Freiheit und soziale Gerechtigkeit - Sozialer Protestantismus in der globalisierten Welt

Wolfgang Huber

I.

Für das, was wir heute „Sozialen Protestantismus“ nennen, muss man zumindest vier Wurzeln nennen: die biblische Botschaft, den reformatorischen Aufbruch, die protestantische Zuwendung zur sozialen Frage und schließlich das Ja der Kirche zu Gerechtigkeit und Solidarität. 

        Die biblischen Wurzeln. Die Geschichte der Kirche ist immer wieder durchzogen von Tendenzen, die biblische Botschaft zu spiritualisieren und ihre soziale Direktheit stillzustellen. Eine Kirche, die sich als Teil dieser Welt versteht, kann sich leichter mit der Aussage arrangieren, das Reich Jesu sei nicht von dieser Welt, als mit der Seligpreisung der Armen. Noch in dem gerade erschienenen Buch von Papst Benedikt XVI. über Jesus von Nazareth kann man eine solche Tendenz zur Spiritualisierung finden. Dass Jesus das nahe Gottesreich verkündigt, wird in dem Sinn gedeutet, dass er damit Gott selbst bringt. Aber dass er damit ausdrücklich die alttestamentliche Verheißung verbindet, nach welcher den Armen das Evangelium verkündigt und den Gefangenen gepredigt wird, dass sie frei seien, den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, das tritt ganz in den Hintergrund. „Heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Ohren.“ Diese Kühnheit in Jesu Antrittspredigt in Nazareth wird in unseren allzu friedlichen Rezeptionen der alttestamentlichen Prophetie wie der Verkündigung Jesu gern übergangen. Aber wirklich stillstellen lässt sich dieser soziale Impuls der biblischen Botschaft nicht. In unserer Zeit ist er neu ins Bewusstsein gehoben worden in der Verpflichtung auf die „vorrangige Option für die Armen“, die inzwischen eine gemeinsame ökumenische Leitlinie für die soziale Verantwortung der Kirchen darstellt. Das in diesen Monaten zehn Jahre alte Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 hat sich bewusst und ausdrücklich an diese Leitlinie angeschlossen.

        Der reformatorische Aufbruch. Die Reformation stieß das Tor auf zur entschiedenen Bejahung der weltgestaltenden Verantwortung der Christen. Sie zielte auf den inneren Zusammenhang zwischen Glaubensgewissheit und verantwortlichem Tätigsein. Das Handeln aus Glauben wurde gerade als Folge des Glaubens selbst neu ernstgenommen, zugleich aber befreit von der Vorstellung, es sei ein Mittel zum Erwerb des Heils. Das Handeln im Geist der Nächstenliebe wurde vielmehr klar und unzweideutig als eine Frucht des Glaubens verstanden, der sich auf die unverdiente Gnade Gottes richtet. Von Anfang an hat dies für die Betätigung in der Wirtschaft, in Bildung und Ausbildung, aber ebenso auch in der Politik gegolten. Christen sind zur Selbst- und eben gerade auch zur Mitverantwortung für das Ganze berufen - gerade weil sie nicht nur für sich allein, sondern für den Nächsten und darin für Gott leben, der der Herr der ganzen Welt ist und vor dem, aktuell gesprochen, ein verhungerndes Kind in Darfur ebensoviel gilt wie ein Bill Gates. Die christliche Grundüberzeugung, in der sich Gottvertrauen und der Einsatz für den Nächsten miteinander verbinden, gewann darin eine kulturprägende Bedeutung; im reformatorischen Berufsgedanken wurde das wie in einem Brennspiegel zusammengefasst.

        Die protestantische Zuwendung zur sozialen Frage. Die Geburtstunde dessen, was wir heute als Sozialen Protestantismus vorfinden, liegt im Engagement von Protestanten angesichts der ungelösten sozialen Frage im 19. Jahrhundert. Die damaligen Wortführer entwickelten in der Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Kapitalismus, der rapiden Industrialisierung und dann später auch der Demokratisierung Antworten, die, deutlich erkennbar, bis heute in wichtigen Grundelementen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung in Deutschland fortleben. An einem reinen Wirtschaftsliberalismus, wie man ihn in den angelsächsischen Ländern vorzufinden glaubte,  wurde Kritik geübt; die Notwendigkeit eines verantwortlichen und gestaltenden Staates wurde betont. Mir erscheint es nicht als richtig, diese Haltung pauschal als sozialromantischen Antikapitalismus zu beschreiben – wenn dies auch als ein Element in diesem Prozess durchaus wahrzunehmen ist. Aber im Kern ging es um Sicherheiten gegenüber den sozialen Risiken, damit die Menschen über ihre unmittelbare Notsituation hinausblicken und sich als selbstbewusste Staatsbürger begreifen konnten. Der keimende Sozialstaat wurde so zur Grundlage wirklicher Freiheit für alle – was die marktwirtschaftliche Ordnung allein nicht gewährleisten konnte.

        Das Ja der Kirche zu Gerechtigkeit und Solidarität. Der Soziale Protestantismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war eine der Gestalten des „freien Protestantismus“. Mit der Einsicht in den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, die durch die Erfahrungen der Weimarer Zeit, durch die Erfahrungen des Kirchenkampfs und durch den Neubeginn nach 1945 vorangetrieben wurde, kam es zu einer Verkirchlichung der Impulse des freien Protestantismus auch in dieser Hinsicht. Das hatte sein Gutes: Das Eintreten für Gerechtigkeit und Solidarität wurde als Teil des kirchlichen Auftrags verstanden. In kirchlicher Industrie- und Sozialarbeit, in Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Fragen, in Kooperationen und Bündnissen zu sozialpolitischen Themen fand das seinen Niederschlag. Das gemeinsame Wort der Kirchen und zuletzt die Denkschrift über Gerechte Teilhabe sowie die Kundgebung der EKD-Synode vom Herbst 2006 legen davon auf eindrucksvolle Weise Zeugnis ab. Doch zugleich zeigt sich ein verstärktes Bedürfnis dafür, dass der Soziale Protestantismus nicht nur ein Element amtskirchlichen Handelns sein kann, sondern im Selbstverständnis von Protestanten im Beruf, an Schaltstellen der Gesellschaft wie in politischer Verantwortung verwurzelt sein muss. Diesem Anliegen sollte, so finde ich persönlich, unsere Anstrengungen beflügeln. Daran beteilige ich mich gern. Ich tue das auch in Erinnerung an meinen Großvater Walter Simons, der als Präsident des Evangelisch-Sozialen Kongresses zu Beginn des letzten Jahrhunderts sich an den Bemühungen um den Sozialen Protestantismus als Teil des freien Protestantismus auf seine Weise beteiligt hat.

II.

Lassen Sie mich in einem zweiten Schritt einige Grundelemente des Sozialen Protestantismus in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft in Erinnerung rufen.

(1) Zu den bekanntesten Personen des Sozialen Protestantismus gehören die Initiatoren der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden freien Werke der Diakonie und Inneren Mission. Johann Hinrich Wicherns Rauhes Haus in Hamburg, Theodor und Friederike Fliedners Diakonissenarbeit in Kaiserswerth oder auch Gustav Werners Bruderhaus in Reutlingen sind bekannte Beispiele dafür. Ihre Leistungen treten besonders plastisch hervor, wenn sie mit dem damaligen Handeln der Kirche verglichen werden. Denn diese brachte, nicht zuletzt wegen ihrer Einbindung in den obrigkeitlichen Staat, nur selten adäquate Reaktion auf die sozialen Notlagen jener Zeit hervor. Allerdings ist hier die eindrucksvolle positive Ausnahme von Gerhard Uhlhorn zu nennen, damals Abt zu Loccum; seine offensive Auseinandersetzung mit sozialen Fragen führte zu der Gründung bis heute wichtiger diakonischer Einrichtungen wie des Henrietten- und des Friederikenstifts in Hannover. Die Wirkung der freien Werke stieß jedoch dort an ihre Grenzen, wo sie ihre Arbeit als Beitrag zur Erhaltung der überkommenen, aber in völliger Auflösung befindlichen ständischen Ordnung sahen. Andere dagegen erkannten, dass die soziale Frage nur dann gelöst werden könnte, wenn sich auch die Ordnung des Politischen und der Wirtschaft wandelten.

        Die Einsichten für heute? Es geht nicht ohne die Zivilgesellschaft. Sie kann in ihrer Bedeutung als Nährboden für soziale Innovationen kaum überschätzt werden. Staatliches Handeln muss unterstützend und stärkend auf sie bezogen sein – darf sie aber weder überfordern noch ersetzen wollen. In dieser Hinsicht haben sich auch Protestanten das Subsidiaritätsprinzip angeeignet, das staatlichem Handeln Grenzen setzt. 

(2) Auch unter den damaligen Befürwortern einer politischen Neuordnung finden sich engagierte Protestanten an prominenter Stelle. Besonders einflussreich werden „staatssozialistische“ und christlich-soziale Strömungen, die im 1890 gegründeten Evangelisch-Sozialen Kongress die Grundlagen eines in christlicher Verantwortung wurzelnden sozialstaatlichen Interventionismus diskutieren. Darüber hinaus bereiten sie auch die praktische Umsetzung dessen vor, was dann unter dem Etikett der Bismarckschen Sozialgesetzgebung als protoypisches Sozialstaatsmodell etabliert wurde und bis auf den heutigen Tag als Referenzpunkt fungiert.

        Die Einsichten für heute? Der Staat darf sich nicht übernehmen, aber: Es geht nicht ohne den Staat. Doch kann dies nicht mehr die vordemokratisch, fürsorglich-patriarchalische Obrigkeit sein. Die unserer Zeit gemäße Rolle des Staates ist die des Garanten sozialer Teilhaberechte. Damit sie eingelöst werden können, muss der Staat dafür sorgen, dass öffentliche Güter (soziale Sicherung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Zugang zur Kultur)  bereit gestellt werden, die allen – besonders aber den sozial Schwächeren – zugute kommen. Er soll dies nicht alles selber machen – muss aber die Rahmenordnung konsequent setzen. In dieser Hinsicht brauchen wir weiter einen starken Staat.

(3) Ein drittes Beispiel. Inmitten der menschenverachtenden, mörderischen Staatlichkeit des deutschen Faschismus entwickelten einige Protestanten, die Gelegenheit und Mut hatten, über die Diktatur hinaus zu denken, neue Ideen und Konzepte für eine verantwortliche Wirtschafts- und Sozialordnung, die das Interesse der Menschen, Wohlstand zu erwerben mit sozialem Ausgleich verband. Die 1943 im Freiburger Kreis entstandenen Entwürfe für eine Neuordnung von Staat und Wirtschaft und die Weiterentwicklung dieser Ideen zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft messen zudem den Grundrechten des Einzelnen zentrale Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund ist auch das von Alfred Müller-Armack zur Beschreibung der Sozialen Marktwirtschaft geprägte und zum Motto der Stiftung Sozialer Protestantismus gewählte Begriffspaar „Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ zu sehen: Freiheit ist hier weit mehr als nur eine unternehmerische Freiheit, sie ist als die Freiheit des Individuums gemeint. Und um sie zu sichern, braucht es nicht nur die freiheitliche politische Ordnung, sondern auch eine Ordnung der Wirtschaft, die den Wettbewerb sichert und stärkt und damit Macht kontrolliert. Soziale Gerechtigkeit ist hier weit mehr als die Garantie, dass alle ihr Auskommen haben; vielmehr funktioniert sie als Gestaltungskriterium für die Ordnung der Wirtschaft: Die Forderungen nach Gewinnbeteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer leiten sich daraus ab.

        Und die Einsichten für heute? Ohne die Selbststeuerung der Wirtschaft durch Markt und Wettbewerb geht es nicht. Aber Märkte sind keine Naturereignisse, sondern Institutionen und Konventionen, die vielfältige kulturelle Vorraussetzungen haben und einer sensiblen Regelung bedürfen. In der Wahl derjenigen gesellschaftlichen Bereiche, die der Marktlogik unterworfen werden, und in der Rahmensetzung für diese Märkte werden Werteentscheidungen - und hoffentlich nicht nur Machtverhältnisse - ausgedrückt. Die Funktion des Staates als Korrektiv und Verkörperung des Allgemeinwohls in diesen Prozessen darf nicht aufgegeben werden.

Zivilgesellschaft, Staat und Markt: ihr Zusammenspiel ist immer wieder neu zu justieren. Es bleibt gestaltbar. Wie viel Markt wir wollen, wie viel Staat wir brauchen und wie viel Zivilgesellschaft wir sind ist nicht naturgesetzlich vorgegeben, sondern beruht auf Entscheidungen, politischen wie individuellen. Sie wiederum gründen in Wertorientierungen. Im Rückblick ist deutlich geworden: Wir stehen in dieser Hinsicht auf den Schultern von Riesen, die den Weg gewiesen haben.

III.

Aber blicken wir nun auf die heutige Zeit und die aktuellen Entwicklungen der letzten Jahre. Mit der Globalisierung stellen sich neue wirtschaftliche und soziale Fragen, die mutige Entscheidungen erfordern. Technologische Entwicklungen haben Zeit und Raum in nie gekannter Weise schrumpfen lassen. Wir leben nicht länger in geschlossenen Häusern, in denen wir unseren Geschäften nachgehen können. Fenster und Türen stehen offen und der Wind weht herein. Entscheidungen, die irgendwo am anderen Ende der Welt getroffen werden, beeinflussen nachhaltig unser Leben. Das ist zunächst einmal gut so, denn wir spüren so, was der christliche Glaube immer wusste, dass alle Menschen als Kinder Gottes zusammengehören und aufeinander angewiesen sind. Aber das alles macht auch Angst, weil gewohnte Ordnungen weg brechen und vieles, was als normal galt, nicht mehr normal ist.

        Die Globalisierung hat viele Facetten. Sie schlägt sich in einem erheblich gesteigerten Wettbewerb der Unternehmen nieder – und sie findet auch statt als ein Wettbewerb der Staaten und Regionen samt ihrer jeweiligen Bevölkerungen; ein Wettbewerb der Gemeinwesen. Unternehmen sind hier die Nachfrager, die über ihre Standortentscheidungen Beschäftigung, Einkommen und Steueraufkommen großen Einfluss auf die internationale Verteilung von Ressourcen ausüben. Angesichts der zunehmenden globalen Vernetzung industrieller Produktionsprozesse und der sich ähnlich schnell verändernden Spielräume nationalstaatlicher Politik ist der Anpassungsdruck auf bestehende Strukturen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft spürbar. Es handelt sich um einen neuen Wettbewerb innerhalb des einen kapitalistischen Systems unter dem Vorzeichen wirtschaftlicher Effizienz. Im Gegensatz zum Kalten Krieg ist das Ziel aber nicht mehr eine Systemlegitimation durch ökonomische und soziale Befriedung, sondern etwas, was man als „systemische Produktivität“ bezeichnen kann, die an der Bereitstellung leistungsfähiger Infrastruktur, funktionierender Märkte und qualifizierter Arbeitskräfte gemessen wird. Es gibt nicht mehr den großen Gegensatz zwischen der „freien Marktwirtschaft“ und den Planwirtschaften, sondern eine Vielfalt von unterschiedlichen Kapitalismen und damit verbundenen wirtschafts- und sozialpolitischen Pfaden in die Zukunft. Dabei kommt es zu einem verschärften Benchmarking. Welcher Weg – in Europa: der skandinavische, der angelsächsische, der südeuropäische oder der mitteleuropäische und deutsche Weg – erreicht einen hohen und gut verteilten Wohlstand für alle? Welcher Weg sichert den inneren Frieden und bietet Chancen auf Teilhabe für möglichst viele seiner Bürger? Darüber gehen die Diskussionen.

        In dieser Situation stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit neu. Es ist vor allem die Erfahrung, in neuer Weise den Mechanismen der weltweiten Finanzmärkte ausgeliefert zu sein, die uns in den letzten Jahren in Deutschland – aber auch anderswo – zu schaffen gemacht hat. Früher konnte man dein Eindruck haben, dass der in Deutschland erwirtschaftete Reichtum in irgendeiner Form auch wieder investiert wurde und so für den Erhalt von Arbeitsplätzen sorgte. Zwar war die Einkommens- und Vermögensverteilung nie wirklich gerecht, aber man konnte doch den Eindruck haben, dass alle Menschen genug zum Leben und zu Teilhabe abbekamen. Heute nun scheint es unter dem Einfluss der globalen Kräfte so zu sein, dass sich die Erzeugung von Reichtum von der Welt der realen Produktion abgekoppelt hat. Das wirklich große Geld wird auf den Finanzmärkten verdient – allerdings dort auch bisweilen wieder verloren. Profiteure dieser Entwicklung sind die Anleger großer Vermögen – zu denen allerdings auch große Renten- und Pensionsfonds gehören. Dies alles treibt die Gewinnerwartungen hoch und lässt auch deutsche Unternehmen in einer früher nicht gekannten Weise Renditemaximierung betreiben. Unter dem Einfluss dieser Entwicklungen geht die Schere zwischen Armen und Reichen immer weiter auf – in einem Tempo, das den sozialen Frieden bedroht. Es scheint ja bisweilen so zu sein, dass es leichter ist, mit dem Abbau von Arbeitsplätzen Geld zu verdienen als mit ihrer Schaffung. Das aber ist eine höchst gefährliche Entwicklung, die die Lebensleistung von Millionen von Menschen in Frage stellt.

        Stärker als bisher sollte unser Land deswegen auf eine effiziente Regulierung der internationalen Finanzmärkte hinwirken. Hier muss ein hohes Maß an Transparenz zur Steuerung eines fairen Wettbewerbs mit der verstärkten Abschöpfung von spekulativen Gewinnen einhergehen – wie dies in der Vorbereitung unserer letzten Synode betont wurde. Es gilt dann auch, ethische Maßstäbe auch für das Verhalten an der Börse zu entwickeln und ihre Einhaltung zu kontrollieren. In der vom sozialen Protestantismus mitgeprägten deutschen Tradition sind Unternehmen nie nur den Shareholdern, sondern auch den Mitarbeitenden verpflichtet und tragen Verantwortung für das Gemeinwohl. Statt den Standort Deutschland in dieser Hinsicht interessebezogen schlecht zu reden, sollten wir würdigen und festhalten, dass es hier in der Sozialpolitik – und nicht zu vergessen auch in Traditionen de Arbeitsrechts – immer schon eine Option für die Schwächeren und Armen gegeben hat.

        Die Synode der EKD in Würzbug im November 2006 hat zu diesen Fragen festgehalten, dass Reichtum in einer Gesellschaft zur Sicherung des allgemeinen Wohlstandes herangezogen werden muss, um Unsicherheiten, Unfreiheiten und Beeinträchtigungen für alle zu reduzieren. Dies gilt auch weltweit: Wird Reichtum zu einem angemessenen Teil dazu eingesetzt, Maßstäbe weltweiter Gerechtigkeit zu erreichen? Oder aber kommt er überhaupt nur durch die ungerechte Ausnutzung der Armen zustande? Mit diesen Fragen knüpft der Protestantismus an den überkommenen Überzeugungen von einer dem Leben und den Menschen dienenden Wirtschaftsordnung an. Davon werden wir nicht abrücken: Die Wirtschaft ist nicht um ihrer selbst willen da – sie hat einen Platz in der Schöpfung Gottes – aber eben in ihr – nicht ihr gegenüber.

IV.

Das Stichwort Schöpfung Gottes leitet über zu den uns alle in den letzten Wochen besonders dringlichen gewordenen Fragen der Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

        Als vor einigen Monaten der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Nicholas Stern, dem britischen Schatzamt seinen Bericht über die ökonomischen Folgen des Klimawandels vorlegte, wurde über seine Ergebnisse weltweit berichtet, weil seine Einsichten trotz und gerade wegen der grassierenden apokalyptischen Szenarien mut machend waren. Es reiche durchaus aus, so seine Einschätzung, ein Prozent des jährlichen globalen Sozialprodukts einzusetzen, um die Erderwärmung in einem noch kontrollierbaren Rahmen zu halten. Demgegenüber riskiere man durch den Klimawandel einen ökonomischen Einbruch, der nur noch mit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und all ihr folgenden sozialen und politischen Verwerfungen zu vergleichen sei. Es kostet uns nur 1 Prozent unseres Reichtums, wenn wir die gefährlichen unökologischen Pfade verlassen wollen und endlich die Rechte kommender Generationen – unserer Kinder – mit in unsere Kalkulationen einbeziehen.  Ähnliche Relationen treten übrigens in den Blick, wenn man die weltweiten Rüstungsausgaben mit den Ausgaben ins Verhältnis setzt, die im Bereich der Entwicklungspolitik für die Verwirklichung der Milleniumsziele ausgeben müsste.

        Im Sinne der uns verbindenden Traditionen kann man nun fragen: Liegt die Lösung in einer globalen öko-sozialen Marktwirtschaft? Schon im Gemeinsamen Wort der beiden großen Kirchen von 1997 wurde hoffnungsvoll davon gesprochen, die bewährten Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft um eine ökologische Komponente zu ergänzen und ein solches Wirtschaftsmodell weltweit zu verwirklichen. Der dringliche Veränderungsbedarf liegt in den westlichen Industriestaaten. Die Globalisierung der Produktionsprozesse geht einher mit dem Versprechen der Globalisierung des westlichen Konsumniveaus. Doch nichts spricht dafür, dass unser Ressourcenverbrauch weltweit realisierbar wäre. Anderen ihn vorzuenthalten, wäre jedoch in keiner Weise zu rechtfertigen. Deswegen müssen die Veränderungen bei uns beginnen. Vor allem braucht es entschiedene Maßnahmen zur Einführung von wirksamen Anreizen zur schnelleren Umstellung der Energieerzeugung auf nachwachsende Rohstoffe und regenerative Energiequellen. Besonders wichtig ist es, Energiesparen als Energiequelle zu nutzen. Der in diesem Zusammenhang von Ernst Ulrich von Weizsäcker genannte Faktor Vier ist noch längst nicht genutzt

V.

Zum Abschluss sei gesagt: Sozialem Protestantismus geht es um die Teilhabe der Menschen – um „Gerechte Teilhabe“, um es mit dem Titel unserer letzten Denkschrift zu sagen, an den Möglichkeiten der Gesellschaft. Das umfasst elementare Lebensrechte, den Schutz vor Lebensrisiken – aber auch die Wahrnehmung politischer und kultureller Partizipation. Gerechte Teilhabe ist auf diese Weise ein anspruchsvolles Konzept: es geht um weit mehr als nur um das, was man herkömmlich als Bekämpfung von Armut begreift. Das Ziel ist die gleichberechtigte Integration der Bürger als selbstverantwortliche und für sich selbst Sorgende, die ihre Kräfte zum Wohle aller einsetzen. Das ist die Vision des sozialen Protestantismus. Sie ist, wenn sie so wollen, eine liberale Vision – aber eine, die die sozialen Voraussetzungen der Realisierung der Freiheit jedes einzelnen nicht vergisst sondern in den Vordergrund stellt. Ohne soziale Sicherheit, dem Schutz vor den sozialen und gesundheitlichen Lebensrisiken, bleibt Teilhabe auf wenige Reiche begrenzt.

        Damit alle Chancen haben, auch in höchste Positionen aufsteigen zu können, braucht es vor allem ein befähigendes und den einzelnen stärkendes Bildungswesen, das sozial Schwächere erkennbar fördert. Die Wirtschaftsordnung muss so gestaltet sein, dass sich in ihr eine faire Kooperation aller vollziehen kann, die Leistung belohnt und nicht nur Erfolg. Da wichtigste Mittel hierzu ist ein funktionierender und Fairnessregeln unterliegender Wettbewerb. Ökonomische Macht muss kontrolliert werden, nicht zuletzt auch damit es unternehmerische Freiheit gibt und Unternehmer nicht zu Getriebenen werden, die gar nichts mehr unternehmen können. Aber alle Chancengleichheit kommt an ihre Grenzen, und die Ungleichheiten würden explodieren, wenn es nicht immer wieder Korrekturen vor allem an den Vermögensverhältnissen gibt. Deswegen stehe ich eine Erhöhung der Erbschaftssteuer positiv gegenüber.

        Die Armuts-Denkschrift hat die uns leitenden Wertentscheidungen folgendermaßen zusammengefasst: „Eine gerechte Gesellschaft muss so gestaltet sein, dass möglichst viele Menschen in der Lage sind, ihre jeweilige Begabungen sowohl zu erkennen, als auch sie auszubilden und schließlich produktiv für sich selbst und andere einsetzen zu können. Eine solche Gesellschaft investiert folglich, wo immer es geht, in die Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen zu Gestaltung ihres eigenen Lebens sowie der gesamten Gesellschaft in ihren sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen.“ Jeder und jede soll seine Fähigkeiten zur möglichst eigenverantwortlichen Sicherung des Lebensunterhalts und im Interesse aller solidarisch einsetzen – und muss dies auch können.

        Hinter diesem Leitbild einer teilhabegerechten Gesellschaft steht die Überzeugung, dass Menschen von Gott dazu berufen sind, ihr Leben für sich selbst und für andere einzusetzen. Dieses Motiv wird nicht nur von Christen und auch nicht nur von Protestanten ernst genommen und verfolgt. Aber sie sollten es auf jeden Fall tun.