"Bodelschwingh und die Mission" - Festvortrag zum 175. Geburtstag Friedrich von Bodelschwinghs beim Symposium 100 Jahre Mission in Bethel

Wolfgang Huber

I.

Bodelschwingh und die Mission – mit diesen beiden Stichworten ist mir heute ein umfassendes Thema aufgegeben. Ich möchte mich ihm in zwei Schritten annähern, wohl wissend, dass auch am Ende dieser beiden Schritte noch einige Meilen zu gehen wären. Dazu haben Sie, so weit Sie an dem dieser Thematik gewidmeten Symposion teilnehmen, in dessen weiterem Fortgang noch reichlich Gelegenheit. Mich interessiert vor allem die Frage, wie das Thema „Bodelschwingh und die Mission“ mit dem anderen Thema zusammenhängt, an das man bei dem Namen dieses großen Mannes viel schneller denkt – nämlich dem Thema „Bodelschwingh und die Diakonie“.

Gewiss werden wir heute mit dem Begriff der Mission differenziert umgehen und deshalb Bodelschwinghs missionarischem Engagement bei all seiner Eindrücklichkeit doch auch mit einem kritischen Vorbehalt begegnen. Dazu ist bereits manches geforscht und gesagt worden. Nachdem bereits drei Bände mit Aufsätzen unter dem Titel Bethels Mission vorliegen, hieße es Eulen nach Athen zu tragen, wenn ich mich an dieser Stelle primär einer historischen Fragestellung widmete. Mir geht es vielmehr darum, von einem aktuellen Blick auf ein heute nötiges Verständnis von Mission auszugehen; von hier aus will ich auf den Jubilar diesen Jahres in Bethel, auf Friedrich von Bodelschwingh, schauen und fragen, was wir von ihm lernen können. Denn von ihm her lassen sich zwei Elemente missionarischer Arbeit unterstreichen, die heute vonnöten sind: Zuversicht aus Glauben und Handeln aus Glauben. Beide Ausdrucksformen des einen Glaubens brauchen heute eine kraftvolle institutionelle Basis. Von Bodelschwingh selbst hat dies durch mancherlei institutionelle Pionierarbeit gezeigt. Dass in der Stärkung der institutionellen Sichtbarkeit von Kirche und Diakonie ein Beitrag zur Zukunftsfähigkeit des evangelischen Glaubens liegt, lernen und beherzigen wir heute auf neue Weise. Diesem Gedanken will ich den ersten Überlegungsgang widmen, bevor ich auf die Zuversicht und das Handeln aus Glauben zu sprechen komme.

II.

Im Sommer dieses Jahres hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Titel „Kirche der Freiheit“ ein Impulspapier veröffentlicht, dass eine neue Konzentration auf das Glaubenszeugnis der Christen mit einer verstärkten Zuwendung zu den Menschen verbinden möchte, denen der Kontakt zum christlichen Glauben verloren gegangen ist. Die Situation, die zu einer derartigen neuen Initiative herausfordert, wird in dem Impulspapier folgendermaßen gekennzeichnet:

„Ein neues, plural geprägtes Interesse für religiöse Fragen bestimmt unsere Gegenwart, das mit dem Stichwort der Wiederkehr der Religion nur grob gekennzeichnet ist. Dieses neue religiöse Interesse muss bewusst als ein besonderes Zeitfenster für neue kirchliche Initiativen genutzt werden.

Bereits in der dritten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Beginn der neunziger Jahre wurden Hinweise auf eine verstärkte Hinwendung zur Religion wahrgenommen; inzwischen bezeichnen Zukunftsforscher die Respiritualisierung als gesellschaftlichen Megatrend. Dies belegen Untersuchungen wie etwa die Europäische Wertestudie „Die Europäische Seele“ (2002). Kulturelle Entwicklungen sind deutliche Indikatoren für einen Wandel der Fragestellungen. In den Massenmedien, in den Filmthemen Hollywoods, in der Theaterlandschaft der Gegenwart wie in den bildenden Künsten spielen religiöse Fragen eine wachsende Rolle. Es ist nicht mehr peinlich, nach Gott zu fragen, nach Sinn zu suchen, über Halt und Heimat zu diskutieren, - also existentiell nach dem zu fragen, was größer ist als das Kaufbare, Machbare und Gestaltbare. Dieser neue Geist des religiösen Fragens steht zu den Kirchen und ihrer Botschaft in einem vieldeutigen Verhältnis. Die öffentlichen Sprecher für solche Fragen sind eher in Zeitungsredaktionen, Theaterteams oder Literaturzirkeln als in den Kirchen zu Hause. Und mitunter wird kritisch gefragt, ob diese vermeintliche Wiederkehr der Religion wirklich aus einer religiös interessierten Haltung heraus wächst. Darüber hinaus ist es keineswegs sicher, dass dieses weithin diffuse kulturelle Interesse an der Religion einer verbindlichen Zuwendung zum Evangelium zu Gute kommt. Aber so sehr dies zu kritischen Fragen auch gegenüber dem Zeitgeist berechtigt, so weisen diese neuen kulturellen Bewegungen doch deutlich darauf hin, dass geistliche Themen auch in der öffentlichen Diskussion wieder an der Zeit sind. Die christlichen Kirchen haben im Blick auf ihre zentralen Themen neue Chancen – auch wenn sie selbst diese teilweise nur zögernd wahrnehmen.

Das aktuelle Zeitfenster für religiöse Fragen entsteht auch durch die radikalisierte Globalisierung der Gegenwart. Die enormen Umwälzungen im wirtschaftlichen und politischen Bereich führen zu großen gesellschaftlichen Umstellungen und erheblichen sozialpolitischen Herausforderungen. Je ungewisser persönliche Lebenssituationen und berufliche Werge werden und je fragwürdiger eingelebte Sinnkonstruktionen und vertraute Ideale von Leistung und Erfolg erscheinen, desto mehr suchen die Menschen nach Sinn und Bedeutung, nach Freundschaft und Liebe, nach Gemeinschaft und Werten. Sie suchen danach, was über den Tag hinaus Halt gibt. Auch dieses Suchen richtet sich nicht mit Zwangsläufigkeit auf die Kirchen, aber es gibt den Kirchen die Chance, derartige Fragen aufzunehmen und die Antworten des Glaubens in neuer Weise als Halt und Trost zu verdeutlichen. Glaubwürdige und über den Tag hinaus tragfähige Antworten haben in Zeiten der globalen Stimmenvielfalt wieder mehr Chancen, gehört zu werden.“

Überträgt man diese generelle gesellschaftliche Diagnose auf die besondere Situation unserer Kirche, so lässt sich noch folgendes hinzufügen: „Die Bevölkerung der Bundesrepublik ist im Blick auf die Religionszugehörigkeit dreigeteit: Etwa ein Drittel (31,3 Prozent) gehört der evangelischen Kirche, ein weiteres Drittel der römisch-katholischen Kirche (31,7 Prozent) an; zu anderen christlichen Kirchen und Konfessionen gehören 1,9 Prozent der Bevölkerung. In Deutschland sind etwa 4 Prozent Muslime. Das verbleibende knappe Drittel (31,3 Prozent oder etwa 27 Millionen Menschen) ist jedoch keineswegs durchweg unchristlich. Es handelt sich vielmehr zu einem erheblichen Teil um Menschen, die aus den Kirchen ausgetreten sind. So sind allein in den zwei Jahrzehnten zwischen 1983 und 2003 in Westdeutschland 3,4 Millionen und seit 1991 in Ostdeutschland 500 000 Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Von ihnen sind etwa 12 Prozent im Laufe der Jahre wieder eingetreten; daran zeigt sich, dass Ausgetretene oft das Motiv ihres Austritts hinter sich lassen und zum Wiedereintritt bereit sind. In Deutschland leben somit sehr viele Menschen, die getauft, oft auch konfirmiert sind oder auf weiteren Wegen mit dem christlichen Glauben in Berührung gekommen sind. Berücksichtigt man, dass Kirchenaustritte überrwiegend im Erwachsenenalter zwischen 18 und 50 Jahren vollzogen werden, so kann man davon ausgehen, dass der weitaus größte Teil der in den vergangenen 20 Jahren Ausgetretenen auch heute noch lebt. Einschließlich der bereits in früheren Jahren Ausgetretenen dürfte sich die Zahl der in unserer Gesellschaft lebenden evangelisch getauften Nichtkirchenmitglieder bzw. Konfessionslosen zwischen 3,5 und 5 Millionen bewegen. Das ist ein gewaltiges Potenzial für eine besondere missionarische Initiative gegenüber ausgetretenen Getauften. Ebenso wichtig ist das Bemühen um diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – seit einer oder mehreren Generationen keinen Kontakt mit einer christlichen Kirche haben.“

Gründe genug sind das für eine missionarische Initiative. Was kann man für sie von Friedrich von Bodelschwingh lernen?

III.

Im bereits hohen Alter von über siebzig Jahren reflektierte Friedrich von Bodelschwingh in einer Betheler Rede das Verhältnis der Anstalt zu ihrer Umwelt: Die Blicke von vielen sind auf uns gerichtet, auch die Blicke der Heidenwelt. Man verlangt von den Bewohnern einer christlichen Anstalt mehr, als von anderen Leuten. Jede Lieblosigkeit, jede Untreue, die unter uns vorkommt, wird mit doppeltem Gewicht gewogen. Wir sind ein Brief an die Welt um uns her. Was Bodelschwingh hier mit Bezug auf die Betheler Anstalt formuliert, hat darüber hinaus grundsätzlichen Charakter. Jeder Christ, der öffentlich erkennbar wird, gibt mit seinem Wort und mit seiner Tat Zeugnis von unserem Glauben. Dies gilt eben keineswegs nur für jede christlich geprägte Einrichtung. Es beschränkt sich auch nicht allein auf das Leben von kirchlichen Amtsträgern und Mitarbeitenden in den Gemeinden, die in besonderer Weise als Glaubensvorbild gelten. Sondern jeder Christ ist ein Brief des Glaubens, oder - wenn dies nur in einer flüchtigen Begegnung geschehen kann - gewissermaßen eine E-Mail des Glaubens. Dass E-Mails unverzichtbar zur modernen Kommunikation dazu gehören, macht dieses vielleicht etwas ungewöhnliche Bild in höchstem Maße sinnvoll. Vielleicht ist es auch eine Aktualisierung der Metapher, die Friedrich von Bodelschwingh verwandt hat. Doch es geht in beiden Fällen um das Gleiche: Nämlich dass alle Glieder der Kirche in einer besonderen Verantwortung stehen, nach der sie gefragt werden. Dies ist gerade heute in einem steigenden Maße der Fall.

Fünf Grundzüge will ich nennen, die einen solchen Brief evangelischen Glaubens schmücken sollten:

Erstens: Evangelisches Glaubensverständnis hat seine Mitte darin, dass Jesus Christus die über Leben und Tod entscheidende Wahrheit ist. Zu deren Kraft bekennt sich das Johannesevangelium mit der Aussage: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (Johannes 8, 32). Evangelisches Christsein orientiert sich also an der Wahrheit, die Jesus Christus in Person ist. Weil er die Wahrheit ist, ist er der Herr der christlichen Existenz ebenso wie der Herr der Kirche. In diesem sehr präzisen Sinn bekennt sich eine evangelische Kirche zum kyrios Iesous, zum Dominus Iesus. Das Bekenntnis zu dieser Wahrheit markiert nicht nur den Unterschied zwischen Kirche und Welt, sondern ebenso auch die Unterscheidung zwischen Christus, der diese Wahrheit ist, und der Kirche, die dieser Wahrheit dient. Deshalb ist es im evangelischen Sinn ein Ausdruck konsequenten Christseins, die Kirche nicht mit dem Reich Gottes zu verwechseln – wie keine Kirche mit dem Reich Gottes verwechselt und kein Stellvertreter Christi selbst an Christi Statt gerückt werden sollte. Im evangelischen Sinn gilt von der Kirche vielmehr, dass sie die Rechtfertigung allein aus Gnade nicht nur verkündet, sondern ihrer auch bedarf. Und sie erinnert sich immer wieder daran, dass es in dem Sendungswort Jesu Christi am Ende des Matthäusevangeliums nicht um die Kirche geht, sondern um unsere Mitmenschen.

Diese Wahrheit wird – das ist der zweite Grundzug – als befreiende Macht erfahren. Sie befreit aus der Lebenslüge, als könnten wir unser Leben selbst herstellen und dessen Sinn selbst produzieren. Sie befreit zu der Einsicht, dass der Mensch mehr ist, als wir im Bild des homo faber, des sich und seine Welt selbst erschaffenden Menschen denken.

Möglicherweise von ähnlichen Gedanken geleitet schreibt Friedrich von Bodelschwingh in seinem Christlichen Ratgeber für Epileptische, 1888: Der segensreiche Zweck des Leidens an der Epilepsie liege darin, daß überall, und bei dieser Krankheit in hervorragender Weise, die Unzulänglichkeit aller menschlichen Hilfe recht offenbar werden soll, so dass den Kranken folgendes Gebet empfohlen wird: Schaffe uns Beistand in der Not, denn Menschenhilfe ist kein nütze. Denn, wenn es unfehlbare Heilmittel gegen diese, wie überhaupt gegen jede Krankheit gäbe, so wäre dadurch doch Gottes Gnadenabsicht bei der Zusendung einer Krankheit zunichte gemacht. Die Menschen würden dann, statt Gott selbst zu suchen, diese Heilmittel zu ihrem Gott machen, und jeder Segen des Leidens wäre verloren.

Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht und zu machen vermag. Er ist deshalb weder mit seinen Taten noch mit seinen Untaten noch mit seiner Gesundheit oder Krankheit identisch. Er ist das Lebewesen, das beständig über sich selbst hinausweist. Er ist von der Hoffnung getragen, dass er, indem er sich selbst übersteigt, nicht nur auf sich selbst trifft. Darin, dass er von Gott geliebt und anerkannt ist, findet er die Wahrheit wie den Frieden seines Lebens.

Indem Gottes Wahrheit uns – das ist der dritte Grundzug – in dem Menschen Jesus von Nazareth begegnet, indem Gott uns in Jesus sein menschliches Antlitz zuwendet, tritt uns die Berufung zum Menschsein entgegen. Von Gott wird jede und jeder als menschlicher Mensch angesprochen, als eine von Gott definitiv anerkannte und mit einer unverlierbaren Würde begabte Person. Die Würde, die jedem Menschen zukommt, kann durch keine menschliche Tat überboten und durch keine menschliche Untat zerstört werden (E. Jüngel). Weil es sich so verhält, kommt diese Würde nicht nur der Menschheit als Gattung, sondern in unantastbarer Weise jedem einzelnen Menschen zu. Die darin begründete Hochschätzung des einzelnen Menschen bringt evangelischer Glaube ins Gespräch der Gegenwart ein. Sie ist von Gewicht sowohl im Gespräch der christlichen Konfessionen wie im Gespräch mit dem Islam und anderen religiösen Überzeugungen. Freilich ist diese Hochschätzung des einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit von Gott geliebt und anerkannt ist, grundsätzlich wie praktisch deutlich zu unterscheiden von einem Individualismus, der gerade von der Vorstellung geprägt ist, als sei jeder Mensch der Herr des eigenen Lebens und insofern auch nur sich selbst verantwortlich.

Die protestantische Hochschätzung menschlicher Verantwortung und menschlicher Leistung gründet nicht in der Vorstellung, sich durch Eigenverantwortung selbst produzieren oder durch eigene Leistung selbst sichern zu können. Sie gründet vielmehr – und das ist der vierte Grundzug – in dem Dank für die uns anvertrauten Gaben, von denen wir in Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch machen können.

Dass diese Gaben ganz menschlich vermittelt sind, davon wurde über Jahre in Bethel ein Lied gesungen; und das meine ich ganz wörtlich: Das Bethel-Lied von Walther Trittelvitz enthält folgende Zeilen: Krank, verlassen, arm gering / Wem sind wir willkommen? / Unser Vater Bodelschwingh / hat uns aufgenommen! / Darum wollen, Gott zur Ehr, / Wir, Gesund und Kranke, / Alle Jahr ein Loblied mehr / Singen, ihm zum Danke! // Volk von Bethel, deinen Hort / unverwelkter Freuden - / Gib ihn weiter! Gottes Wort / sende zu den Heiden! / Hörst vom Palmenstrande her / es dann wiederklingen: / ‚Alle Jahr ein Loblied mehr!’ / Bis wir droben singen!

Dankbarkeit drängt auf das Gotteslob und braucht deshalb einen Raum der persönlichen Glaubensfreiheit wie der gemeinschaftlichen Religionsfreiheit, in dem dieses Gotteslob laut werden kann. Aber sie drängt auf verantwortete Freiheit und damit auf eine Gestalt der Gesellschaft, in der gerechte Teilhabe möglich ist. Dass sich alle an der Gestaltung des gemeinsamen Geschicks beteiligen können, ist ein Grundimpuls des evangelischen Glaubens.

Die Verbürgung von Grundfreiheiten und die Ermöglichung von demokratischer Mitwirkung liegen genauso in der Richtung dieses Grundimpulses wie die Ermöglichung von wirtschaftlicher Teilhabe in einer Gesellschaft, in der für Gerechtigkeit und Solidarität Raum ist. In all dem und über all dem bilden der Respekt für die Integrität des anderen Menschen und damit der Verzicht auf Gewalt sowie eine tragfähige Gestalt des gemeinsamen Lebens – also der Frieden unter den Menschen und die Bewahrung der Natur – den unerlässlichen Horizont verantworteter Freiheit.

Eine Kirche, die aus der befreienden Wahrheit lebt, die in Jesus Christus als Person begegnet, ist eine Kirche der Freiheit. Das ist der fünfte und letzte Grundzug, den ich für den „Brief“ des Glaubens hervorheben möchte. Die Kirche der Freiheit ist dadurch geprägt, dass das Gotteslob, das der ganzen Gemeinde anvertraut ist, in Freiheit erklingt. Die Taufe ist die Ordination zu diesem Gotteslob; Frauen und Männer haben an ihm Anteil; die Gemeinde und das ordinierte Amt sind an ihm in gleicher Weise beteiligt. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie sich den Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit stellt und ihre Antworten auf die Fragen der Zeit vor der Botschaft der Heiligen Schrift verantwortet. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie jeden Getauften dazu befähigen möchte, seinen Glauben zu verantworten und Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in ihm ist. Verantwortete Freiheit ist nicht nur der Grundzug evangelischer Existenz in der Welt, sie bestimmt zugleich das Profil einer evangelischen Kirche.

Deshalb haben wir in der Evangelischen Kirche in Deutschland den kirchlichen Reformprozess, den wir angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen in Gang bringen wollen, unter den Leitbegriff der Kirche der Freiheit gestellt. Dass das Evangelium der Freiheit die Menschen erreichen kann, dass die Botschaft von Gottes freier Gnade wirklich an alles Volk ausgerichtet wird und dass wir die Barrieren abbauen, die wir als Kirche selbst dieser Botschaft in den Weg stellen, ist die Intention dieses Reformprozesses.

IV.

Wenden wir den Blick noch einmal auf das Leben Friedrich von Bodelschwinghs; es beeindruckt durch die Nachhaltigkeit seines Lebenswerkes. Dieses Symposium hebt mit der Mission einen Schwerpunkt seines Lebens hervor. Hier, in Bethel, lässt sich darüber kaum nachdenken, ohne sich nicht auch von dem sichtbaren Lebenswerk Bodelschwinghs anstecken zu lassen, das gewissermaßen zum Greifen nahe liegt: Jenen Anstalten, deren Leiter er auf der Mitte seines Lebens wurde, die heute seinen Namen tragen und die mit derzeit circa 14.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das größte diakonische Unternehmens Europas geworden sind. Friedrich von Bodelschwingh gab zu dieser Entwicklung entscheidende Anfangsimpulse, als er 1872 die Leitung der wenige Jahre zuvor gegründeten Epileptischenanstalt und des Diakonissenmutterhauses übernahm. Bodelschwingh griff jedoch sofort in die laufenden Planungen ein und schuf so die Voraussetzungen für einen Expansionsschub, der die kühnsten Erwartungen übertreffen sollte, so stellt es der Bodelschwingh-Biograf Hans-Walter Schmuhl dar. Bodelschwingh entfaltete eine ungeheure Energie, die rastlos vorwärts drängte, keine Atempause duldete, keine Grenzen, Satzungen, Festlegungen anerkannte. Kaum hatte er eine Aufgabe gemeistert, stürzte sich Bodelschwingh schon in die nächste. Er zog ein Arbeitsfeld nach dem anderen an sich, ohne nach Zuständigkeiten, Kosten oder Risiken zu fragen.

Friedrich von Bodelschwingh wuchs in einem Elternhaus auf, dessen Frömmigkeit durch einen erwecklichen Geist gekennzeichnet war, die sich dem Sohn tief eingepflanzt hat. Zwei Grundzüge der Erweckungsfrömmigkeit lassen sich sein gesamtes Leben über beobachten, die seinem inneren Feuer immer wieder neue Nahrung zuführten. Er war geprägt von einem Verständnis der Heiligung, dem gemäß sich die Gottesliebe in der liebenden Tat am Nächsten erweist. Er war getrieben durch eine unterschwellig wirksame Naherwartung, die auf die prompte Umsetzung jeder Liebestat drängte. Das Gefühl, keine Zeit verlieren zu dürfen, trieb ihn an, und er, der Getriebene, riss die Menschen in seiner Umgebung unwiderstehlich mit. Seine Glaubensglut vermochte ein beträchtliches Feuer zu entfachen. Ein Feuer, dass ihn nachhaltig antrieb, der – um diesen Ehrentitel für Friedrich von Bodelschwingh aufzunehmen, den Theodor Heuss für ihn gefunden hatte – genialste Bettler zu werden, den Deutschland je gesehen hat. Damit komme ich nun zum zweiten Element, das Grundlage missionarischer Arbeit ist. Neben die Glaubenszuversicht tritt die Tatkraft, das Handeln aus Glauben.

V.

Friedrich von Bodelschwingh war nicht nur ein genialer Bettler, sondern auch ein begnadeter Visionär. Seine Impulse veränderten nicht nur die evangelische Kirche und ihre Diakonie; sie wirkten sich auch auf die Entwicklung des Sozialstaats aus. Das persönliche Schlüsselerlebnis hat viele angerührt und auch mich rührt es immer wieder an: Bodelschwingh verlor im Jahr 1869 innerhalb weniger Tage vier Kinder an einer Keuchhusten-Epidemie; dazu sagte er im Rückblick: Damals merkte ich, wie hart Gott gegen Menschen sein kann, und darüber bin ich barmherzig geworden gegen andere. Arbeits- und Obdachlose, Wanderarbeiter und andere umher ziehende Gesellen, psychisch Kranke und Körperbehinderte, Ausgestoßene und Verlassene waren seine Gemeinde, bald auch seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Denn Bodelschwingh gab jedem, der bei ihm Hilfe suchte, über kurz oder lang eine Aufgabe, die seinen Fähigkeiten entsprach und seine Kompetenzen stärkte. So baute er die damalige Epileptiker-Einrichtung und die Diakonissenanstalt in Bethel bei Bielefeld in kurzer Zeit zu einer Stadt der Barmherzigkeit aus – mit eigenen Betrieben und Kliniken, Schulen und Ausbildungsstätten, alternativen Arbeitsprojekten und Secondhand-Läden, großen Fundraising-Projekten und nicht zuletzt: einer eigenen Kirche. Die Betheler Diakonie wurde zum Urbild eines diakonischen Gemeinwesens. Dieser Typus der Diakonie verbindet sich bis heute mit Bodelschwinghs Namen. Solche Diakonie ist ein Orientierungspunkt für Menschlichkeit und Würde. Und ein Leuchtfeuer für eine Kirche der Freiheit, die sich als diakonische Kirche versteht.

Die erste Frage soll nicht sein: Was kann ich von meinem Nächsten erwarten, sondern; Was kann der Nächste von mir erwarten, wird Bodelschwingh zitiert. Diese Frage aus der Umbruchszeit des späten 19. Jahrhunderts wirft ein ungewohntes Licht auf unsere heutige Situation. Weder was ich vom Nächsten noch was er von mir erwartet, scheint heute die erste Frage zu sein. Eigenverantwortung wird groß geschrieben; jeder soll sich selbst der Nächste sein. Doch Eigenverantwortung macht Nächstenliebe keineswegs überflüssig. Wir bleiben vielmehr auf sie angewiesen. Mehr noch: Sie bleibt ein unentbehrliches Lebenselement einer menschlichen Gesellschaft. Und sie bleibt der wichtigste Beitrag des christlichen Glaubens zur Kultur des Zusammenlebens.

Damals ergab sich aus der Industrialisierung die Notwendigkeit, der Nächstenliebe eine neue Gestalt zu geben. Heute stürzen der demographische Wandel und die Zwänge einer globalisierten Welt das Gefüge der Gesellschaft um. Arbeitslosigkeit und Armut, die Überalterung, die man besser eine Unterjüngung nennen sollte, das starke Bildungsgefälle und die wachsenden Erziehungsdefizite, die Marginalisierung von Behinderten und die Isolierung von Alten: das sind alles Phänomene, die sich nicht einfach auf das Versagen der Einzelnen zurückführen lassen. Trotzdem müssen die Einzelnen in dem Maß für sich selbst sorgen, in dem ihnen das möglich ist. Denn nur dann lassen sich Spielräume für gesellschaftliche Solidarität gewinnen, die wir so dringend brauchen. Doch genauso gilt: Nur wenn es auch heute und morgen Menschen gibt, die ihr Handeln an dem ausrichten, was ihre Nächsten von ihnen erwarten, werden wir eine menschliche Gesellschaft behalten. Menschen zum Helfen zu ermutigen, bleibt eine dringliche Aufgabe.

Die Faktoren, die Menschen vom Helfen abhalten, sind vielfältig. Die Auffassung, das Elend des anderen sei selbstverschuldet, trägt dazu ebenso bei wie das Gefühl, selbst ohnehin nichts ändern zu können. Die Institutionalisierung der Nächstenliebe, für die Bodelschwingh ein großartiges Beispiel gegeben hat, führt darüber hinaus bei manchen zu einem folgenschweren Missverständnis. Sie denken, für das Helfen seien ohnehin andere zuständig. Ohne Zweifel hat die beispiellose sozialstaatliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte auch dazu beigetragen, dass Menschen, die tun könnten, was ihr Nächster von ihnen erwartet, die Hände in den Schoß legen. Aber sie werden gebraucht. Denn heute verschieben sich die Gewichte. Die institutionalisierte Hilfe wird knapper. Menschliche Zuwendung in der Pflege beispielsweise hat kaum noch Raum in den vorgegebenen Zeittakten; professionelle Hilfe für gefährdete Jugendliche wird oft zu spät oder auch gar nicht gewährt. Auch in unseren hoch entwickelten Sozialsystemen wird die Luft für die Nächstenliebe dünner. Deshalb wird auf beides zu achten sein: Professionelle Hilfe muss im nötigen Umfang gewährleistet werden; in ihr muss auch für menschliche Zuwendung Raum sein. Und ehrenamtliches Engagement, gelebte Nächstenliebe über den eigenen Beruf hinaus, wird zugleich an Bedeutung gewinnen. Wir sind darauf angewiesen, dass mehr Menschen fragen, was ihr Nächster braucht.

Das Wort „unheilbar“ steht im Wörterbuch eines Christen nicht mehr, heißt es bei Bodelschwingh, dem kühnen Visionär. Weiter liest man bei ihm: Wer danken gelernt hat, ist gesund geworden, auch wenn er sein ganzes Leben in einer Zelle zubringen muss. Und an anderer Stelle: Der gesunde Mensch ist krank, wenn sein Blick haften bleibt an den armen, vergänglichen Dingen dieser Erde. Der kranke Mensch ist gesund, sobald er durch den Glauben Zugang gefunden hat zur ewigen Hoffnung. Bodelschwingh war kein Sozialtechniker der Nächstenliebe. Er lebte und handelte aus dem Dreiklang von Glauben, Liebe und Hoffnung. Diesen Dreiklang wieder zu gewinnen, ist ebenso wichtig, wie zum Helfen zu ermutigen. Die Not unserer Zeit besteht nicht in der politischen Ratlosigkeit über die Finanzierung des Gesundheitssystems – obwohl man wünschen möchte, dass der Wille zur relativ besten Lösung sich möglichst bald durchsetzt. Die Not unserer Zeit besteht auch nicht darin, dass nicht noch schneller Techniken entwickelt werden, um Krankheiten schon im Genom heilen zu können – so beeindruckend viele Fortschritte der Medizin auch sind. Die Not unserer Zeit ist ein Mangel an Glauben und Hoffnung. Wir brauchen eine stärkere Gewissheit, die über den Tag hinaus blickt. Wir brauchen eine Hoffnung, die über unser endliches Leben hinausreicht, um die Endlichkeit dieses Lebens zu akzeptieren. Krankhaftes Vergleichen, uneingestandene Verlustängste und fiebrige Aufholjagden hindern an einer gelassenen Dankbarkeit, die anerkennt, dass sich das Gelingen des eigenen Lebens nicht nur der eigenen Leistung verdankt. Dafür, dass eine solche Haltung nicht nur das Helfen, sondern auch das Leben bestimmt, kann die Diakonie ein Beispiel setzen. Denn jedes diakonische Bemühen zielt auf Gemeinschaft in Gottes Namen. Jede diakonische Tat erinnert an das helfende Handeln Jesu, der seine Hand Menschen entgegenstreckte, damit sie Vertrauen fassen konnten.

Daran zu erinnern ist heute wieder nötig. Immer wieder muss die Diakonie sich ihrer Glaubenswurzeln erinnern. Denn Diakonie ohne Spiritualität wäre nicht genug; sie wäre nichts als Sozialtechnik. Ohne seelsorgliche und geistliche Angebote, ohne ethische Orientierung für Kranke und Gesunde, für Patienten und Mitarbeitende fehlte der Diakonie die innere Achse, die Freiheit und die Hoffnung, aus der ein Handeln für den Nächsten erwächst. Die Organisationsformen der Diakonie mögen vielfältig sein. Entscheidend ist, in welchem Geist Menschen miteinander arbeiten und worauf ihre Anstrengungen gerichtet sind. Evangelische Diakonie orientiert sich am Geist Jesu, der von Angst befreit, zu einem offenen Miteinander befähigt und  vor dem Tod nicht kapituliert. Wo Diakonie in diesem Geist gestaltet wird, bilden sich oft christliche Gemeinden in neuer Form. Zu wünschen ist freilich, dass sich auch die christlichen Gemeinden in ihrer vertrauten Form von diesem Geist inspirieren lassen und aus den Erfahrungen der Diakonie lernen. Denn dass es große diakonische Einrichtungen, ja ganze diakonische Gemeinwesen gibt, entbindet niemanden von der Hilfe zum Nächsten, auch nicht die Ortsgemeinden in Stadt und Land. Heute bieten eine wohnortnahe Diakonie und eine stadtteilorientierte Sozialplanung handfeste Anknüpfungspunkte für eine neue Verbindung von Diakonie und Ortsgemeinde. Bodelschwinghs Idee einer Stadt der Barmherzigkeit kann auf neue Weise zum Leuchten kommen.

Die Aufgaben der Sterbebegleitung können als Beispiel dienen. Sie wissen hier in Bethel nur zu gut, wie sehr die Sterbegleitung ein enges Zusammenwirken der Institutionen und Dienste wie Krankenhaus, Hospiz, Altenzentrum, Arztpraxen und Pflegedienste erfordert, aber auch eine neue Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen. Nicht nur Sterbende, sondern auch ihre Helfer brauchen seelsorgerlichen Beistand, um sich auf ihre Aufgabe vorzubereiten und um sie durchzustehen. Ärzte, Pflegende, Therapeuten und Seelsorger stehen heute vor großen sozialen, ethischen und geistlichen Herausforderungen. Sie ringen um Menschlichkeit angesichts überwältigender technischer Möglichkeiten. Sie kämpfen um Kosten und Pflegesätze und erleben zugleich, wie sich religiöse und kulturelle Voraussetzungen für den Umgang mit Sterben und Tod verändern. Oft stehen sie in einer inneren Spannung zwischen der Zuständigkeit von Vorgesetzten und der eigenen Gewissensentscheidung, zwischen institutioneller und persönlicher Ethik. Unter den neuen Bedingungen ist der weite Geist von Nöten, für den der Name Bodelschwinghs steht. Auch heute halten sich Menschen an Glauben, Liebe und Hoffnung, wenn es um die Sehnsucht nach Heilung und die Trauer über den Tod, um den Ruf des eigenen Gewissens und die Würde des anderen Menschen geht.

VI.

Zuversicht aus Glauben und Handeln aus Glauben – Mission braucht beide Elemente. Sie etwa nur in der Aufteilung von kirchlich-institutioneller oder diakonisch-institutioneller Arbeit finden zu meinen, würde der Arbeit der ganzen evangelischen Kirche schaden. Wenn Kirche und Diakonie aber „tandem“ – endlich! – der inneren Zusammengehörigkeit stärker Ausdruck verleihen und für  unsere Mitmenschen als Tandem erkennbar sind, dann nehmen sie nicht nur ein Anliegen Friedrich von Bodelschwinghs auf, sondern Gott selbst wird für sie ein Leuchtfeuer entzünden und ihres Fußes Leuchte sein.