Solidarität oder Egoismus - die Verantwortung von Staat und Kirche

Wolfgang Huber

„Herausforderung und Visionen für das Gesundheitssystem der Zukunft. - Welche Rolle haben Staat und Kirche?“
Deutscher Evangelischer Kirchentag, Köln

1.
Ein tief in unserer Kirche verwurzelter, durch schwere Krankheit gezeichneter Mensch schrieb mir vor kurzem, aus dem Gesundheitswesen solle die Kirche sich herausziehen. Sie könne das nicht besser als andere. Die diakonischen Krankenhäuser hätten nicht in ausreichendem Maß ein eigenes Profil. Die Diakoniestationen pflegten auch nicht viel anders als andere ambulante Dienste.

Mich hat dieser Brief schockiert. Ich hatte keine Chance mehr, mit dem Absender darüber zu sprechen. Er starb kurz darauf, aber versicherte mir noch einmal: Er sei gut versorgt, bestens betreut – ob von einer kirchlichen Einrichtung oder nicht, darauf kam es ihm nicht mehr an.

Mich ließ dieser Brief nicht mehr los. Ich erinnerte mich an Zeiten, die ich noch selbst erlebt hatte, in denen die Unterschiede deutlicher waren. Ich habe noch selbst die Gemeindeschwester mit ihrer Tracht durch die Straßen radeln sehen; ich ließ mir von ihr sagen, welchen Kranken ich möglichst bald als Pfarrer besuchen sollte. Ich weiß noch, wie unsere Familie einem gemeindlichen Krankenpflegeverein angehörte, der dafür sorgte, dass kein Gemeindeglied in seiner Krankheit vereinsamte. Und ich weiß noch, wie evangelische Krankenhäuser ein unverkennbares Profil hatten, nicht nur durch die weißen Hauben der Diakonissen, sondern auch, weil die Ärztinnen und Ärzte sich zu ihrem Glauben bekannten.

2.
Christliche Diakonie wendet sich immer den Menschen zu, die in der jeweiligen Gesellschaft nicht zureichend beachtet und versorgt werden. Das entspricht dem biblischen Auftrag. Ein für allemal wird uns das im Gleichnis vom barmherzigen Samariter vor Augen gestellt. Es steht in der kirchlichen Tradition für die Hilfe gegenüber dem Bedürftigen, der nach christlichem Verständnis „mein Nächster“ ist.

Wir erinnern uns: Der Samariter, ein Außenseiter in der damaligen Gesellschaft in Israel, kümmert sich um einen unter die Räuber gefallenen Menschen, nachdem ein Priester und ein Levit achtlos an ihm vorüber gegangen waren. Er versorgt die Wunden und übergibt den Verletzten, bevor er seines Weges zieht, einem Wirt zur weiteren Pflege. Dabei vergisst er nicht, ihm zwei Silbergroschen zu hinterlassen und verspricht, falls dieser Betrag nicht ausreichen sollte, auf dem Rückweg auch die zusätzlichen Kosten zu begleichen.

In der christlichen Tradition steht dieses Gleichnis dafür, dass die Hinwendung zum Nächsten und die Hilfe für ihn im menschlichen Handeln den höchsten Rang haben. Diesem Gleichnis geht nämlich die Frage voraus: „Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ (Mk 10,17) Die Antwort sagt: Frömmigkeit allein, wie sie Priester und Levit in dem Gleichnis verkörpern, führt nicht zum Heil. Die helfende Zuwendung zu jedem Menschen als Gottes Ebenbild ist integraler Bestandteil des gelebten Glaubens. Aber die Zuwendung zum Nächsten hat nicht nur dessen körperliches Wohlbefinden, sondern die Einheit von Leib und Seele im Blick.

Noch etwas Weiteres können wir aus diesem Gleichnis lernen. Der grundsätzlich positiven und hilfsbereiten Einstellung zum Nächsten widerspricht nicht, dass Geld ins Spiel kommt und dass die Sorge für den Nächsten delegiert wird. Verglichen mit dem Priester und dem Leviten war der Samariter eher zur Hilfeleistung im Stande. Die beiden anderen waren zu Fuß unterwegs; er hatte ein Reittier, auf dem er den Verwundeten transportieren konnte. Auch Wein und Öl hatte er dabei, um die Wunden zu versorgen. Doch auf Dauer übernimmt der Samariter nicht selbst die Pflege; er übergibt den Kranken vielmehr an jemanden, der sich besser um ihn kümmern kann und zahlt dafür. Das Geld wird zum Medium der Nächstenliebe.

3.
Christliche Initiativen haben sich immer dort besonders engagiert, wo Menschen sich nicht selbst helfen konnten. Der Samariter griff ein, als der unter die Räuber Gefallene zur Selbsthilfe nicht mehr fähig war. Die mittelalterlichen Hospize oder die evangelischen Diakonissenhäuser des 19. Jahrhunderts wandten sich Kranken zu, die nicht für sich selbst sorgen konnten. Aber die Einrichtungen von Diakonie und Caritas gaben zugleich entscheidende Impulse für den Aufbau eines modernen Gesundheitswesens.

Damit verschob sich aber auch die Rolle von Kirche und Diakonie im Gesundheitssektor. Christliche Krankenhäuser haben nach wie vor einen bedeutenden Anteil an der Versorgung der Bevölkerung. Aber wir stehen heute vor der Frage, was diese Einrichtungen von anderen unterscheidet und wo ihr diakonischer Auftrag liegt. Sie müssen sich mit möglichst guten medizinischen Leistungen im Wettbewerb behaupten; dahinter tritt der diakonische Aspekt manchmal bis zur Unerkennbarkeit zurück. Aber zugleich können sie nur durch ein deutliches eigenes Profil ihre diakonische Identität wahren und ihren Platz sichern. Entscheidend ist, ob der ganze Mensch im Blick ist, ob Seelsorge im medizinischen und pflegerischen Alltag einen Ort hat, ob die Spiritualität der Menschen Nahrung erhält und ob für ethisch verantwortliche Entscheidungen der nötige Raum bleibt.

4.
Die Kirchen kümmern sich um die Gesundheitsvorsorge nicht nur durch ihre eigenen Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, sondern ebenso durch ihre Beteiligung an der öffentlichen Diskussion. Eine Schlüsselfrage heißt gegenwärtig, ob sich alle Menschen in unserer Gesellschaft in Zukunft noch Gesundheit im erforderlichen Ausmaß leisten können. Wie sind hier die Chancen verteilt?

Das Gesundheitswesen von morgen steht angesichts des Alterswandels unserer Gesellschaft vor großen Herausforderungen steht. Denn dieser Alterswandel verursacht völlig neue Bedingungen für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Auch die Auswirkungen eines globalisierten Arbeitsmarktes tragen dazu bei, dass das Gesundheitssystem nicht mehr im bisherigen Umfang aus Krankenkassenbeiträgen finanziert werden kann. Es muss vielmehr auch aus Steuern finanziert werden. Für die Aufwendungen, die bisher aus der Pflegeversicherung finanziert werden, gilt Ähnliches.

Damit wird Gesundheit auf neue Weise zu einem politischen Thema. Welchen Steueranteil wollen wir für diese Aufgabe aufwenden? Und wie lässt sich erreichen, dass nicht nur der Mitteleinsatz erhöht, sondern die Effizienz der Mittelverwendung gesteigert wird? Werden Medikamente zu teuer bezahlt? Werden zu viele Doppeluntersuchungen vorgenommen? Nehmen Bürokratie und Berichtswesen zu viel Arbeitszeit in Anspruch? Werden insbesondere junge Ärztinnen und Ärzte durch überlange Nachtdienste und schlechte Bezahlung demotiviert, so dass sie gar nicht mehr die Leistung erbringen können, die man von ihnen erwartet? Das sind übrigens alles ökonomische Fragen, die in diesem Zusammenhang ihren guten Sinn haben.

Aber die Ökonomisierung hat auch hoch problematische Seiten. Zu ihnen gehört beispielsweise der Wandel vom „Patienten“ zum „Kunden“. Man mag es begrüßen, dass die Entscheidungsfreiheit des Patienten gestärkt wird. Aber mir leuchtet nicht ein, dass dadurch der fürsorgliche Blick verschwindet. Denn der Patient ist nicht nur ein Kunde, der eine Leistung in Anspruch nimmt; er bleibt ein Mensch, der Hilfe und Zuwendung braucht. Hoch problematisch wird das Diktat der Ökonomie, wenn nur noch technisch planbare Leistungen in die Kalkulation eingehen; menschliche Zuwendung dagegen, so heißt es dann, ist ökonomisch nicht planbar. Aber auf sie kommt es gerade an. Wenn nur noch der Blick der Ökonomie das Handeln bestimmt, nimmt das Gesundheitssystem schweren Schaden.

Mit der Würde des Menschen ist es unvereinbar, wenn die Inanspruchnahme notwendiger Leistungen vom Geldbeutel des Patienten abhängt. Aber welche Leistungen sind notwendig? Ist die Hüftprothese für einen über Achtzigjährigen unentbehrlich? Und wenn ja - reicht dafür eine Standardausführung oder muss die modernste Technik her?

Wir haben uns als evangelische Kirche immer wieder deutlich gegen Rationierungen im Gesundheitswesen ausgesprochen. Wir lehnen starre Altersgrenzen für bestimmte medizinische Leistungen ab, obwohl diese in anderen Ländern bereits üblich sind. Aber die Frage, worin die angemessene therapeutische Versorgung eines Kranken besteht, muss ökonomische Gesichtspunkte einbeziehen.

5.
Die neue Finanzierung von Krankenhausaufenthalten durch diagnosebezogene Fallpauschalen veranlasst die Krankenhäuser zum ersten Mal selbst, nach möglichst kostengünstigen und gerade nicht nach möglichst aufwändigen Therapieformen Ausschau zu halten. Um der Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens willen ist dieser Paradigmenwechsel im Grundsatz zu bejahen.

Doch die Auswirkungen im Einzelfall müssen genau beachtet werden. Denn diese Abrechnungsform ist offenkundig nur auf bestimmte Fälle anwendbar. Sie versagt überall dort, wo individuelle Abweichungen vom Standard unvermeidlich sind. Man muss deutlich fragen, ob es noch hinzunehmen ist, wenn inzwischen im Fachjargon von „blutigen Entlassungen“ die Rede ist. Wenn Genesende aus wirtschaftlichen Gründen zu früh nach Hause oder in eine Pflegeeinrichtung geschickt werden, ist offenbar eine Grenze überschritten. Wenn Ärztinnen und Ärzte unter Zeitdruck geraten, weil die vorgegebenen Behandlungszeiten nicht ausreichen, muss das Rückfragen an das zu Grunde liegende System auslösen. Wenn die Zuwendung zu Kindern auf der Kinderstation oder wenn Gespräche mit Krebspatienten oder Sterbenden nicht mehr mit in die Fallkalkulation aufgenommen werden, muss man sogar von schwerwiegenden Qualitätsmängeln sprechen.

Allmählich scheint sich herauszustellen, dass die Rationalisierung im Krankenhaus nach dem Muster der diagnoseorientierten Fallpauschalen wohl nicht das letzte Wort  sein wird. Wir brauchen weiter reichende Überlegungen. Nötig ist ein sozial gesteuertes, solidarisches Gesundheitswesen, das zu Gunsten der Patienten wie im Interesse der Finanzierbarkeit deutlich mehr Wettbewerb als bisher enthält. Die Verdoppelung von Diagnosen muss in Zukunft ebenso unterbunden werden wie der Einsatz von Therapien, die vorsorglich eingesetzt werden, obwohl ihre Wirkung ungewiss ist. Manche Untersuchungen sprechen davon, dass ohne Qualitätseinbußen zwanzig Prozent der Aufwendungen in unserem Gesundheitswesen eingespart werden könnten.

Aber auch die Aufgabenfelder, die als nicht marktfähig gelten, müssen wahrgenommen werden. Zu einer Situation, in der jedes Krankenhaus der Aufnahme besonders risikoreicher und deswegen teurer Patienten auszuweichen versucht, darf es nicht kommen. Denn die Aufgabe einer Gesundheitsreform ist es nicht, solche Situationen herbeizuführen, sondern sie zu vermeiden. Das ist einer der Prüfsteine dafür, ob es auch in Zukunft gelingt, zusammenzuhalten, was zusammengehört: die Orientierung am Menschen und die Orientierung an ökonomischer Vernunft.

6.
Im Kern wird das Gesundheitswesen nur finanzierbar bleiben, wenn in der ganzen Gesellschaft die Bereitschaft steigt, präventiv auch dann etwas für die eigene Gesundheit zu tun, wenn es nicht von der Kasse finanziert wird. Damit wird aus der gesundheitspolitischen eine gesundheitsethische Frage. Denn nun rückt der Zusammenhang zwischen Gesundheitsvorsorge und persönlicher Lebensführung in den Blick; Rauchen, Übergewicht und Alkoholmissbruch sind dafür besonders deutliche Beispiele.

Ganz besonders muss es alarmieren, dass in allen drei Bereichen Missstände in immer früherer Jugend zu beobachten sind; damit verbindet sich die Frage der Gesundheitsvorsorge mit der allgemeinen Diskussion über ein neues Wertebewusstsein, über die bewusste Wahrnehmung von Erziehungsverantwortung der Familien und über die Erziehungsaufgaben der Schulen.

Aber ebenso tritt die Arbeitswelt in den Blick. Verstärkt ist darauf zu achten, ob Arbeitsorganisation und Arbeitsbelastung gesundheitsverträglich gestaltet werden. Es ist bekannt, dass ein Großteil der langwierigen und kostspieligen Erkrankungen mit Art und Umfang von Arbeitsbelastungen zusammenhängt. Wenn heute in vielen Branchen der durchschnittliche Renteneintritt weit unter sechzig Jahren liegt, so mag dies für den einzelnen Betrieb verkraftbar sein; volkswirtschaftlich trägt es katastrophale Züge.

Katastrophal ist es aber vor allem für die Betroffenen. Gesundheitsverträgliche Arbeitsbedingungen sind genauso wie eine gesundheitsbewusste Erziehung nicht nur um der Gesundheitskosten willen nötig. Sie sind zuallererst um der Menschenwürde willen zu fordern.