Ansprache über Jeremia 29,7 zur Einführung des Präsidenten des Diakonischen Werkes der EKD, Klaus-Dieter Kottnik, in der St. Marienkirche, Berlin

Wolfgang Huber

Die Losung des Tages sucht man sich nicht selbst aus. Plötzlich steht sie vor einem, ausgelost nach den Regeln der Herrnhuter Brüdergemeine, nach denen nun seit 276 Jahren jedem Tag des Jahres ein Wort aus dem Alten und eines aus dem Neuen Testament zugeordnet sind. Oft sind diese Worte von leuchtender Klarheit, gerade für diesen Tag. So ist es auch heute: „Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl.“ Unter dieses Wort aus dem Buch des Propheten Jeremia stellen wir den Dienst des neuen Präsidenten des Diakonischen Werks.

Da schreibt einer einen Brief an Leute in der Fremde, von Jerusalem nach Babel in die Gefangenschaft weggeführt. Eine Parallele zu dem Amt, um das es heute geht, besteht insoweit nicht. Wer Präsident des Diakonischen Werks wird, gerät nicht in Gefangenschaft. Wer von Stetten im Remstal nach Berlin kommt, verliert die Freiheit nicht. Ihre Frau, lieber Bruder Kottnik, die gebürtige Berlinerin an Ihrer Seite würde dem auch energisch widersprechen. Auch das Diakonische Werk wollte Berlin nie als einen Ort der Gefangenschaft ansehen und hat sich deshalb noch einen Standort in Stuttgart erhalten.

Man muss von einer anderen Seite kommen. „Suchet der Stadt Bestes“. Nicht nur in DDR-Zeiten hat man diesen Satz gern ohne seine Fortsetzung zitiert: „und betet für sie zum Herrn.“ Beides aber gehört zusammen. Durch Wort und Tat, Gebet und Beistand bei den Menschen, dem Gemeinwesen, dem Gemeinwohl zu sein, das ist der Auftrag, der uns Christen gegeben ist. Deshalb sind wir „Kirche für andere“. Darum sehen wir in den uns gegebenen Möglichkeiten diakonischen Wirkens ein Gottesgeschenk, Die Zeit liegt hinter uns, in der die Frage aufgeworfen wurde, ob es wichtiger sei, einem Menschen in Not beizustehen oder für gerechte Strukturen zu arbeiten, die diesen Menschen gar nicht erst in Not fallen lassen. Der heilige Martin, so sagte mir vor einiger Zeit ein Gesprächspartner, hätte nicht seinen Mantel teilen, sondern eine Mantelfabrik bauen sollen. Erstaunt fragte ich zurück, ob es nicht sinnvoll sei, beides miteinander zu verbinden. Wir wollen dem einzelnen helfen und zugleich am Bau einer menschenfreundlichen Gesellschaft mitwirken.

Das verbindet Kirche und Diakonie miteinander. Das Forum „Diakonie“ beim Zukunftskongress der EKD in Wittenberg hat vor wenigen Tagen die Ausgangslage wie folgt beschrieben: „Es gibt eine gemeinsame Herausforderung für Kirche und Diakonie durch die gesellschaftspolitische und globale Situation. In diesem Kairos liegt sowohl eine Chance als auch ein Risiko für die Verhältnisbestimmung von Kirche und Diakonie.“  So weit dieses Zitat. Wer Chancen ohne Risiken sucht, wird lange warten. Wer in den Risiken unserer Zeit nicht die Chancen sieht, wird die Zeit verpassen. Miteinander gilt es, nach Wegen zu suchen und Strukturen zu bilden, um gemeinsam „der Stadt Bestes“ zu suchen und zusammen „für sie zum Herrn“ zu beten.

Ein Bild zum zweiten Mal zu strapazieren, ist riskant. Dennoch will ich ein Bild noch einmal aufnehmen, das ich schon einmal verwendet habe. Wer je auf einem Tandem saß, weiß, dass es auf das Zusammenspiel beider Fahrer ankommt. Ein Tandem muss von beiden Fahrern in Bewegung gehalten werden. Das Zusammenspiel wirkt bis in die Fragen der Navigation hinein: Wenn der Vordermann eine Kurve fährt und der Hintermann sich in die andere Richtung wirft, dann ist ein Unglück nicht mehr weit. Eines ist jedoch beim Tandemfahren stets gewiss: beide Partner kommen zur gleichen Zeit an.

Um beiden Partnern das Fahren in der ersten Reihe zu ermöglichen, wurde das sogenannte „Nebeneinandem“ entwickelt, das im Englischen „sociable tandem“ heißt: Hier sind beide Sattel nebeneinander montiert. Das Gleichgewicht zu halten, ist bei dieser Konstruktion noch ein bisschen schwieriger.  Es braucht ein intensives Zusammenspiel und eine Verständigung über die zu wählende Richtung. Sociable Tandem oder eben: „Nebeneinandem“: darum geht es im Verhältnis zwischen Diakonie und Kirche.

Unsere Zeit ist von der Wiederkehr religiöser Fragen ebenso geprägt wie von einer dramatischen Wiederkehr sozialer Fragen. In unserer Gesellschaft verschärft sich die religiöse Pluralität, weil Unterschiede der religiösen Überzeugung öffentlich zum Thema werden. Unsere Gesellschaft ist zugleich durch sich verschärfende soziale Gegensätze geprägt. In einer Zeit, in der soziale Kluften tiefer werden, verkündigen wir die Botschaft von Gottes Gnade und wollen sie zum Leuchten bringen. So wollen wir dem religiösen wie dem sozialen Frieden dienen. Wir wollen verbindende religiöse Werte stärken; und wir wollen verbindenden sozialen Werten einen neuen Raum geben. Untrennbar gehört beides zusammen: die Hinwendung zu Gott und die Hinwendung zum Nächsten.

Ich wünsche Ihnen, lieber Bruder Kottnik, dass Sie in Diakonie und Kirche, aber auch in Gesellschaft und Staat auf Menschen treffen, die mit Ihnen zusammen der Stadt Bestes suchen und für sie zum Herrn beten. Mögen Sie Ihr Amt in der Gewissheit führen, dass viele Christen in unseren Kirchen Sie mit ihrem Gebet begleiten. Amen.