"Verantwortlich im Sinne der Pressefreiheit" - Impulsvortrag beim Verband Deutscher Zeitschriftenverleger, Berlin

Wolfgang Huber

I.

Die Pressefreiheit lässt sich als die Freiheit verstehen, alles drucken und verlegen zu können, was Gedanken hervorzubringen in der Lage ist.

Aus einer evangelischen Perspektive betrachtet, gewann die Frage nach dieser Freiheit in einer der ersten Lebensminuten protestantischer Frömmigkeit an Bedeutung, nämlich am 17. und 18. April 1521 in Worms. Martin Luther, Wittenberger Mönch und Theologieprofessor, stand in Worms vor Kaiser Karl V. Er war dazu aufgefordert, seine Theologie, wie er sie in zahlreichen Schriften und Büchern öffentlich niedergelegt hatte, vor dem Reichstag in aller Form zu widerrufen.

Doch Luther nahm für sich das Recht zur freien theologischen Meinungsäußerung wie zur freien Publikation in Anspruch: Es sind meine von mir unter meinem Namen veröffentlichten Schriften, es sei denn dass durch gegnerische List oder durch Besserwisserei etwas in ihnen verändert oder entstellt abgedruckt worden ist. Und auf ausdrückliche Nachfrage endete er schlicht und schnörkellos mit den bekannt gewordenen Sätzen: Weil Eure geheiligte Majestät und Eure Herrschaften es verlangen, will ich eine schlichte Antwort geben, die weder Hörner noch Zähne hat: wenn ich nicht durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder vernünftige Gründe überwunden werde, ... so halte ich mich überwunden durch die Schrift, auf die ich mich gestützt habe, so ist mein Gewissen im Gotteswort gefangen, und darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist. Ich kann nicht anders, hier stehe ich. Gott helfe mir. Amen.

Nicht, weil es für einen Theologen typisch wäre, aus früherer Zeit zu erzählen, habe ich an die Szene Martin Luthers vor dem Reichstag in Worms erinnert, die vielleicht einige von Ihnen in Eric Tills Lutherfilm nacherlebt haben. Sondern weil die Fragestellung dieser Szene zwar alt, aber nicht vergangen ist.

Gewiss wäre die Reformation anders verlaufen, wenn man sie sich für einen Augenblick unter den heutigen verfassungsrechtlichen Gegebenheiten vorstellt. Hätte zur Zeit Martin Luthers das deutsche Grundgesetz in Geltung gestanden, wäre er nicht vor einer staatlichen Instanz zur Rechenschaft gezogen worden. Zudem wäre seine Verteidigungsrede einfacher gewesen. Er hätte sich nicht gegen alle staatlichen wie kirchlichen Instanzen auf Gott als die allein maßgebliche Instanz seines Handelns, auf seine Gewissensbindung im Glauben, auf die Bindung allein an Gottes Wort, die Heilige Schrift, berufen müssen. Die freie Meinungsäußerung, die Pressefreiheit und die Wissenschaftsfreiheit hätten auch gereicht. Doch Luther hat in Worms das Seine dazu getan, dass diese Freiheiten sich in der Moderne ausbildeten, mit Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit als ihrem Kern.

II.

„Der Grund der Politik ist Freiheit“. Dieser Satz stammt von Hannah Arendt, die bei der 100. Wiederkehr ihres Geburtstags vor drei Wochen vielen Menschen neu in den Gesichtskreis getreten ist. In sechs Worten hat sie den substantiellen Kern eines demokratischen Selbstverständnisses verdichtet. Vor allem dann muss man den Grund der Politik in der Freiheit sehen, wenn man das Politische nicht nur als das begreift, was man an die politischen Institutionen delegiert, sondern als das nimmt, was alle in einem Gemeinwesen gleichermaßen angeht. Wenn man allerdings auf die letzten neun Monate zurückblickt, klingt dieser Satz weniger wie eine Selbstverständlichkeit und mehr wie ein Programm, das immer unabgegolten bleibt, allen verfassungsrechtlich verbrieften Freiheitsrechten zum Trotz. Denn das Bewährungsfeld der verbrieften Freiheiten ist ja die Gesellschaft selbst, „Der Grund der Politik ist die Freiheit“ – das ist in dieser Perspektive ein Satz, der die Künste, die Medien und die Religion genauso angeht wie die politischen Institutionen.

Doch wie können die Künste, die vielfältigen Formen der Meinungsäußerung, die Medien und die Religion unter Bedingungen der Freiheit koexistieren? Die Fälle mehren sich, in denen das Verhältnis dieser Freiheiten zueinander als konflikthaft wahrgenommen oder dargestellt wird. Die einen erklären Ihr Recht auf freie Religionsausübung für eingeschränkt, weil religiöse Zeichen und Gefühle verletzt werden, während die anderen die Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit gefährdet sehen, weil sie aufgefordert werden, auf religiöse Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen.

Es ist kühn und schwierig zugleich, einen Prozess zu analysieren, der gerade in Gang gekommen und offenbar bei weitem noch nicht abgeschlossen ist. Doch es ist zugleich unentbehrlich, wenn man vermeiden will, dass man in diesem Prozess erst im Nachhinein nicht nur eine schleichende Veränderung einer gesellschaftlichen Gefühlslage, sondern eine Veränderung in Bezug auf die gesellschaftliche Substanz sehen muss – eben die Freiheit.

Deshalb ist der Versuch einer Verständigung unausweichlich. Ich versuche das in aller Kürze. Seit sich „der lange Schatten des Karikaturenstreits“ – diese treffende Beschreibung hat Petra Bahr gefunden –  über unser Land und über die europäischen Nachbarländer gelegt hat, kommt es immer wieder zu teils heftigen, teils auch nur skurrilen Debatten über das Verhältnis der verschiedenen Freiheiten zueinander. Was darf die Kunst? mit dieser Frage hätte vor fünf Jahren vermutlich keiner gerechnet.  Nun fragt so plötzlich sogar das Feuilleton. Und was darf die Presse? Nicht ob der staatliche Gesetzgeber die Pressefreiheit einschränkt, sondern ob die Angst vor möglichen – von anderen Medien ausgelösten – Erregungswellen zur Vorsicht im Umgang mit der eigenen Freiheit mahnt, ist heute die Frage.

Wenn aus solchen Anlässen Freiheiten gegeneinander abgehoben werden, erscheint mir das als verfehlt. Es gibt nämlich nicht verschiedene Freiheiten, denen man unterschiedliche Noten und Grade verleihen könnte. Im Grunde geht es um die eine Freiheit in ihren verschiedenen Entfaltungen. Aber es geht auch nicht nur um die Freiheit als solche, sondern zugleich um die Frage, wie Freiheit in einer offenen Gesellschaft zivil zu gestalten ist. Im Übrigen: Nicht nur eine Operninszenierung, sondern auch eine Papstrede, nicht nur eine Karikatur, sondern auch eine provozierende Meinungsäußerung kann zum Anlass genommen werden, in einem andern Land öffentliche Erregung zu erzeugen. Die Befürchtung, um deretwillen in Berlin eine Operninszenierung abgesetzt wurde, kann ebenso Anlass dazu sein, sich mit der Äußerung seiner Meinung auf Kanzeln oder Kathedern, in Zeitungen oder Zeitschriften zurückzuhalten. Wenn diese Befürchtung das Verhalten bestimmt, ist nicht nur die Kunstfreiheit in Gefahr, sondern die Freiheit im Ganzen.

Sie mögen in meiner Betrachtungsweise auch hier eine spezifisch evangelische Perspektive erkennen: Die Aufmerksamkeit gilt nicht der Frage, wie Freiheiten eingeschränkt werden, sondern wie Freiheit gestaltet wird, indem wechselseitige Achtung der Freiheitssphären zur Geltung kommt und Freiheit so verantwortet wird. Eine solche Perspektive schließt aus, dass Menschen ihre religiös motivierten Überzeugungen mit Drohungen, medialer Hetze oder Einschüchterungsversuchen zum Ausdruck bringen. Es schließt aber auch aus, dass mit Tabus mutwillig gespielt wird – die Mohammedkarikaturen haben das getan – , ohne dass es dabei wirklich um die Steigerung des künstlerischen Ausdruck ginge. Und es darf übrigens auch bemerkt werden, dass die Religionskritik in Künsten und Medien bisweilen ein erschreckend niedriges Niveau erreicht hat. Dafür, einen recht einfältigen religionskritischen Gag als Schlusspointe einer Operninszenierung einzusetzen, gibt es – auch in Berlin – mehr als nur ein Beispiel.

III.

Der verfassungsrechliche Sinn der Pressefreiheit lässt sich genauso leicht erschließen, wie das bei Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, freier Meinungsäußerung, Kunstfreiheit oder Wissenschaftsfreiheit der Fall ist. Die Artikel vier und fünf des Grundgesetzes regeln außer den genannten Freiheiten auch noch das Recht auf Kriegesdienstverweigerung – und all das zusammen in gerade einmal sechs Sätzen. Diese Vielgestaltigkeit der Freiheit ist eingelassen in das Fundament unserer Verfassungsordnung, nämlich die Grundrechte, die ihrerseits auf dem „Fundament der Fundamente“ (E.-W. Böckenförde) gründen, nämlich der Menschenwürde. Das alles geschieht ganz im Sinne Hannah Arendts: „Der Grund der Politik ist Freiheit.“

Doch Freiheit ist nicht ohne Grenzen. Sie ist weder mit Beliebigkeit noch mit Verantwortungslosigkeit gleichzusetzen. Es wäre zu billig, die Freiheiten der Demokratie, die Freiheiten, die in historischer Folge und Konsequenz aus der Reformation erwachsen sind, für grenzenlos zu halten. Freiheit setzt sich diese Grenze selbst. Freiheit fragt nach der rettenden Klarheit für heute und morgen. Jung und Alt verbindet die Frage, wie man unter den komplexen Anforderungen unserer Zeit eine eigenständige Person sein kann, die in Freiheit ihre Individualität entfaltet und dabei das Wohl anderer Menschen im Sinn behält. Handeln in Freiheit meint nicht ein beliebiges Tun, sondern dasjenige Handeln, das der Zukunft zugewandt und an der Frage orientiert ist, wie der Nächste leben kann. Das bestimmt auch die Verantwortung im Blick auf die Freiheit der Presse.

Wer dagegen allein das Wort von Goethes Tasso als Orientierung für die Reichweite der Freiheit wählt – „Erlaubt ist, was gefällt“ –, schafft keinen besonders weiten Spielraum, sondern greift zu kurz. Die Antwort, die Tasso erhält, heißt: „Erlaubt ist, was sich ziemt.“ Freiheit ereignet sich nicht in der Grenzenlosigkeit, von der Astrid Lindgren für Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt Gebrauch macht, sondern Freiheit will verantwortet werden: „Verantwortung und Freiheit sind einander korrespondierende Begriffe. Verantwortung setzt sachlich – nicht zeitlich – Freiheit voraus, wie Freiheit nur in der Verantwortung bestehen kann.“ Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, aus dessen unvollendeter Ethik diese Sätze stammen, verankert diese Zusammengehörigkeit von Freiheit und Verantwortung in der Bindung an Gott und den Nächsten: „Verantwortung ist die in der Bindung an Gott und den Nächsten allein gegebene Freiheit der Menschen.“

Der Philosoph Hans Jonas hat vor einer Generation dem Begriff der Verantwortung eine neue Wendung gegeben, indem er angesichts eines Zeitalters scheinbar unbegrenzter technischer Möglichkeiten die Fragen der Zukunftsfähigkeit und der Nachhaltigkeit zum letzten Maßstab der Verantwortung erklärte. Heute spüren wir deutlich, dass Zukunftsfähigkeit es aber nicht nur mit dem verantwortlichen Gebrauch wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten zu tun hat. Zu tun hat sie ebenso mit wirtschaftlicher Existenzfähigkeit, mit der Nachhaltigkeit sozialer Sicherungssysteme, mit der Bereitschaft zu demokratischer Beteiligung. In all dem zeigt sich aber vor allem, dass Zukunftsfähigkeit auch mit der Frage zu tun hat, ob eine Gesellschaft zukunftsfähige Lebensformen entwickelt, ob ihre Freiheit eingebettet ist in tragende Gemeinschaften, ob Menschen lernen, sich am wechselseitigen Anspruch auf Achtung zu orientieren.

Jeder, der für eine bestimmte Freiheitssphäre Verantwortung trägt, sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob sein Handeln der Bewahrung und Entwicklung tragfähiger Grundhaltungen und Lebensformen dient oder zu ihrer Erosion beiträgt. Auch die Presse muss sich heute mit dieser Frage auseinandersetzen.

Lassen Sie mich das aktuell zuspitzen: Nach meiner Auffassung ist ein Presseorgan, das Tag für Tag durch obszöne Darstellungen Marktanteile zu erobern sucht, kein besonders glaubwürdiger Anwalt von Achtung und Würde, wenn es darum geht, obszöne Fotografien aus Afghanistan öffentlich zu machen und ihre Urheber bloß zu stellen. Verantwortung setzt nämlich eine innere Konsistenz des Handelns voraus. Man kann nicht im einen Fall die Obszönität und im andern Fall die Empörung über die Obszönität zum Mittel machen, um das eigene Blatt herauszustellen.

Ich weiß auch, dass solche innere Konsistenz sehr viel schwerer geworden ist. Die dicken Bretter, die der Verantwortliche nach einem berühmten Diktum von Max Weber bohren muss – „mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“, wie Weber sagte – sind in unserer Zeit noch einmal erheblich dicker geworden. Dies gilt für die Politik ebenso wie für die Wissenschaft oder für die Presse. Eben deshalb braucht es neben dem Beruf zur Wissenschaft und dem Beruf zur Politik eben auch einen Beruf zur Kommunikation.

IV.

Es ist keine Frage: Wer Medien verlegt, möchte damit Gewinn machen. Mit Zeitungen, Zeitschriften, On-Line-Zeitungen, Büchern, Magazinen und anderen Printprodukten gewinnbringend zu arbeiten, sichert letztendlich Arbeitsplätze und – solange es nicht zu monopolistischen Bestrebungen kommt – die Meinungsvielfalt. Aber die Möglichkeit, mit Information und Kommunikation zu handeln und Gewinne zu erzielen, „entlässt die verantwortlichen Anbieter nicht aus der sozialen Pflicht, der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung zu dienen.“ So sagt es die Gemeinsame Stellungnahme von evangelischer und katholischer Kirche über „Chancen und Risiken der Mediengesellschaft“ aus dem Jahr 1997. Für die Pressefreiheit haben Verlegerinnen und Verleger eine besondere Verantwortung übernommen, denn sie bieten die wirtschaftliche Grundlage dafür, dass Reporter, Journalisten und Redakteure ihrer Aufgabe gerecht werden zu können, verantwortlich im Sinne der Pressefreiheit zu informieren und zu unterhalten; und dies letztendlich mit dem Ziel, dass die Menschen in der Lage sind, sich selber ein Urteil zu bilden und so eigenständig am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Überall dort schwächen Medien ihre eigene Funktion für die individuelle und die öffentliche Kommunikation, wo sie nicht an der Wahrheit orientiert zur Meinungsbildung und zur Orientierung helfen, „sondern Ansätze von Desintegration und Desorientierung geben“ (Chancen und Risiken der Mediengesellschaft). Das gilt auch dort, wo mit kurzatmigen Parolen und Bildern Menschen, die anders sind oder anderes glauben, diffamiert oder beleidigt werden. Ob gezielt oder unabsichtlich, in beiden Fällen fehlt der Diskurs über die Verantwortung der Pressefreiheit. Manchmal ist ein nicht veröffentlichter Text, eine nicht veröffentlichte Karikatur, ein nicht gedrucktes Foto verantwortlicher als die kurzfristige Sensation, aus dem gesellschaftlichen Rahmen gefallen zu sein. Auch bei der Pressefreiheit gilt ein Erfahrungssatz, den der Apostel Paulus festgehalten hat: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten“ (1. Korinther 6,12). Daraus hat er an anderer Stelle den guten Rat abgeleitet: „Prüft aber alles, und das Gute behaltet.“ (1. Thessalonicher 5,21)