"Integration – Zusammenleben – Zukunft gestalten: Perspektiven in Kirche und Gesellschaft" - Vortrag in der Hessischen Landesvertretung in Berlin

Wolfgang Huber

Seit Anfang der 60er Jahre ziehen Menschen aus dem Ausland zu uns. Waren es zunächst vor allem Arbeiter, die angeworben wurden, kamen in den folgenden Jahren vermehrt die Familienangehörigen dieser Gastarbeiter zu uns. Diese hatten sich nämlich bereits entschlossen, tatsächlich ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland zu verlegen. Deutschland stand vor einer neuen Integrationsaufgabe. Diese schloss sich direkt an eine Integrationsleistung an, die die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg prägte. In der Bundesrepublik und – in weit geringerem Maß – in der DDR fanden in jener Zeit ungefähr 12,3 Millionen Heimatvertriebene mit deutscher Staatsangehörigkeit Aufnahme. Ihnen allen musste ein neuer Anfang ermöglicht und die Lasten, die sie durch den Verlust der Heimat erlitten hatten, mussten gemeinsam getragen werden. Die beiden großen Kirchen hatten an dieser Integrationsarbeit einen erheblichen Anteil. Ihnen blieb zugleich die Aufgabe, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Erfahrung der Vertreibung der notwendigen Versöhnung Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn nicht im Wege stand. Daran haben wir uns im vergangenen Jahr erinnert, als die Veröffentlichung der Ostdenkschrift der EKD und der Briefwechsel zwischen den katholischen Bischöfen in Polen und Deutschland vierzig Jahre zurücklag.

Man muss diese erste Integrationsleistung nach 1945 im Blick behalten, wenn man die Aufgaben angemessen würdigen will, die sich an diese Aufgabe anschloss. Die Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern nahm in den sechziger Jahren einen so stürmischen Verlauf, dass bereits im Jahr 1973 ein Anwerbestopp verhängt wurde. In den folgenden Jahrzehnten wandelte sich die Einstellung zu den Gastarbeitern“, deren einmillionster, ein Portugiese, im Jahr 1964 noch mit großer Freude und Sympathie begrüßt worden war. Nun wurde die Schuld für die sich anbahnende Krise des Arbeitsmarkts und für die wachsenden Belastungen des Sozialstaats in einer oft einseitigen, sich immer wieder auch mit Fremdenfeindlichkeit verbindenden Form den ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angelastet. Zugleich wurde Deutschland zum Zielland für Menschen, die vor Verfolgung flohen. Revolutionen und Bürgerkriege, Menschenrechtsverletzungen gegenüber Minderheiten und wirtschaftliche Notsituationen waren Gründe, deretwegen Menschen bei uns Zuflucht suchten. Die Herausforderungen durch die deutsche Einheit und das Ende der europäischen Spaltung traten hinzu. Es folgten Spätaussiedler und seit Anfang der neunziger Jahre auf Grund einer bilateralen Vereinbarung Juden aus der ehemaligen Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge. Einschränkungen des Asylrechts waren ein heftig umstrittenes Instrument, um auf die zunehmende Zahl von Zuwanderern zu reagieren und den Spielraum zur Aufnahme von Spätaussiedlern und Kontingentflüchtlingen zu bewahren.

Das Fazit, das der Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration im Jahre 2004 aus dieser komplexen Entwicklung zog, lautete folgendermaßen: Die deutsche Rechtsordnung ist zwar nicht darauf ausgerichtet, Angehörige anderer Staaten gezielt anzuwerben und einzubürgern. Sie hat Einwanderung dennoch zugelassen und faktisch ermöglicht. Diese Entwicklung stellte und stellt die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft vor große Herausforderungen – und dies umso mehr, als diese Aufgabe sich mit einer Reihe anderer großer Aufgaben verbindet. Ich nenne als herausragende Beispiele den Umbau unserer Sozialsysteme angesichts des demographischen Wandels, das Ja zum Aufwachsen von Kindern in unserer Gesellschaft und eine aktive Bildungspolitik sowie die Überwindung der Krise auf dem Arbeitsmarkt und die Bewältigung einer Situation, die wesentlich durch Langzeitarbeitslosigkeit ausgelöst wird und jene Armut bewirkt, die in diesen Tagen unter dem Thema der „Unterschicht“ thematisiert wird. Aber zugleich muss festgehalten werden: Deutschland hat von der Zuwanderung in einem hohen Maße profitiert. Deutschland ist demnach ein Einwanderungsland – auch wenn es bis heute nicht von allen als ein solches bezeichnet wird.

Die Bestätigung gewissermaßen von amtlicher Seite liegt jedoch vor: Im Juni diesen Jahres konstatierte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, es bestünden keine Zweifel an der Tatsache, dass Deutschland ein Zuwanderungsland sei. In Deutschland leben 15,3 Millionen Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund – das sind über ein Fünftel der Bevölkerung.

Einwanderung und Zuwanderung bedeuten, dass in Deutschland Menschen unterschiedlicher Herkunft, Tradition und Religion zusammenleben. Das hat zugleich zur Folge, dass sich verschiedene gesellschaftliche Wertegemeinschaften oder Communities gebildet haben. In vielen Beiträgen zu der Integrationsdebatte, die unser Land erfasst hat, werden sie als Parallelgesellschaften beschrieben. Der Begriff verschiebt allerdings ins Problematische, was an einer solchen Entwicklung durchaus legitim sein kann. Das Gemeinsame Wort der Kirchen „… Und der Fremdling, der vor unseren Toren ist“ aus dem Jahre 1997 sagt in diesem Zusammenhang: „Zuwanderer haben ein Recht auf Wahrung, Pflege und Fortentwicklung ihrer kulturellen Identität, sofern deren Entwicklung mit den Grundwerten der Bundesrepublik vereinbar ist und sie auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung handeln“. Die Frage bedarf der Klärung, wann wir von „Parallelgesellschaften“ reden wollen. Ich schlage vor, das dort nicht zu tun, wo die Pflege der eigenen Herkunftskultur sich mit der Bejahung der in Deutschland geltenden gesellschaftlichen Grundwerte und der Bereitschaft, die deutsche Sprache zu lernen verbindet. Dagegen ist von Parallelgesellschaften dort zu reden, so im Blick auf Sprache, Wertorientierung und Rechtsordnung eine Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft dominiert. Nicht die Pflege des Eigenen, sondern die Abgrenzung von den anderen ist das Problem von Parallelgesellschaften. Im Blick auf deren Entwicklung muss Klarheit darüber hergestellt werden, welche Werte und welches Verständnis des Zusammenlebens das Wertesystem und die Rechtsvorstellungen in Deutschland in einer Weise in Frage stellen, die nicht mehr hinnehmbar ist. Das zu klären, ist aber nur möglich, wenn sich die Mehrheitsgesellschaft selbst darüber im Klaren ist, welche Werte ihr selbst wichtig sind und welche Grundvorstellungen des Zusammenlebens für alle verbindlich sind. Oder anders gesagt: Wer keine Vorstellung davon hat, welche Werte ihm selbst wichtig ist, wird auch keinen anderen zum Respekt vor diesen Werten veranlassen können. Ich sage das in einer Stadt, in der man gerade im Begriff steht, bis zu zehn Sonntagen im Jahr, darunter alle Adventssonntage zu verkaufsoffenen Sonntagen zu erklären. Vermutlich hat dabei niemand über die Konsequenzen nachgedacht, wenn der Vierte Advent und der Heilige Abend auf denselben Tag fallen. Dann wird man die Geschäfte auch am Heiligen Abend bis 20 Uhr öffnen können.

Doch neben dem Bewusstsein, was für unsere Gesellschaft an besonderen Prägungen wichtig ist – das Wort „Leitkultur“ ist dafür wieder in Gebrauch gekommen – brauchen wir auch eine Verständigung darüber, welche allgemeinen Grundsätze auch in Teilbereichen unserer Gesellschaft nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Damit meine ich die universalen Prinzipien, die sich in der neuzeitlichen Entwicklung vor allem in westlichen Gesellschaften entwickelt haben und die wir um der Würde des Menschen willen für unverzichtbar halten. Es sind diejenigen Prinzipien, die sich um die Gedanken der Menschenwürde und der Menschenrechte herum gruppieren. Auch in gesellschaftlichen Teilbereichen dürfen die Rechte und Pflichten des Einzelnen nicht außer Kraft gesetzt werden, wie sie sich in einem Jahrhunderte währenden Prozess, der maßgeblich durch die Reformation und durch die Aufklärung geprägt war, durchgesetzt haben. Auch von Teilbereichen der Gesellschaft her darf nicht in Frage gestellt werden, dass der Staat in gleicher Weise eine Heimstatt aller Bürgerinnen und Bürger ist. In keinem gesellschaftlichen Bereich kann akzeptiert werden, dass Menschen in ihrer Würde missachtet oder an Leib und Leben gefährdet werden. So weit Gruppen in unserer Gesellschaft Vorstellungen nähren und vertreten, welche den Grundwerten unserer Verfassung entgegenstehen, kann das nicht hingenommen werden. Das gilt übrigens nicht ausschließlich für Gruppierungen nicht-deutscher Herkunft, sondern ebenfalls für Deutsche, deren politische Überzeugung und deren praktisches Handeln gegen Verfassung und Rechtsordnung verstoßen. Vor dem Erstarken rechtsextremen Gedankenguts beispielsweise hat die evangelische Kirche immer wieder gewarnt.

Als Sinnbild für gescheiterte Integration und als ein Auswuchs von Parallelgesellschaften, dem es unmissverständlich entgegen zu treten gilt, mag ein Ereignis dienen, das uns alle schockiert und in der Folge zum Nachdenken gezwungen hat: Der Mord an Hatün Sürücü im Februar 2005. Die junge Berlinerin mit kurdischem Familienhintergrund hatte sich aus einer erzwungenen Ehe befreit – dafür musste sie mit dem Leben bezahlen. Ihr Bruder erschoss sie auf offener Straße an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Der viel beachtete Gerichtsprozess, in dem drei ihrer Brüder für die Tat angeklagt wurden, endete im April 2006 mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen für die beiden älteren Brüder. Der Jüngste gestand die Tat und erhielt eine Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten.

Die unerträgliche aber in vielen Medien als alltäglich angenommene Tat fordert die Gesellschaft heraus. Es hätte nicht Hatun Sürücü sein müssen, sondern auch eine der anderen Frauen, die ermordet wurden, weil sie „die Familienehre beschmutzt haben“. Von fünf Fällen ähnlichen Zuschnitts berichteten die Medien im ersten Halbjahr 2005 allein in Berlin.

Manche sprachen nach dem Urteil von einem „Ehrenmord“ in der Tradition bestimmter islamisch geprägter Regionen in der Türkei. Doch dieses Etikett gibt den Morden an jungen Frauen eine moralisch wertende Begründung, die diese Gewalttaten nicht verdienen: Egal welcher Religion ein Mensch angehören mag, egal in welchem Glauben er lebt – ein solcher kaltblütiger Mord hat mit Ehre nichts zu tun. Dies haben nach der Tat 2005 und dem Urteilsspruch 2006 nicht nur Christen und westlich-geprägte Politiker in der nötigen Deutlichkeit gesagt, sondern auch – und das begrüße ich ausdrücklich – islamische Verbände in Deutschland. Eine Debatte um die Benennung dieser Verbrechen wird übrigens auch in der Türkei geführt: Die APK wehrt sich ebenfalls dagegen, die grausamen Morde durch die Bezeichnung als „Ehrenmorde“ nachvollziehbar zu machen.

Wie die Morde aus falsch verstandenen Ehrvorstellungen zählt ebenfalls das Phänomen der Zwangsheirat zu den zu bekämpfenden Auswüchsen der Parallelgesellschaften. Zwangsverheiratungen sind Menschenrechtsverletzungen, die in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht hingenommen werden können. Frauen – denn diese sind nach allen Erkenntnissen über das Phänomen Zwangsehen besonders betroffen – werden ihrer Selbstbestimmung beraubt und nicht selten zu modernen Sklavinnen der Familie des Mannes gemacht. Dem Staat kommt die Aufgabe zu, Zwangsverheiratungen zu verhindern. Wir müssen dankbar sein, dass das Wissen um das Problem der Zwangsverheiratungen durch die couragierten Zeugnisse von Anwältinnen wie Seyran Ates oder Autorinnen wie Necla Keleck über den Kreis der Fachleute hinaus einer breiten Öffentlichkeit bekannt und bewusst geworden sind. Nötig sind jedoch auch umfassende und repräsentative Studien, die über die Ursachen und das Ausmaß misslingender Integration informieren. Ist die Ausbreitung erst fassbar, müssen wirkungsvolle Strategien konzipiert und umgesetzt werden. Die Bekämpfung dieses Phänomens liegt der Kirche sehr am Herzen. Ich begrüße mit Nachdruck, dass auch der Staat, Aktivitäten in diesem Bereich entwickelt und somit seinen Verpflichtungen zum Schutz der Opfer nachkommt.

Konkrete Maßnahmen gegen Zwangsverheiratungen scheinen sich staatlicherseits zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings auf Änderungen im Zuwanderungsgesetz zu konzentrieren: In der Intention, Zwangsverheiratung in Deutschland Einhalt zu gebieten, soll der Nachzug von ausländischen Ehepartnern zu Deutschen oder Ausländern begrenzt werden. Avisiert wurde im Lauf des Jahres eine Anhebung des Nachzugsalters auf 21 Jahre. Außerdem ist vorgesehen, dass Nachzugswillige vor der Einreise die Kenntnis der deutschen Sprache nachweisen müssen. Die Evangelische Kirche in Deutschland bezweifelt genauso wie die Katholische Kirche, ob die diskutierten Maßnahmen zu einem Erfolg führen. Im Heimatland kann eine Zwangsehe unabhängig von solchen Vorschlägen geschlossen werden – die Frau muss dann nur einige Jahre warten, bis ihre Einreise nach Deutschland möglich ist. Wenn sie schon in Deutschland lebt, kann die Regelung gegen eine zwangsweise Verheiratung nichts ausrichten. Und soll eine Frau über 21 Jahre gegen ihren Willen verheiratet werden, hilft die Regelung auch nicht weiter. Größere Auswirkungen auf den Nachzug von Ehepartnern wird insbesondere das zweite Erfordernis haben, nämlich schon vor der Einreise Deutschkenntnisse vorzuweisen. In weiten Teilen der Welt existieren keine Zugangsmöglichkeiten zu Deutschkursen oder es fehlt den Einreisewilligen an finanziellen Mitteln, Kurse zu besuchen. Erwirbt der Nachzugswillige jedoch keine Deutschkenntnisse, ist er dauerhaft von einer Nachzugsmöglichkeit ausgeschlossen. Statt Zwangsehen wirksam zu bekämpfen, gefährden die Maßnahmen somit den grundrechtlich verbrieften Schutz von Ehe und Familie. Denn sie gelten nicht nur für zwangsverheiratete Eheleute, sondern auch für freiwillig geschlossene Ehen.

Die beiden großen Kirchen vermissen außerdem Regelungen, die betroffenen Frauen Ausstiegschancen aus den Zwangsehen bieten. Das könnte einerseits durch die Stärkung der Wiederkehrrechte geschehen. Wenn eine junge Frau von ihren Verwandten ins Ausland geschickt wird, um dort verheiratet zu werden – ein Schicksal, dass beispielsweise Hatun Sürücü ereilte -, verliert sie nach einer Abwesenheit von sechs Monaten das Recht, wieder nach Deutschland zurück zu kehren. Eine Verlängerung dieser Frist wird bei der Novellierung des Zuwanderungsgesetzes nicht diskutiert. Stattdessen soll das eigenständige Aufenthaltsrecht von zwangsverheirateten Frauen eingeschränkt werden. Nach geltendem Recht können Frauen in einer Zwangslage nach zwei Jahren Ehe – unabhängig vom Weiterbestehen der ehelichen Gemeinschaft – in Deutschland bleiben. Diese Zeitspanne soll nun von zwei auf drei Jahre angehoben werden.

Neben den konkreten rechtlichen Änderungen setzen die Kirchen auf Information und Dialog. Eingeschränkten Frauenrechten und den beschriebenen unerträglichen Menschenrechtsverletzungen kann nur dann wirksam begegnet werden, wenn die betroffenen Frauen über ihre Rechte informiert sind. Das könnte zum Beispiel in den Integrationskursen erfolgen, die neu zugewanderte Frauen besuchen. Darüber hinaus muss aber mit Vertretern der Zuwanderer in einen Dialog über diese Themen eingetreten und Verbündete aus dem Kreise der Migranten gesucht werden. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat mit ihren jährlich stattfindenden Gesprächen mit Vertretern muslimischer Verbände in Deutschland einen Anfang gemacht. Aus dem Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin und den Islamgesprächen des Bundesinnenministers können sich wichtige Anstöße ergeben, wenn die Gespräche fortgeführt werden und sie zu einem ernsten und offenen Austausch führen. Ebenso wichtig erscheint mir ein solcher Austausch auf lokaler und kommunaler Ebene; dass man sich wechselseitig besucht, reicht längst nicht mehr zu. Es muss zwischen denen, die seit Generationen in Deutschland leben, und denen, deren Eltern und Großeltern nach Deutschland gekommen sind, zu einer Verständigung über die Grundlagen eines friedlichen Zusammenlebens kommen.

Integration ist nicht nur ein wechselseitiger, sondern auch ein kontinuierlicher Prozess, da sowohl Minderheiten, als auch Mehrheiten einem gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Angesichts der Schwierigkeiten, die wir bezeugen, ist Integration eine Schlüsselaufgabe der heutigen Zeit. Dass dies von der Bundsregierung anerkannt wird und Initiativen ergriffen werden, ist wichtig und richtig.

Für die evangelische Kirche ist das Thema Integration nicht erst in den letzten Jahren in den Fokus geraten. Vor dem Hintergrund ihres eindeutigen biblischen Auftrages zugunsten von Fremden haben sich die Kirchen und ihre Hilfsorganisationen schon frühzeitig den Nöten und Problemen zugewanderter Menschen angenommen. Migration und Fremdheit gehören zu den Grunderfahrungen des Glaubens. Kirche existiert darüber hinaus als weltweite Gemeinschaft in ethnischer, konfessioneller und kultureller Vielgestaltigkeit. Vom kirchlichen Leitbild für Integration – der Einheit in Vielfalt – lässt sich für die politische Debatte um Integration manches lernen.

Für gelingende Integration hat das Erlernen der deutschen Sprache herausragende Bedeutung. Dass dem Erwerb der deutschen Sprache lange Zeit nicht das nötige Gewicht zuteil wurde, erweist sich als ein schweres Versäumnis. Alle Initiativen, die die Chancen gerade für Kinder und Jugendliche mehren, sich in der deutschen Sprache selbstverständlich ausdrücken zu können, sind uneingeschränkt zu begrüßen. Aber die Aufgabe der Integration geht darüber hinaus. Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur gelingen, wenn den Zugewanderten reale Teilhabechancen eröffnet werden – das setzt neben einem Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt einen gesicherten Status und gesetzlich verankerte Rechte in Deutschland voraus.

Lassen Sie mich anhand von zwei konkreten Beispielen erläutern, was dies nach Ansicht der EKD bedeuten muss:

Seit Anfang des Jahres ist die Reform des Staatsbürgerrechts wieder in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Auch das Bundesland Hessen hat neben Sachsen und Baden-Württemberg durch die Vorlage eines Einbürgerungstests für Aufsehen gesorgt. Mit Hilfe dieses Tests soll das Loyalitätsbekenntnis von Einbürgerungswilligen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung unserer Verfassung überprüft werden. Auf hohem Niveau sollen Einbürgerungswillige nachweisen, sich in deutscher Geschichte, deutscher Kultur und der Rechtsordnung auszukennen. Das habe ich in der Vergangenheit als nicht sachgerecht problematisiert. Im Mai hat sich die Innenministerkonferenz des Themas angenommen – auf dem nächsten Treffen im November will sie erneut darüber debattieren. Die beiden großen Kirchen haben sich schon 1997 für großzügigere Einbürgerungsmöglichkeiten ausgesprochen. Ausschlaggebend – so das Gemeinsame Wort damals – seien weniger die rechtstechnischen Mittel als das politische Ziel und die Bereitschaft, Einbürgerungsbegehren auch als Bereicherung für das Staatsvolk zu begreifen und zu unterstützen. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, das 2000 in Kraft trat, stellte nach Einschätzung der Evangelischen Kirche in Deutschland zwar einen wichtigen Schritt auf dem Weg einer verbesserten Integration dar. Die Erwartungen, die mit dem Gesetz verbunden waren, haben sich allerdings nicht erfüllt. Tatsächlich erfolgte im Jahr 2000 zunächst ein Anstieg der Einbürgerungen um 30 % gegenüber dem Vorjahr. Seitdem sind die Zahlen jedoch kontinuierlich zurückgegangen. Die nun anstehenden Veränderungen des Staatsangehörigkeitsrechtes beobachtet die EKD mit größter Aufmerksamkeit. Einen Einbürgerungskurs, der das Wissen der Einbürgerungswilligen vermehrt und damit auch zu einem tieferen Verständnis und größerer Akzeptanz der Werte unserer Verfassung beiträgt, bejaht die Kirche ausdrücklich. Auch liegt uns die Bundeseinheitlichkeit eines solchen Verfahrens am Herzen: bedeutet es doch, dass alle Einbürgerungswilligen die gleichen Chancen erhalten, tatsächlich Deutsche zu werden. Unklar ist zum gegebenen Zeitpunkt allerdings, ob die einzelnen Bundesländer trotz eines einheitlichen Vorschlages für einen Test nicht an ihren eigenen Überprüfungsmaßnahmen festhalten möchten. Stellt sich das geplante Verfahren lediglich als eine weitere Hürde dar, ist die Signalwirkung bei Menschen mit Migrationshintergrund zu überdenken. Der geplante Einbürgerungskurs ist allerdings nicht die einzige avisierte Veränderung im Staatsangehörigkeitsrecht – geplant sind weitere Kriterien, die die Voraussetzung der Einbürgerung anheben und somit Einbürgerungen erschweren. Ein weiteres Sinken der Einbürgerungszahlen kann aber schon aus demokratietheoretischen Überlegungen für Deutschland nicht von Interesse sein.

Zweites Beispiel. Auf der nächsten IMK wird nicht nur über das Staatsangehörigkeitsrecht debattiert werden: Die Innenminister werden wohl auch eine Entscheidung über das Schicksal der rund 192.000 Menschen treffen, die hier mit einer Duldung leben. Eine Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern stellt nur eine Bescheinigung der Ausländerbehörde dar, dass die Abschiebung des Betroffenen für ein oder zwei Monate ausgesetzt ist. Nach Ablauf dieses Zeitraumes muss der Ausländer erneut bei der Ausländerbehörde vorsprechen, um die Duldung zu verlängern – so kommt es zum Phänomen der Kettenduldungen. Als Geduldete haben die betroffenen Menschen keinen oder einen nur sehr eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt; Jugendlichen ist es verwehrt, eine Ausbildung zu beginnen oder ein Studium aufzunehmen. Der Aufenthalt dieser Menschen ist im hohen Maße unsicher – bei jedem Vorsprechen bei der Ausländerbehörde muss mit der Ankündigung der Abschiebung gerechnet werden – und ohne Perspektive. Viele der Betroffenen leben schon seit über 10 Jahren in Deutschland – viele der Kinder sind hier geboren.

Die Evangelische Kirche hat sich bei der Vorbereitung des Zuwanderungsgesetzes nachdrücklich für eine Veränderung dieser Situation eingesetzt. Tatsächlich wurden neue humanitäre Aufenthaltsrechte aufgenommen, die allerdings – das hat der Evaluierungsprozess des Bundesinnenministeriums im Frühjahr diesen Jahres gezeigt – nicht in der intendierten Weise gegriffen haben. Die EKD führt das vornehmlich auf die restriktive Handhabe einiger Bundesländer zurück. In Hessen scheitert eine großzügige Auslegung der betreffenden Regelungen, wie es scheint, an einer Erlasslage, die die meisten Duldungsinhaber von vornherein ausschließt.

Nun ist es an der Zeit, eine Lösung zu finden. Die Evangelische Kirche in Deutschland setzt sich dafür ein, dass die Kriterien für einen Aufenthalt so ausgestaltet sein müssen, dass sie für die Betroffenen faktisch erreichbar sind.

Das gilt zu allererst einmal für die von allen Landesinnenministerien aufgestellte Forderung, der Lebensunterhalt der Betroffenen müsse aus eigener Kraft gesichert sein. Knüpft die Bleiberechtsregelung die Erteilung eines Aufenthaltserlaubnis an den Nachweis der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung zu einem bestimmten Stichtag, ist – eingedenk des oben geschilderten eingeschränkten Zugangs der Geduldeten zum Arbeitsmarkt – davon auszugehen, dass lediglich ein Bruchteil der Betroffenen von dieser Regelung profitieren kann. Einzig einige glückliche Duldungsinhaber in Baden-Württemberg könnten diese Voraussetzung erfüllen, da sie aufgrund der Arbeitsmarktlage Sonderarbeitsgenehmigungen erhalten haben.

Einen großen Fortschritt in der Diskussion stellte da der hessische Vorschlag „Eckpunkte für eine Altfallregelung“ dar, der der IMK im Dezember 2005 zur Entscheidung vorlag. Dieser sah das Instrument einer „Schnupperaufenthaltserlaubnis“ vor. Danach sollen auch Menschen, die ihren Lebensunterhalt noch nicht selbständig sichern können, zunächst eine Aufenthaltserlaubnis mit unbeschränktem Arbeitsmarktzugang erhalten. Sie müssen dann innerhalb eines gewissen Zeitraumes eine Beschäftigung nachweisen. Das Hessische Ministerium des Inneren und für Sport macht die Erteilung einer Schnupperaufenthaltserlaubnis in seinem Vorschlag allerdings davon abhängig, ob der betreffende Ausländer nachweisen kann, dass sich der Geduldete in der Vergangenheit um Arbeit bemüht hatte und diese Bemühungen jedoch an dem Verhalten der Behörden scheiterten.

Mir erscheint ein solcher Nachweis weder praktikabel noch gerecht. Es müsste zunächst geklärt wären, welche Bemühungen des Ausländers innerhalb welchen Zeitraumes die Erwartungen erfüllt. Dazu kommt die Schwierigkeit, einen Nachweises für eine Handlung zu erbringen, die unter Umständen zehn Jahre zurück liegt. Problematisch ist außerdem, dass sich Geduldete in einigen Regionen Deutschlands – vorwiegend im Osten – angesichts der aussichtslosen Arbeitsmarktsituation und in Anbetracht des Nachrangigkeitsprinzips gar nicht erst um einen Arbeitsplatz bemüht haben. Diese Menschen dürfen nicht benachteiligt werden.

Darüber hinaus kursieren Vorschläge, die in der Probephase keine Aufenthaltserlaubnis erteilen wollen, sondern lediglich die Duldung - mit einem unbeschränkten Arbeitsmarktzugang versehen – um ein Jahr verlängern möchten. Erneut würde dadurch den Betroffenen der lange ersehnte Status verwehrt. Außerdem befürchte ich, dass potentielle Arbeitsgeber sich von dem offensichtlich vorläufigen Aufenthaltsstatus abgeschreckt fühlen könnten. Es zeichnen sich darüber hinaus rechtliche Probleme ab: Eine solche – in der Politik als „Duldung de Luxe“ bezeichnete – Bescheinigung setzt die Änderung der Beschäftigungsverfahrensverordnung voraus. Und dagegen erhebt das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales Einwände. Weitere Probleme warten in diesem Zusammenhang, die ich jetzt nur noch kursorisch ansprechen kann.

Ich möchte außerdem betonen, dass eine Altfallregelung, die nur auf Familien mit schulpflichtigen Kindern abzielt, Sinn und Zweck einer Bleiberechtsregelung nicht entspricht. Die Regelung soll Ausländern, die sich in Deutschland integriert haben, aus humanitären Beweggründen eine Aufenthaltsperspektive bieten. Das muss gegebenenfalls auch kinderlose Ehepaare und Alleinstehende einschließen. Minderjährige Kinder können durch die Einbindung in Schule und einen etwaigen deutschen Freundeskreis die Integration der ganzen Familie befördern. Das lässt jedoch keinen Umkehrschluss dergestalt zu, dass Alleinstehende oder kinderlose Ehepartner bzw. Ehepaare mit Kindern im Kindergarten- oder Erwachsenenalter nicht in Deutschland integriert sind.

Darüber hinaus halten wir Sonderregeln für Unbegleitete Minderjährige für angezeigt , die nicht den gleichen Bedingungen wie erwachsene Alleinstehende unterliegen dürfen, sowie alte und kranke Personen. Die Anforderung der Vorlage einer Verpflichtungserklärung gemäß § 68 AufenthG ist in Anbetracht der Kosten, die auf Familienangehörige oder Sponsoren zukommen, nicht realistisch.

Unter den kranken Personen sollten traumatisierten Personen besondere Aufmerksamkeit zu teil werden. Die EKD befürwortet für diese Gruppe die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ohne Mindestaufenthaltsdauer, damit der Heilungsprozess nicht durch weitere psychische Belastungen behindert wird. Das betrifft insbesondere Ausländer, die in ihren Herkunftsländern Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren und bei denen laut fachärztlichen Gutachten bei einer Rückführung eine Retraumatisierung zu erwarten ist bzw. deren therapeutische Betreuung im Herkunftsland nicht in ausreichendem Maße gesichert ist.

Eine besondere Rolle werden auch die Ausschlussgründe von der Altfallregelung spielen: Nur wenn sie eine „Öffnungsklausel“ enthalten, also eine Ausnahmeregelung, die Einzelfallgerechtigkeit ermöglicht, kann besonderen Konstellationen Rechnung getragen werden. Das halten wir für außerordentlich wichtig.

Mit großer Sorge nehme ich die Pläne wahr, ganze Familien von einer Altfallregelung auszuschließen, weil ein Elternteil in der Vergangenheit falsche Angaben in seinem Asylverfahren gemacht hat oder seinen Mitwirkungspflichtungen beispielsweise bei der Passbeschaffung nicht nachgekommen ist. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass viele Staaten, die kein Interesse an der Rückkehr von Bürgerkriegsflüchtlingen oder Angehörigen von Minderheiten haben, die Ausstellung von Papieren verweigern. Andere Botschaften fordern hohe Bestechungssummen. In anderen Fällen sind Papiere wie Geburtsurkunden auf der Flucht verloren gegangen.

Darüber hinaus scheint es mir ungerecht und sachfremd, Kinder für das frühere Verhalten ihrer Eltern in sippenhaftartige Verantwortung zu nehmen. In diesen Fällen ist nach Ansicht der evangelischen und der katholischen Kirche ein Fehlverhalten der Eltern in Kauf zu nehmen und der ganzen Familie ein Aufenthaltsrecht zu gewähren.

Die Lage der Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus hat uns in den letzten Jahren intensiv beschäftigt. Es handelt sich um eine überschaubare Gruppe. Eben deshalb sind wir davon überzeugt, dass eine humanitär befriedigende Lösung gelingen muss, die zugleich den eigenen Interessen unseres Landes durchaus entspricht. Im Lauf der Jahre hat sich dieses Thema zu einem Lackmustest für die Frage entwickelt, wie die Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft einzuschätzen ist; denn an der Integrationsbereitschaft gerade dieser Personengruppe gibt es, aufs Ganze gesehen, gerade keinen Zweifel. Bei anderen Gruppen mag man das anders sehen. Aber insgesamt gilt: Gewiss müssen wir beim Thema Zuwanderung und Integration die Frage danach ernst nehmen, zu welchen Integrationsleistungen unser Land im Stande ist und ob diejenigen, die zuwandern, zur Integratiohn auch bereit sind. Aber unter dieser Voraussetzung müssen wir auch wissen. Angesichts der Zuwanderung, die schon längst vollzogen wurde, haben wir zur Integration keine Alternative. Das erfordert von allen Seiten große Anstrengungen. Dabei muss uns auch bewusst sein: Nur im Gespräch über die tragende Werte unseres Landes können Einheimische und Zuwanderer gemeinsam ihre Zukunft gestalten.