Ein theologischer Dialog mit einem mittelalterlichen Kunstwerk - Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Das spätgotische Antichristfenster – eine biblische Botschaft im Zusammenspiel von Glas, Farbe und Licht“ in der Rathaushalle von Frankfurt/Oder

Wolfgang Huber

Das Gemälde soll den Betrachter rufen ...
Und der überraschte Betrachter soll sich
zuneigen wie einem Zwiegespräch.

Roger de Piles, Cours de peinture par principes, 1676

Schritt für Schritt erschließt sich uns wieder der kostbare Schatz aus Glas, Farbe und Licht, der uns in den Marienfenstern anvertraut ist. Nach und nach weitet sich der Blick und beginnt sich zu orientieren. Jeweils 39 farbige Scheiben in den drei zentralen Chorfenstern wurden dazu bestimmt, dem Betrachter ein Bild von der Schöpfung der Welt, vom  Geschick Jesu Christi und vom Gericht am Ende der Zeit zu geben. Die über hundert Scheiben zusammen erzählen die Geschichte Gottes mit den Menschen. Und jede einzelne Scheibe erzählt diese Geschichte in einer besonderen Ausprägung. Die überraschende Detailschärfe und piktogrammartige Verdichtung zieht den Betrachter ganz in ihren Bann. Wie hilfreich, dass wir in dieser Ausstellung mit unseren Augen noch einmal ganz nah an einen Teil dieser Bilder herankommen.

Ruft man sich mit Hilfe von Fotografien den räumlichen Zustand vor der Zerstörung der Marienkirche in Erinnerung, so wird deutlich, dass die drei großen Chorfenster den künstlerisch gestalteten Hintergrund und Rahmen für den vor den Fenstern angeordneten Marienaltar bildeten. Die Chorfenster betten den Altar und das, was an ihm geschieht, in die Heilsgeschichte ein. Seinem inneren Anspruch nach beantwortet das Bildprogramm die Frage, woher wir kommen, wohin wir gehen und wie wir dazwischen leben sollen. Die architektonische Ordnung des Raumes gibt den Bildern Halt. Sie bereitet den Boden, woraus die Glasfenster sich erheben.

Das sogenannte ‚Antichristfenster’, das heute im Zentrum unseres Interesses stehen soll, kann nicht isoliert vom Christusfenster und vom Schöpfungsfenster betrachtet werden. Denn es ist Bestandteil einer genau durchdachten Gesamtkomposition, die nicht nur die innere Anordnung der einzelnen Fenster, sondern auch deren Wechselbeziehungen betrifft. So wichtig es ist, angesichts der offenkundigen Unordnung, die im Lauf der Jahrhunderte in der Abfolge der Scheiben in den einzelnen Fenstern entstanden ist, deren Anordnung neu zu bedenken, so wichtig ist es auch, den Zusammenhang zwischen den drei Fenstern in den Blick zu nehmen und den Mut zu einer Gesamtdeutung des Bildprogramms aufzubringen. Insbesondere von dem in der Reihenfolge dritten, dem südöstlichen Fenster gilt, dass sich sein Sinn aus der Komposition des Ganzen ergibt, also aus der Wechselbeziehung der drei Fenster sowie aus ihrer gemeinsamen Widmung für den Kirchenraum. Aus meiner Sicht will ich versuchen, dies in knappen Strichen zu erläutern.

Im Zentrum der Komposition unserer drei Glasfenster steht das Leben Jesu Christi, das den biblischen Evangelien gemäß und zugleich mit deutlichem Bezug auf das Glaubensbekenntnis sowie auf die typologische Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament in der frühchristlichen Bibelhermeneutik erzählt wird. Zentral im Scheitelpunkt des Kirchenschiffes angeordnet, galt das mittlere Fenster immer schon wegen seiner frischen Farben als das schönste. Auch von seiner Bedeutung her kommt ihm natürlich die zentrale Stellung zu, weil es dem Betrachter Tod und Auferstehung Jesu vor Augen stellt. Ohne das Osterereignis gäbe es den christlichen Glauben nicht. Ostern beschreibt das unüberbietbare Grunddatum des Glaubens und der Hoffnung auf Gottes zurechtbringendes Handeln. In diesem Glauben errichteten die Bauherren St. Marien und seine Fenster.

Die Schöpfer des Christusfensters erinnerten sich daran, dass bestimmte Ereignisse des Alten Testaments  schon auf Geschehnisse verweisen, die sich in den Berichten des  Neuen Testaments erfüllen. Dabei erfährt das Alte Testament im Verweis auf das Neue seine deutende, augenfällige Steigerung.  Eindrücklich werden die Ereignisse, von denen die Evangelien berichten, bildlich flankiert durch jene Ereignisse, die uns durch die Hebräische Bibel, das Alte Testament überliefert sind. Diese Anordnung ist reizvoll und theologisch konsequent. Wesentlich ist, dass der Betrachter die Kontinuität des Heilsgeschehens verstehen kann. Die Einbettung der christlichen Heilsgeschichte in ihre jüdischen Wurzeln stellen uns die Glastafeln in aller Klarheit vor Augen. Hier begegnen wir auch jenen beiden gottesfürchtigen Männern Henoch und Elia, von denen die Hebräische Bibel berichtet, dass Gott sie wegen ihrer beharrlichen Glaubenstreue ohne vorheriges Sterben zu sich nahm. Ihre Wiederkehr wird gedeutet als Vorzeichen des Endgerichts, in dem sie den bedrängten Menschen in ihrem Kampf gegen den Antichristen beistehen werden. Beiden Figuren werden wir im sogenannten ‚Antichristfenster’ wieder begegnen.

Auffällig an dieser Darstellung des Christusgeschehens ist, dass es von der Kindheitsgeschichte Jesu sofort zur Leidensgeschichte übergeht. Es verhält sich in gewisser Weise so, wie man auch einmal eines der vier Evangelien, nämlich das Markusevangelium, charakterisiert hat: nämlich als Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung. Genauer ist es freilich, an den zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses zu erinnern, wo auch auf das „geboren von der Jungfrau Maria“ sofort das „gelitten unter Pontius Pilatus“ folgt. Seit alters her bis in die Theologie unserer Zeit wird die Heilsbedeutung des Christusgeschehens in der Überwindung von Sünde und Tod ja immer wieder in dem Dreischritt von Menschwerdung, Kreuzigung und Auferweckung beschrieben. So ist es auch hier. Das irdische Wirken und die Verkündigung Jesu, seine Zuwendung zu den Menschen und seine vollmächtige Predigt vom Reich Gottes werden nicht ins Bild gefasst. Für heutige Betrachter ist das deshalb überraschend, weil für uns gerade in dem Wirken des Wanderpredigers in Galiläa und in seinem Weg nach Jerusalem seine Botschaft anschaulich und begreiflich wird. Doch hier steht ganz und gar die Heilsbedeutung des Mensch gewordenen Gottessohns im Vordergrund. Auf sie bezieht sich auch die Typologie zwischen Altem und Neuem Testament, die in der Entsprechung von Verheißung und Erfüllung gedacht ist.

Man erkennt an dieser Gewichtung deutlich, dass der Opfertod Jesu Christi für das Heil der Menschen, dass also die Überwindung der Macht von Sünde und Tod im Zentrum der Christusdarstellung steht. Das wird übrigens an einem Detail besonders deutlich, nämlich daran, dass auch die Höllenfahrt Christi, der sogenannte Descensus ad inferos, ausdrücklich dargestellt wird. Es ist jener Schritt im Heilsgeschehen, den die frühe Christenheit dem Karsamstag zuwies. Dass die Macht des Todes in der Unterwelt gebrochen werden musste, erklärte, warum ein Tag zwischen Kreuzestod und Auferweckung stand; dies also war der implizite Gehalt des Bekenntnissatzes: „am dritten Tage auferstanden von den Toten“.

Das benachbarte nordöstliche Fenster erzählt die Erschaffung der Welt mit all den großen biblischen Erzählungen, die bis heute von ihrer Eindringlichkeit und Schärfe nichts verloren haben; denken wir an die Schöpfung, die Vertreibung aus dem Paradies, den Brudermord Kains, an die Bewahrung Noahs und der Seinen in der Sintflut. Vom Scheitelpunkt des Fensters herab blickt der segnende Schöpfergott mit gütigem Ernst auf den Betrachter. So wird das Fenster zu einem farblich und inhaltlich grandiosen Panorama vom Anfang allen Lebens, von Tragik und Hoffnung, von Verfehlung und Aufbruch, von Verheißung und Erfüllung.  Aber ebenso wie die Scheiben, die von Sündenfall und Brudermord handeln, verweisen auch die Scheiben, die Aufstand und Höllensturz Luzifers darstellen, auf die Macht des Bösen in der Welt, die den Menschen immer wieder herausfordert. Auch hier wird der theologische Spannungsbogen aufgenommen und künstlerisch ins Bild gesetzt, der uns bereits im Christusfenster begegnete und der schließlich in dem sogenannten ‚Antichristfenster’ sein Widerlager findet.

Dieses südöstliche Fenster wendet sich dem Weltende zu, also dem Jüngsten Gericht. Leitend ist die Vorstellung, dass der wiederkommende Christus am Ende der Zeit Lebende und Tote richten wird. Das große Gleichnis vom Weltgericht (Matthäus 25, 31-46) stellt das anschaulich vor Augen. Der Apostel Paulus fasst diese Vorstellung in den knappen und höchst wirkungsmächtigen Satz: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse“ (2. Korinther 5, 10). Dass dieses endzeitliche Gericht das ganze Leben des Menschen prägt und ihm eine unvergleichliche Transparenz vor den Augen Gottes verleiht, wusste schon der alttestamentliche Psalmbeter, wenn er betete: „Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne“ (Psalm 139, 1f.).

Zu keiner Zeit waren die Vorstellungen von Christus als dem Weltenrichter und vom Gericht am Ende der Zeiten in der Volksfrömmigkeit so ausgeprägt wie im Mittelalter. An den prominentesten Stellen wurde es in den Kirchen dargestellt: im Ostchor, der in vielen Fällen von der Maiestas Domini, also von Christus als Schöpfer und Richter der Welt bestimmt war, oder am Westgiebel, wo das Geschehen des Endgerichts detailreich und bedrängend ins Bild gebracht wurde. Von der Bedeutung dieses Themas zeugen ebenso die vielen Weltgerichtsspiele; in ihnen spielt der Antichrist häufig eine herausragende Rolle.  Zahlreiche mittelalterliche Dichtungen (Kynewolf, 9.Jh.; Odo v. Cluny, Petrus Damianus, Otfried v. Weißenburg) bis hin zu Dantes „Göttlicher Komödie“ sind dem Jüngsten Gericht gewidmet. Das bedrohlich Böse ist sogar noch im Ornamentschmuck und den Wasserspeiern gotischer Kirchen präsent. Es gibt kein Entkommen.

Wir sehen also ein Bildprogramm von Anfang, Mitte und Ende der Welt vor uns, das in allen drei Hinsichten vom Widerspiel zwischen dem Heilswillen Gottes und der Macht des Bösen geprägt ist. Im Endgerichtsfenster erfährt dieses Widerspiel seine besondere Zuspitzung. Ja es scheint so sehr auf die reale Macht des Bösen konzentriert zu sein, dass man sogar meinen konnte, es sei dieser Macht sozusagen „gewidmet“, und demgemäß vom „Antichristfenster“ sprach.

Sobald wir uns ein Bild von der Lebenswirklichkeit der Menschen in der Zeit des Mittelalters verschaffen, verstehen wir auch die Resonanzräume besser, in die hinein die Vorstellung vom ‚Antichrist’ ihre Wirkung entfaltet.

Zunächst verstehen wir die Resonanz für die Vorstellung vom Weltgericht. Dass der Mensch sich für seine Lebensführung verantworten muss, ist unstrittig.  Für diese Verantwortung gibt es kein Entrinnen; entsprechend plastisch wird in dieser ganz und gar aufs eindringliche und einprägsame Bild eingestellten Epoche die Vorstellung vom Endgericht vermittelt.  Diese Vorstellung nötigt die Menschen dazu, ihre Lebensführung an biblischen Maßstäben zu messen und die Zeichen der Zeit im Horizont des Glaubens zu deuten.

Darüber hinaus war die Entstehungszeit unserer Fenster von unerklärlichen, das Leben umstürzenden und die Menschen tief verstörenden Ereignissen geprägt: von Pestepidemien etwa und anderen Unglücksfällen, als deren Verursacher oft genug nein: viel zu oft unschuldige Juden angesehen wurden. Man behauptete verleumderisch, sie hätten die Brunnen vergiftet. Die Pestepidemien des Spätmittelalters rafften in einigen Gebieten Europas ein Drittel oder gar die Hälfte der Bevölkerung hinweg. Aber auch durch Kriegswirren, Missernten und verheerende Hungersnöte, für die einleuchtende Erklärungen fehlten, durch undurchschaubare Machtkämpfe zwischen weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten geriet die tradierte politische und religiöse Ordnung ins Wanken.  Die Frage nach dem Weltende war mindestens so dringlich wie in zurückliegenden Jahrzehnten unserer eigenen Epoche die Furcht vor dem Atomkrieg oder heute die allmählich ins Bewusstsein tretende Frage nach den Folgen des Klimawandels. Weltuntergangsbewusstsein und fundamentale Zweifel an der herrschenden Ordnung bestimmten das alltägliche Lebensgefühl. Endzeitstimmung allenthalben. Umso bedrängender meldete sich eine Frage, der angesichts des nahe geglaubten Endes nicht mehr auszuweichen war: Was wird mit der unsterblichen Seele nach dem Endgericht werden? Wird sie der ewigen Verdammnis preisgegeben sein oder darf sie auf Erlösung und den Himmel hoffen?

In dieser bedrängenden Lage bot sich die Vorstellung vom ‚Antichrist’ als hilfreiche Metapher an. Mit ihr ließ sich das Böse benennen; die rätselhaften Erscheinungen und tatsächlichen Bedrängnisse ließen sich deuten. Der ‚Antichrist’ erhob überall sein böses Haupt. Mit ihm war jederzeit zu rechnen. Denn sein Erscheinen galt als zwingend verbunden mit dem Ende der Zeit.

So kann es nicht verwundern, dass unser Fenster, das dem Jahr 1367 zugeschrieben wird, der Antichrist-Thematik breiten Raum gibt. Er selbst und seine Anhänger tragen ein Siegel auf der Stirn; in unserm Fenster ist dieses ‚Antoniuskreuz’ gut als ein Zeichen zu erkennen, das dem Buchstaben T ähnelt.  Unter den Anhängern des ‚Antichrist’ finden sich Juden wie Christen.  In einem grandiosen, zweiunddreißig Szenen umfassenden Zyklus wird sein schändliches Handeln Szene für Szene wie in einem Bilderbuch aufgeblättert. Aber mit welchem Sinn? Um den ‚Antichrist’ ständig auch während des Gottesdienstes und beim Empfang der Hostie vor Augen zu haben? Ihn womöglich zu verehren wie einen Fetisch? Mitnichten.

Der religionsgeschichtliche Vergleich zeigt, dass die Vorstellung von einem gewaltigen bösen Wesen, Untier oder Ungeheuer, das gegen das Gute gerichtet ist, schon in vorchristlicher Zeit, in orientalischen, nordischen und iranischen Mythen existiert. Immer ist diese Vorstellung mit apokalyptischen Szenarien verbunden. Die im Christentum entwickelte Vorstellung vom ‚Antichrist’ knüpft an eine Art Anti-Christologie in der Offenbarung des Johannes an; sie zeigt sich dort in dem Tier aus dem Abgrund, das dem Lamm Gottes gegenübergestellt wird. Auch andere apokalyptische Texte, etwa in den alttestamentlichen Büchern Daniel und Ezechiel, beeinflussen die Vorstellung vom Antichrist. Dabei wird in teilweise gleichgerichteter und teilweise gegenläufiger Parallele zum Christusgeschehen ein Konstrukt entwickelt, das in seinen Ähnlichkeiten zur Gestalt Christi verblüffend real ist.

Unsere Glasscheiben zeigen es: Wie Christus Mensch wurde aus dem Stamme Juda, so geht der Antichrist aus dem Stamme Dan hervor. Die drastische Beschneidungsszene des Antichrist ruft die Erinnerung an die Beschneidung Jesu hervor. Wie Jesus ist der Antichrist als Wanderprediger und Wundertäter unterwegs, der sogar Tote auferweckt. Ja er predigt sogar im Tempel. Das ist eine Anspielung darauf, dass die Vorstellung vom Antichrist in der Sicht bedeutender  Theologen wie Augustin (De diabolo et eius corpore, in: De doctrina Christiana) eine wichtige innerchristliche Fragestellung bearbeitet. Es geht um die Vorstellung, dass eine der Kirche und ihrem Herrn antitypische Gemeinschaft, eine Art satanische Gegenkirche in die Kirche hineinragt, die nur schwer von der wahren Kirche zu unterscheiden ist. Der Antichrist und das Antichristentum werden also gleichsam zu einer stets gegenwärtigen Dauerbedrohung der Kirche. Man mag sich dabei auch an das Martin Luther zugeschriebene Wort erinnern: „Wo der Herr ein Kirchlein errichtet, erbaut der Teufel einen Dom.“ Das Wirken des Antichrist findet in der allernächsten Nähe und in der eigenen Gegenwart statt.  Endzeit ist jetzt.

Der fränkische Abt Adso von Monzier-en-Der hat um 950 in der einprägsamen Form einer Vita  die altkirchliche Überlieferung vom Antichrist zusammengestellt. Diese Vita bietet gleichsam die Grundlage für viele volkstümliche Aneignungen dieser Vorstellung. Der falsche Christus erscheint typologisch als ein Mensch, der sich selbst zum Herrscher über Leben und Tod aufwirft und an die Stelle Gottes setzen will. In der nachgeahmten Gestalt des Christus versteht er es, die Menschen über seinen wahren Charakter zu täuschen. Er schwächt die Urteilskraft,  die Gut und Böse zu unterscheiden vermag; er will die Menschen vom christlichen Glauben abbringen und gaukelt ihnen haltlose Ideen vor.  Der Antichrist besticht Menschen durch Scheinwunder und macht ihnen verführerische Geschenke; auch schreckt er vor tückischer Gewalttat nicht zurück. Jene, die sich ihm entgegenstellen, Christen und Juden, wird er niedermachen wie die frommen Propheten Henoch und Elia.  Aber seiner Herrschaft ist eine Grenze gesetzt. Nach zeitlich befristetem Wüten wird ihm Gottes Eingreifen ein Ende machen. Christus oder der Erzengel Michael werden ihn auf dem Ölberg vernichten. Denen, die sich verführen ließen, bleiben noch vierzig Tage Zeit bis zur Umkehr vor dem dann stattfindenden Endgericht.

Das Werk des Abtes Adso wirkte durch seine Geschlossenheit und klare Linienführung. Es verbreitete sich schnell und wurde zur viel verwendeten Grundlage mittelalterlicher Vorstellungen vom Antichrist.

Die Vorstellung vom Antichrist hat eine große Suggestionskraft; aber sie steht nicht für sich selbst. Vielmehr erfüllt sie eine bestimmte Funktion im Blick auf die Vorstellung vom Ende der Welt als dem Gegenüber des Anfangs.  Denn nicht der Antichrist hat das letzte Wort. Am Ende seines verheerenden Wirkens erscheint der wahre Christus zum Weltgericht und macht dem bösen Treiben ein Ende. Dann werden auch jene gerettet sein, die wartend am Fluss Gosan, einem Nebenfluss des Euphrat, stehen und ohne Unterlass auf Gottes Gerechtigkeit hoffen. In unserm Fenster sind dies acht jüdische Männer, an ihren Hüten als solche zu erkennen. Diese Szene ist auf die Esra-Apokalypse zurückzuführen. In direkter Beziehung zu ihr steht jene andere Szene, die zeigt, dass sechs jüdische Männer im direkten Gegenüber den Antichrist in seiner Bösartigkeit erkennen und ihm nicht folgen.

Ohne Zweifel wussten die Auftraggeber und die Schöpfer dieses Fensters darum, dass die Juden bleibend zum Volk Gottes gehören und dass Gottes Verheißung für sie fortbesteht (Römer 9-11).  Aus diesem Grund und ebenso angesichts der Bezugnahme auf andere außerbiblische, jüdische Stoffe kann ich denen nicht folgen, die in den Fenstern von St. Marien judenfeindliche Darstellungen erkennen wollen. Dabei unterstreiche ich noch einmal, dass unser Fenster die Verführbarkeit von Juden und Christen ebenso thematisiert wie die Widerstandskraft beider gegen das Böse.

Der blasphemische Versuch des Antichrist, mit einer christusgleichen Himmelfahrt vom Ölberg den Sieg davonzutragen, wird nach unserer Darstellung von einem ungewöhnlich kleinen, bewaffneten Engel zunichte gemacht. Über allem aber sehen wir den Weltenrichter Jesus Christus, wie er uns in Matthäus 25 oder im 1. Kapitel der Johannes-Offenbarung vor Augen gestellt wird. Die Glastafel zu seiner Rechten macht dem Betrachter den Ernst der Lage durch das Bild der Höllenfahrt und der ewigen Verdammnis deutlich. In beiden Scheiben ist nichts Triumphales. Vielmehr erscheint der Weltenrichter in großem Ernst und blickt dem Betrachter direkt in die Augen, als wollte er sagen: Und, wie steht es mit dir? Unwillkürlich fällt einem das Psalmwort ein, in dem es heißt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90, 12).

Es ist also eine unzulängliche Verengung, wenn unser Fenster nur auf das Thema des Antichrist bezogen und nach ihm benannt wird. Diese Namensgebung taucht übrigens, wenn ich recht unterrichtet bin, erst Mitte des 20. Jahrhunderts auf. Wir sollten sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder hinter uns lassen.  Unser Fenster hat nur ein Thema: das Endgericht. Deshalb widme ich diesem Thema noch eine abschließende Überlegung.

Mit dem Endgericht verbindet der christliche Glaube keineswegs die Absicht, Menschen auf ihrem Weg zu ängstigen oder sie in unmündiger Abhängigkeit zu halten, wie immer wieder fälschlich behauptet wurde. Vielmehr handelt es sich um die eindringliche Mahnung, das eigene Leben in Verantwortung vor Gott und seinen Mitmenschen zu führen. Die christliche Vorstellung vom Jüngsten Gericht schärft das Bewusstsein dafür, dass jeder einzelne für das Gelingen des gemeinsamen Lebens in Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit mitverantwortlich ist. Dabei ist es ein großer Trost zu wissen, dass Gottes Gericht nicht das Gericht eines Scharfrichters, sonders des Wiederaufrichters ist. Solange man den Fragmenten unseres Lebens wenigstens ansieht, wie es von seinem Schöpfer gemeint ist, solange sollen wir dieses Leben zuversichtlich und verantwortungsbereit gestalten.

Darüber hinaus hält  die Vorstellung vom Jüngsten Gericht einen Trost für all jene bereit, die an der faktischen irdischen Ungerechtigkeit verzweifeln, weil sie sich ihr oftmals machtlos ausgeliefert sehen. Dieser Trost ist freilich alles andere als eine Vertröstung. Er baut auf eine Gerechtigkeit, vor der auch die Tyrannen dieser Welt rechenschaftspflichtig sind.

Die Glastafeln, mit denen wir uns heute beschäftigen, wurden geschaffen, um den Menschen einen inneren Zugang zu dieser Thematik zu ermöglichen. Sie richten sich damit auf einen Vorgang, um den es auch heute bei der Begegnung mit Kunstwerken geht. Der baskische Bildhauer Eduardo Chillida hat diesen Vorgang so beschrieben: „Kunst ist, was zwischen dem Menschen selbst und einem unerbittlichen Zeugen passiert – dem Werk.“  Den Menschen des Mittelalters war diese direkte Begegnung mit dem Kunstwerk noch selbstverständlich. Doch auch dem aufmerksamen Menschen unserer Tage  stößt Vergleichbares zu. Auch heute kann es geschehen, dass Betrachter von einem Kunstwerk so angerührt werden, dass sie mit einer veränderten Wahrnehmung der Welt und ihrer selbst davongehen. In der Begegnung mit Kunstwerken vergangener Jahrhunderte kann uns das genauso widerfahren wie in der Begegnung mit Kunstwerken unserer eigenen Zeit.

Auf diese Art der Begegnung sind auch die Marienfenster angelegt. Wenn wir uns dafür öffnen, räumen wir ihnen trotz ihrer Fremdheit und ihrer Herkunft aus anderer Zeit den Platz ein, der ihnen gebührt. Dann erst sind sie mehr als kostbare Museumsstücke. Dann werden sie wieder zu Kunstwerken, die in einer unmittelbaren Begegnung zu uns sprechen. Dann werden wir auch immer wieder zu ihnen zurückkehren und das Gespräch fortsetzen, weil das in diesen Glaskunstwerken aufbewahrte Wissen um Leben und Sterben auch bei vielen Begegnungen nicht auszuschöpfen ist.

Wenn in absehbarer Zeit alle erhaltenen Scheiben wieder an ihren Bestimmungsort zurückgekehrt sind, werden wir den Frankfurter Kirchenschatz in seiner vollen Schönheit wahrnehmen können. Immer wird uns dabei der Dank dafür begleiten, dass dieser Schatz uns anvertraut ist. Dieser Dank richtet sich an die Frankfurter Stadtherren des 14. Jahrhunderts und an die Kirche jener Zeit. Wir erinnern uns der treuen Hüter, die diese Fenster über die Jahrhunderte bewahrten und nach besten Kräften vor Verlust schützten. Auch jene vergessen wir nicht, die die Voraussetzungen dafür schufen, dass diese wertvollen Kunstwerke den Weg aus St. Petersburg zurück nach Frankfurt fanden und hier kundig restauriert und in die nach Kriegszerstörung wieder aufgerichteten Mauern eingesetzt werden. In einer Zeit flüchtig gewordener Grundorientierungen wird hier unserem kulturellen Gedächtnis und unserer eigenen Lebensorientierung eindrücklich aufgeholfen.

Denn immer wieder werden diese Bilder den Betrachter rufen und der Betrachter wird sich ihnen zuneigen wie in einem Zwiegespräch.