Festrede zum fünfzigjährigen Jubiläum des Militärseelsorgevertrags; Köln

Wolfgang Huber

I.

Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt es nur einen einzigen Vertrag. Das ist erstaunlich. Denn Verträge zwischen Staat und Kirche sind in Deutschland nicht ungewöhnlich. In allen Bundesländern sind sie bekannt. Zuletzt wurden in den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin solche Verträge geschlossen. Sie entsprechen dem Grundsatz der wechselseitigen Unabhängigkeit von Staat und Kirche. Sie gestalten gemeinsame Angelegenheiten; sie bringen die „fördernde Neutralität“ zum Ausdruck, die nach einer treffenden Formulierung des Bundesverfassungsgerichts das Verhältnis von Staat und Religion in unserem Land bestimmt. In ihnen spiegelt sich der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, der auch in einer religiös pluralen Gesellschaft unverzichtbar bleibt.

In den Bundesländern sind solche Verträge geläufig; aber auf der Ebene des Bundes gibt es bis zum heutigen Tag nur einen einzigen derartigen Vertrag. Er ist einem ebenso wichtigen wie heiklen Thema gewidmet: der Seelsorge in der Bundeswehr. Manche Vorwürfe waren mit seinen Anfängen verbunden. Noch nicht einmal zwölf Jahre waren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, nach dessen Grauen viele Christen davon überzeugt waren, Gott selbst habe dem deutschen Volk „die Waffen aus der Hand geschlagen“. Im geteilten Land, aber der noch geeinten evangelischen Kirche musste der Abschluss dieses Vertrags besonders viel Aufsehen erregen. Dass die DDR ihn scharf kritisierte, konnte nicht verwundern. Otto Dibelius, der evangelische Bischof von Berlin und unterzeichnende Ratsvorsitzende der EKD, musste sich gefallen lassen, dass er als „NATO-Bischof“ tituliert wurde; als Ehrentitel war das nicht gemeint. Seit dieser Anfangsdebatte haben sich beispielsweise an der Auseinandersetzung darüber, ob der Beamtenstatus der Militärpfarrer sich mit der Unabhängigkeit des geistlichen Amts vertrage, viele beteiligt; auch mich hat diese Frage schon in jungen Jahren bewegt.

Wie verträgt sich die Nähe zu den Menschen in Uniform mit der Freiheit des Evangeliums? Die Frage hat es in sich. Wer den Soldaten seelsorgerlich beistehen will, muss dazugehören; er muss mehr sein als „ein Gast mit Passierschein für die Wache“. Wer dazu gehören will, muss den Loyalitätspflichten eines Beamten entsprechen. Doch der Zeuge des Evangeliums muss zugleich der Freiheit des Glaubens Ausdruck geben und seiner Kirche unzweideutig verbunden sein. Einen eigenständigen Weg zu finden, der dem Auftrag der Kirche und der Verantwortung des Seelsorgers gerecht wird und zugleich die Erwartungen der Soldaten und die Loyalitätspflichten gegenüber dem Staat ernst nimmt: das ist die große Aufgabe, deren Gelingen wir heute, nach fünfzig Jahren, feiern. Ich habe es wieder und wieder kritisch erwogen und sage es deshalb nicht leichtfertig. Aber ich sage es: Auch im Vergleich mit der Regelung in anderen Ländern hat der Militärseelsorgevertrag Lob, Dank und Anerkennung verdient.

Nur einen Vertrag gibt es zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Evangelischen Kirche. Das muss nicht so bleiben. Sollten sich andere Regelungsmaterien zeigen, dann kann man an einem starken Vorbild Maß nehmen.

II.

In der Zeit vor 1989 musste dieser Vertrag sich in vielen Debatten bewähren. Ob militärische Gewalt angesichts der atomaren Drohung dem Frieden dienen könne, beschäftigte viele Menschen. Nach der Wende von 1989/90 stand die Frage an, welche Gestalt die Seelsorge in der gemeinsamen deutschen Armee annehmen solle. In der evangelischen Kirche wurde darüber lebhaft gestritten. Manchmal geschah das zum ungläubigen Staunen einer größeren Öffentlichkeit. Aber eine Kirche, die sich mit einer solchen Frage schwer tut, braucht sich dessen nicht zu schämen. Es ist der staatlichen Seite sehr zu danken, dass sie unserer Kirche die dafür nötige Zeit einräumte; durch einen Briefwechsel sowie durch eine Rahmenvereinbarung wurde der nötige Spielraum geschaffen, bis eine kirchengesetzliche Regelung es möglich machte, den Militärseelsorgevertrag auch auf die neuen Bundesländer zu erstrecken.

Einig war man sich dabei in dem Ziel, die kirchliche Bindung der Seelsorge in der Bundeswehr zu stärken und gleiche Arbeitsbedingungen für alle Seelsorgerinnen und Seelsorger zu schaffen. Heute beschreibt die Grundordnung der EKD die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr als Gemeinschaftsaufgabe.

Das Gewicht dieser Aufgabe steht jedem vor Augen, der Soldatinnen und Soldaten besucht – sei es hier in der Ausbildung oder in den Auslandseinsätzen. Am einen wie am anderen Ort wird der Dienst der Seelsorge in der Bundeswehr hoch geschätzt und intensiv in Anspruch genommen. Als Kirche sehen wir darin eine große Verpflichtung, der wir auch in der Zukunft entsprechen wollen.

III.

Dabei sind die dramatischen Veränderungen zu bedenken, unter denen sich der seelsorgerliche Dienst an den Soldatinnen und Soldaten vollzieht.

Die Bundeswehr wandelt sich von einer Streitkraft mit dem Schwerpunkt auf der Landesverteidigung zu einer weltweit operierenden Einsatzarmee. Das wirkt sich auf Aufgaben, Umfang und Struktur der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr aus. Die personelle Verkleinerung der Armee hat Folgen für die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge, die Zahl der Leitenden Dekane eingeschlossen. Nicht nur der Bundeswehr, sondern auch der evangelischen Seelsorge wird im Zuge der Transformation eine erhebliche Anpassungsleistung abverlangt.

Vom Anwachsen der Auslandseinsätze muss man beeindruckt sein. Freuen kann man sich darüber nicht. Denn darin zeigt sich das Ausmaß der Friedensgefährdung in unserer Zeit. Jeder Auslandseinsatz ist mit neuen Risiken verbunden; ob er zum Frieden beiträgt, ist immer wieder ungewiss. Das Leben der Soldatinnen und Soldaten ist im Auslandseinsatz besonders gefährdet; die Sorgen der Angehörigen, die zurückbleiben, sind groß. Solche Auslandseinsätze müssen deshalb politisch ernsthaft geprüft und militärisch sorgfältig vorbereitet werden. Sie müssen aber auch seelsorgerlich intensiv begleitet werden.

Die evangelische Seelsorge entsendet gegenwärtig jährlich bis zu einem Drittel ihrer Seelsorger in die Auslandseinsätze. Soldatinnen und Soldaten sehen sich in diesen Einsätzen nicht nur militärischen Herausforderungen gegenüber. Sondern sie sind zugleich den Fragen von Leben und Tod, von Sinn und Ziel menschlichen Handelns ausgesetzt. Dass der Glaube ein tragfähiges Lebensfundament bildet, erschließt sich manchem in einer solchen Lage ganz neu. Nicht selten lassen sich Soldatinnen und Soldaten während der Auslandseinsätze taufen. Von den Gottesdiensten im Camp wird lange berichtet.

Das ist umso bemerkenswerter, als die Zahl der Konfessionslosen in der Bundeswehr seit der Wiedervereinigung deutlich gestiegen ist. Die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr wendet sich allen Soldatinnen und Soldaten zu. Sie schuldet das Evangelium von der Freiheit in Jesus Christus nicht nur den Mitgliedern der Kirche, sondern allen Menschen, die nach einem tragfähigen Grund für ihr Leben fragen.

Davon zu unterscheiden ist der Beitrag, den die Seelsorgerinnen und Seelsorger im Rahmen des Lebenskundlichen Unterrichts zur ethischen Reflexion und Sinnorientierung der Soldatinnen und Soldaten leisten. Auch künftig wird der Freiraum gebraucht, den der Lebenskundliche Unterricht bietet; deshalb bin ich zuversichtlich, dass die Überarbeitung der Konzeption für diesen Unterricht zu einem guten Abschluss kommen wird. Auch künftig brauchen Soldaten einen Ort, an dem sie auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen zur ethischen Urteilsbildung befähigt und ermutigt werden.

In ihren Beiträgen zu dieser Urteilsbildung orientiert sich die evangelische Kirche am Leitbild des „Gerechten Friedens“. Der Friede kann nur dann nachhaltig gewonnen und gesichert werden, wenn er mit der Gerechtigkeit verbunden ist und wenn die Gewalt der Herrschaft des Rechts unterworfen wird. In diesem Geist begleiten wir Soldatinnen und Soldaten. Mit ihnen wollen wir die Überzeugung bestärken, dass Frieden und Sicherheit niemals allein mit militärischen Mitteln zu erreichen sind. Sondern der Frieden braucht politische Verständigung, rechtlichen Schutz und soziale Verwirklichung. Und nicht zuletzt braucht er Versöhnung.