibt. Dies gilt vor allem für die Lehramtsstudiengänge, hier vor allem die religionspädagogischen, die für die theologischen Fakultäten von großer Bedeutung sind.

Eine abschließende Bewertung des Bologna-Prozesses wäre heute verfrüht. Gewiss ist es zu begrüßen, dass ein europäischer Hochschulraum entsteht. Dafür ist die wechselseitige Anerkennung von Studienabschlüssen unverzichtbar. Dass hier auch die Kirchen mit der gegenseitigen Anerkennung von theologischen Studienabschlüssen mitziehen wollen, ist zumindest für die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ein bereits klar formuliertes Ziel. Nachdem die Ordination selbst schon seit längerem wechselseitig anerkannt wird, ist nun auch die wechselseitige Anerkennung von theologischen Studienabschlüssen, die auf das evangelische Pfarramt abzielen, beabsichtigt.

Was der Bologna-Prozess jedoch nicht bewirken sollte, ist eine Absenkung des Niveaus von theologischer Ausbildung und Forschung. An dieser Stelle ist eine gesunde Skepsis durchaus angebracht. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und der Evangelisch-theologische Fakultätentag in Deutschland haben gezeigt, dass sie sich dem Anliegen des Bologna-Prozesses nicht verschließen, ihn vielmehr in seinen positiven Aspekten unterstützen und stärken wollen. Dazu gehört die Anerkennung von Studienzeiten in anderen Ländern ebenso wie eine bessere Vernetzung der Theologie mit anderen Fächern an der Hochschule. Hier gibt es durchaus bislang ungenutzte Möglichkeiten. Wir sollten verstärkt Lehrexporte für andere Fächer anbieten und nach Möglichkeit auch Kombinationsstudiengänge mit anderen Fächern entwickeln. Die Theologie ist mitunter zu defensiv auf sich selbst bezogen. Hier bietet der Bologna-Prozess durchaus Chancen, wie die Entwicklung theologischer und interreligiöser Netzwerke auf europäischer Ebene zeigt, über die Sie bei dieser Konferenz noch sprechen werden. Und damit bin ich bereits bei meinem dritten Teil angelangt, den Möglichkeiten und Chancen einer stärkeren ökumenischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Theologie und in der theologischen Ausbildung.

III. Die theologische Ausbildung im Kontext der Ökumene in Europa

In der Zielsetzung für diese Konsultation wird die Bedeutung der Konfessionalität in der theologischen Ausbildung für das ordinierte Amt herausgestrichen. Und der Dokumentation der ersten Konsultation aus dem Jahre 2002 entnehme ich, dass schon damals Einverständnis darüber erzielt wurde, - ich zitiere - dass die Ausbildung zum ordinierten Amt sowohl akademisch-wissenschaftlichen Standards entsprechen als auch im Rahmen eines konfessionell gebundenen Theologiestudiums erfolgen sollte. Wissenschaftlichkeit und Konfessionalität sind die Kernpunkte theologischer Ausbildung zum ordinierten Amt. Beides ist aus evangelischer Sicht, wie ich deutlich gemacht habe, unaufgebbar. Das heißt aber zugleich: Wir brauchen für die theologische Ausbildung die Theologie in ihren konfessionellen Ausprägungen. Eine Religionswissenschaft könnte diese Aufgabe nicht wahrnehmen. Denn die Ausbildung zum ordinierten Amt kann nicht neutral geschehen, sondern sie muss von ihrem Selbstverständnis und ihren Aufgaben her mit einem inneren Bezug zur Lehre der jeweiligen Kirche erfolgen. Deshalb unterscheiden wir in Deutschland nicht nur zwischen katholischen, orthodoxen und evangelischen Fakultäten oder Fachbereichen, sondern innerhalb der evangelischen Fakultäten wird nochmals nach der jeweiligen landeskirchlichen Zugehörigkeit ausdrücklich Bezug genommen auf das lutherische, reformierte oder unierte Bekenntnis der betreffenden Kirche. 

In Deutschland sind die theologischen Fakultäten Einrichtungen des Staates. Das rührt daher, dass sich der Staat in religiösen Dingen zur Neutralität verpflichtet weiß, gleichwohl aber beide Seiten, Kirche wie Staat, ein gemeinsames Interesse daran haben, dass die Theologie und hier insbesondere die Ausbildung zum ordinierten Amt, aber auch die religionspädagogische Lehramtsausbildung ihren Ort an der Universität haben und damit in den Diskurs der Wissenschaften einbezogen sind. Das wirkt sich auch auf die an Kirchlichen Hochschulen betriebene Forschung und Lehre aus, die gerade auf diesem Hintergrund eine positive und produktive Bedeutung hat. Die Theologie braucht den Dialog mit anderen Wissenschaften, wie umgekehrt auch die anderen Wissenschaften der Theologie bedürfen. Diese Auffassung ist von den Kirchen wie von den theologischen Fakultäten immer wieder bekräftigt worden.
Gleichwohl gibt es an den Theologischen Fakultäten durchaus Tendenzen, die evangelische Theologie in Richtung auf die Religionswissenschaft oder auch auf die Kulturwissenschaften zu öffnen. Dabei ist es nicht nur sinnvoll, sondern ausdrücklich zu begrüßen, wenn die Theologischen Fakultäten an Studiengängen mitwirken, die nicht auf Berufe innerhalb der Kirche zielen. Und auch unter dem Gesichtspunkt der Forschung ist die interdisziplinäre Kooperation mit religionswissenschaftlichen oder kulturwissenschaftlichen Fächern angezeigt. Jedoch ist darauf zu achten, dass die Theologie dabei ihr eigenes Profil behält beziehungsweise stärkt. Und ebenso ist Wert darauf zu legen, dass die Ausbildung zum ordinierten Amt und die Lehramtsausbildung unaufgebbare Kernaufgaben einer Theologischen Fakultät bilden. Überlegungen zu neuen Studiengängen, wie jüngst an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo ein Studiengang Religion und Kultur diskutiert wird, müssen unter anderem daraufhin geprüft werden, ob sie mittelbar den theologischen Vollstudiengang für die Pfarramtsausbildung gefährden könnten. Sowohl in der curricularen Darstellung als auch in der Abschlussbezeichnung muss darauf geachtet werden, dass die Eigenständigkeit des Pfarramtsstudiengangs gewahrt bleibt und dass zusätzliche Studiengänge der geschilderten Art nur ergänzend zu ihm hinzutreten. 

Hingegen muss man ausdrücklich hervorheben, dass zur Konfessionalität der theologischen Ausbildung auch ökumenische und interreligiöse Perspektiven gehören. In der Rahmenprüfungsordnung für das Erste Theologische Examen / Diplomprüfung in Evangelischer Theologie, die wir gemeinsam mit den Theologischen Fakultäten entworfen und 2002 verabschiedet haben, ist erstmalig der Nachweis über die Beschäftigung mit einer lebenden nicht-christlichen Religion vorgesehen. Das ist ein erster Schritt, der in besonderer Weise den christlich-jüdischen Dialog im Blick hat, aber ebenso für die Wahrnehmung und notwendige Kenntnis des Islam sensibilisieren soll. Ebenso muss das ökumenische Lernen im Vollzug des Theologiestudiums verstärkt werden. Der Bereich der Ökumene ist in unseren Prüfungsordnungen noch zu wenig verankert. Zwar kommt der Begriff Ökumenik in den Stoffplänen, die die Grundlage unserer Rahmenprüfungsordnung bilden, im Bereich der Dogmatik vor. Jedoch ist es bislang nicht gelungen, die Ökumenik im Verbund mit der Religions- und Missionswissenschaft als eigenes sechstes theologisches Hauptfach zu etablieren.  Zwar hat es bei der Schaffung der Stoffpläne und der Rahmenprüfungsordnung Ende der neunziger Jahre solche Bestrebungen gegeben, doch sah man sich – sowohl wegen eines Mangels an entsprechenden Lehrstühlen als auch wegen der befürchteten Konkurrenz mit den sogenannten klassischen Disziplinen der Theologie – nicht in der Lage, dieses Fach verbindlich einzuführen.

Hier kann der durch die Konsultation von 2002 angestoßene Denkprozess weiterhelfen. In den Ihnen vorliegenden Eckpunkten heißt es unter Ziffer 5: Ökumenisches Lernen ist unverzichtbar. Hierzu müssen Möglichkeiten geschaffen werden, andere christliche Konfessionen aus deren eigener Perspektive zu erleben und wahrnehmen zu können. Dies muss seinen Widerhall finden sowohl im Fächerangebot als auch in den Prüfungsordnungen. Ist es denkbar (so wird hier gefragt), verbindlich zu machen, dass mindestens  ein Semester an einer ausländischen und / oder anderskonfessionellen Fakultät studiert wird? Ich kann Überlegungen in diese Richtung nur begrüßen. Es wäre im Bereich der Ökumene und des ökumenischen Lernens viel gewonnen, wenn es gelänge, andere christliche Konfessionen nicht nur theoretisch kennen zu lernen, sondern jeweils aus der Eigenperspektive der anderen Konfession wahrzunehmen. Insofern sollte jeglicher ökumenische Austausch sowohl von Studierenden wie Lehrenden gefördert werden. Wir brauchen mehr eigenes Erfahrungswissen über die anderen christlichen Kirchen und Konfessionen, nicht zuletzt um Missverständnisse und mögliche Verzerrungen und Einseitigkeiten aufzudecken und zu beheben. 
Damit komme ich zu meinen abschließenden Überlegungen zur gegenwärtigen ökumenischen Situation. Dabei konzentriere ich mich auf einige wenige grundsätzliche Bemerkungen.

IV. Die gegenwärtige Situation in der Ökumene – eine evangelische Standortbestimmung

Vor einigen Jahren trafen sich Kirchenführer der orthodoxen, anglikanischen, römisch-katholischen und protestantischen Kirchen mit dem damaligen EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi. Als wir uns um einen runden Tisch versammelt hatten, schaute der Kommissionspräsident in die anwesenden Gesichter und meinte: Sie in Ihren Kirchen antizipieren bereits in gewisser Weise die Zukunft Europas. Denn darin, so fuhr er fort, liege eine der Hauptaufgaben, Europa eine Form von Pluralität zu geben, die darin bestehe, als eine Gemeinschaft der Verschiedenen zu leben. Und abschließend stellte er fest: Die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen in Europa ist ein Modell für diese Gemeinschaft der Verschiedenen, die wir für Europa dringend benötigen.

Ich frage mich mitunter, ob wir diesem Bild von der Gemeinschaft der Verschiedenen in der Ökumene genügend zutrauen. Neigen wir nicht vielerorts dazu, die beiden Elemente voneinander zu trennen? Auf der einen Seite laufen wir Gefahr, die Einheit der Kirchen als eine Zusammenführung oder Rückführung zu verstehen. So gesehen könnte das Ziel ökumenischer Einheit fälschlicherweise im Sinne einer Rückkehr-Ökumene begriffen  werden. Zum anderen könnte die Verschiedenheit zu leicht als etwas Unveränderliches hingenommen werden.  Ökumenische Einheit muss jedoch die Pluralität der verschiedenen Kirchen und Konfessionen in Europa positiv aufgreifen und zu nutzen verstehen. Zugleich entbindet uns die Verschiedenheit der Kirchen und Konfessionen nicht von der Verantwortung, als Christenmenschen gemeinsam Zeugnis über unseren Glauben abzulegen.

Jede Äußerung zur ökumenischen Situation muss mit einem Dank für das bislang Erreichte beginnen. Uns verbindet mehr, als uns trennt! Uns ist bewusst, wie stark das Band der Einheit schon ist: die gemeinsame Heilige Schrift der Bibel als die unaufgebbare Grundlage und Richtschnur, die großen altkirchlichen Bekenntnisse als gemeinsame regula fidei, die Taufe als sakramentales Band der Einheit und die gemeinsame Verpflichtung zu Frieden und Gerechtigkeit. Die Herausforderungen zum gemeinsamen ökumenischen Zeugnis werden in einem sich zunehmend plural entwickelnden Europa nicht schwächer, sondern stärker. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Verabschiedung der Charta Oecumenica und an das gemeinsame Bemühen der Kirchen in Europa um den Gottesbezug in der Europäischen Verfassung.

Zugleich sollten aber auch die zutage getretenen Differenzen in der Ökumene nicht verschwiegen werden. Ich habe deshalb verschiedentlich von einer Ökumene der Profile gesprochen. Dieser Terminus dient nicht der Abgrenzung, sondern der eigenen Standortbestimmung. Denn bei allem bislang Erreichten bestehen auch weiterhin erhebliche theologische und vor allem ekklesiologische Unterschiede. Zu erwähnen ist hier beispielhaft die Amtsfrage mit ihren Auswirkungen auf das Verständnis und die Praxis der Abendmahlsfeier. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Frage nach dem Zugang von Frauen zum ordinierten Amt zu.

Besondere Schwierigkeiten bereitet nach wie vor der Umgang mit dem Kirchesein ökumenischer Partner. Aus evangelischer Sicht führt es nicht weiter, wenn der Begriff der Kirche ausschließlich auf die eigene Definition bezogen wird und andere Formen des Kircheseins durch die Verwendung des Ausdrucks kirchliche Gemeinschaft abgewertet werden. Man könnte das – auch wenn Vergleiche immer schwierig sind – mit dem Vorgehen einer Autofirma vergleichen, die den Begriff des Autos auf das eigene Fabrikat beschränkt und von allen anderen sich selbst bewegenden vierrädrigen Fahrzeugen sagt, das seien nur autoähnliche Gefährte. Ich möchte betonen: Wir Protestanten verstehen uns auch als Kirche und zwar im eigentlichen, nämlich biblischen Sinne. Das wertet andere Verständnisse von Kirche nicht ab, sondern ist vielmehr ein Zeichen der Pluralität der Zugänge zum christlichen Glauben, die Romano Prodi als wegweisend für Europa ansieht. Wir sollten die bleibenden Unterschiede uns nicht gegenseitig vorwerfen oder der Versuchung erliegen, durch Abgrenzung und Negation des anderen das eigene Profil zu schärfen. Das wäre eine Profilierungsfalle: sich zu Lasten und auf Kosten des anderen zu profilieren. Vielmehr sollten wir in gegenseitigem Respekt das ökumenische Gespräch suchen und die Differenzen auszuhalten lernen.

Nunmehr jedoch von einer Differenzökumene im Unterschied zu einer Konsensökumene zu reden, wäre falsch und ein Rückschritt. Vielmehr stellt sich eine Ökumene der Profile der Frage, wie eine Ökumene gelingen kann, in die alle christlichen Kirchen sowohl ihre Gemeinsamkeiten als auch ihre Unterschiede sinnvoll und glaubwürdig einbringen können. Es ist hierbei derzeit offen, ob wir uns an einem Modell zukünftiger Einheit ausrichten, das die theologischen und ekklesiologischen Differenzen hinter sich lässt, oder ob wir die künftige Einheit, um die wir beten, als Gemeinschaft der Verschiedenen deuten. Es mag gute Gründe dafür geben, diese Frage nach dem leitenden Modell der Einheit offen zu lassen. Doch auch dann muss man einräumen, dass es einen Weg zu dieser Einheit nur geben kann, wenn wir uns in unserer Verschiedenheit wechselseitig als Kirchen achten. Einen Weg zu größerer Einheit an einer solchen wechselseitigen Achtung vorbei vermag ich mir hingegen nicht vorzustellen. 

Daher unterstütze ich das Anliegen dieser Konsultation, zu mehr Austausch und ökumenischer Verständigung beizutragen. Den anderen in seiner eigenen Frömmigkeit und Religiosität wahrzunehmen, trägt nicht nur zur  Wissensvermehrung bei, sondern dient auch der eigenen Standortbestimmung. Gerade auf diesem Weg kann es gelingen, falsche Abgrenzungen zu überwinden und das gemeinsame Zeugnis für den christlichen Glauben zu stärken.