„In Würde sterben“ - Vortrag in der Veranstaltungsreihe „Forum Justiz“ in Erfurt

Wolfgang Huber

I.

Die Ambivalenz der modernen Medizin ist selten so treffend auf den Punkt gebracht worden wie durch eine Äußerung des Schriftstellers Hermann Kesten, der 1996 im Alter von 96 Jahren starb. Von ihm ist der Satz überliefert: „Die Fortschritte der Medizin sind ungeheuer. Man ist sich seines Todes nicht mehr sicher.“

Was Kesten hier mit einem Augenzwinkern beschreibt, ist eine ernstzunehmende Erfahrung: Mit Hilfe moderner medizinischer Möglichkeiten konnte in den zurückliegenden Jahrzehnten die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich gesteigert werden; weitere Verlängerungen liegen vor uns, so dass schon in unserer Generation das Alter, das Hermann Kesten erreicht hat – 96 Jahre – keine Seltenheit sein wird. Krankheiten können heute geheilt werden, die noch vor wenigen Jahren als unheilbar galten. Viele Menschen erreichen ein höheres Lebensalter in weit besserer Gesundheit, in besserer körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit, als das noch vor einer oder zwei Generationen der Fall war.

Kühne Hoffnungen knüpfen sich heute insbesondere an die Forschung mit menschlichen Stammzellen, von denen man ein therapeutisches Potential erwartet, das auch bisher unheilbare Krankheiten nicht nur zu lindern, sondern vielleicht sogar zu heilen vermag. Parkinson und Alzheimer sind Krankheiten, auf die solche Hoffnungen sich richten. Ob das gelingt und ob ein nächster Schub therapeutischer Fortschritte wirklich aus diesen oder vielleicht aus ganz anderen Quellen kommt, vermag heute niemand zu beurteilen.

Natürlich gibt es auch ernüchternde Tatsachen. Zu ihnen gehört insbesondere, dass ungesunde Lebensweisen dem Zugewinn an Lebensqualität durch medizinischen Fortschritt immer wieder Abbruch tun. In immer jüngeren Jahren schädigen viele Menschen sich durch ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Alkohol, Drogen oder Rauchen. Zwischen fanatischem Gesundheitswahn und ebenso fanatischem Raubbau an der eigenen Gesundheit schwingt das Pendel der Unvernunft weit aus.

Und auch das andere muss man ausdrücklich feststellen: Die Statistik sagt nichts über die individuelle Lebenserwartung und die persönliche Gesundheitsprognose. Die Ungewissheit der persönlichen Zukunft stellt uns vor Augen, warum es gut ist, das eigene Leben Gott anzuvertrauen und es Tag für Tag aus seiner Hand zu empfangen.

Aber zugleich muss man sagen: Die Fortschritte der modernen Medizin ermöglichen aufs Ganze gesehen in einer fortgeschrittenen Gesellschaft wie der unseren ein Ausmaß an Lebensqualität und Lebensdauer, das viel Grund zur Dankbarkeit bietet.

Aber jeder Fortschritt hat seine Kehrseite. Zu den Kehrseiten des medizinischen Fortschritts gehört das Prinzip der Lebenserhaltung um jeden Preis. Das ethische Prinzip des Arztberufs, niemandem zu schaden, wird als Pflicht zur Erhaltung des Lebens selbst an seinen äußersten Rändern gedeutet. Die Verrechtlichung aller Lebensverhältnisse greift auch in diesen Bereich ein; die Aufgabe, Menschen am Ende ihres Lebens auch in Würde sterben zu lassen, tritt dahinter zurück.  Verunsicherte Ärzte tun oft alles, was medizinisch möglich ist, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. So bleibt Angehörigen von Todkranken nur die Anrufung des Vormundschaftsgerichtes, wenn die Apparatemedizin menschliches Leiden auf unabsehbare Zeit verlängert und dadurch menschliches Sterben seine Würde verlieren kann. Und viele fragen sich, wie sie sich selbst davor schützen können, auf der letzten Wegstrecke nur noch, wie sie es empfinden, ein menschliches Anhängsel medizinischer Apparaturen zu sein.

Sterben und Tod fordern uns heute also nicht nur dazu heraus, uns im Leben des Todes bewusst zu sein oder zu werden. Die Entwicklungen im Bereich der modernen Medizin konfrontieren uns vielmehr mit ethischen Fragen: Muss Leben unter allen Umständen erhalten und verlängert werden? Gibt es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben? Kann unter Berufung auf die Menschenwürde ein Recht auf den eigenen Tod und damit auch auf die sogenannte aktive Sterbehilfe gefordert werden?

II.

Auch die juristischen Fragen – insbesondere im Umfeld von Vorausverfügungen – sind noch längst nicht gelöst. Neuere Studien belegen, dass die Ärzteschaft weitgehend uninformiert über die herrschende Rechtsprechung und deswegen im Unklaren darüber ist, welche Grenzziehungen zwischen sogenannter aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe bestehen. Dies liegt aus meiner Sicht nicht zuletzt an der äußerst missverständlichen Begrifflichkeit in diesem Bereich. Verlangt z.B. ein Kranker den Abbruch der künstlichen Ernährung oder Beatmung, dann ist dies nicht etwa verbotene sog. „aktive Sterbehilfe“, wie viele Ärzte irrtümlich meinen, sondern erlaubte sog. „passive Sterbehilfe“.

Um nicht selbst diese Begriffsverwirrung weiter fortzuführen, möchte ich die Anregungen des Nationalen Ethikrates und des Deutschen Juristentages 2006 aufnehmen und mich statt der bisherigen problematischen Begrifflichkeit einer klareren Terminologie bedienen: Statt von „Sterbehilfe“ werde ich von „Sterbebegleitung“ sprechen; für den Begriff „aktive Sterbehilfe“ benutze ich die Bezeichnungen „Tötung auf Verlangen“; statt von „passiver Sterbehilfe“ spreche ich von „Behandlungsbegrenzung“. Für die „indirekte Sterbehilfe“ wähle ich den Begriff „Leidensminderung“ und für „ärztlich assistierten Suizid“ die Wortwahl „ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung“.

Diese neue Begrifflichkeit ist eher als die alte dazu geeignet, unmissverständlich anzugeben, worum es sich bei den einzelnen Formen der Sterbebegleitung handelt. Dadurch sollte es auch in Zukunft besser möglich sein, schwierige ethische Fragen im Zusammenhang mit dem menschlichen Sterben, wie sie in letzter Zeit in allen Medien weltweit diskutiert wurden, in ihrer Unterschiedlichkeit zu verstehen und darzustellen. Ich erinnere an einige der spektakulären Vorgänge der letzten Jahre, nämlich beispielsweise

an den Wunsch auf Beihilfe zur Selbsttötung der Britin Diane Pretty 2002, der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte scheiterte,
an die Forderung nach Behandlungsbegrenzung von Terri Schiavo aus Florida durch den Ehemann 2005 ohne Vorliegen einer Patientenverfügung, die nach einem Herzstillstand 15 Jahre lang im Wachkoma lag, an das Sterbenlassen durch Behandlungsbegrenzung im Fall von Piergiorgio Welby in Italien im Dezember 2006 und an Inmaculada Echevarría in Spanien im März 2007, zwei Fälle, in denen Ärzte die Beatmungsmaschinen der unheilbar an Muskelschwund Erkrankten abstellten.

Erstaunlicherweise wurde bisher in Deutschland keine vergleichbar schwierige Sterbesituation ähnlich medienwirksam bekannt, obwohl die Rechtsprechung in diesem Gebiet nicht eben eindeutig ist und ein Gesetz zur rechtlichen Regelung von Patientenverfügungen noch aussteht.

Welche Perspektive bringt die christliche Ethik in den Umgang mit solchen Fragen ein? Dieser Frage will ich mich jetzt zuwenden, um von hier aus in knappen Strichen zu den Fragen der Tötung auf Verlangen, der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung, der Behandlungsbegrenzung und der Patientenverfügung Stellung zu nehmen.

III.

Viele Menschen haben Angst davor, dass ihr Lebensende unter Vorzeichen steht, die der Würde des Menschen nicht entsprechen. Sie fürchten, im Falle eigener Pflegebedürftigkeit allein gelassen, abgeschoben, als bloß medizinisches Objekt behandelt oder als unnötige Belastung empfunden zu werden. Besonders groß ist die Furcht vor einem schmerzhaften, durch medizinische Maßnahmen nur noch qualvoll hinausgezögerten Sterben. Der aus solchen Befürchtungen sprechende Wunsch nach einem Sterben, das der Würde der menschlichen Person gerecht wird, ist aus meiner Sicht durchaus berechtigt.

Aus christlicher Sicht umfasst der Schutz der Würde des Menschen die ganze Spanne seines Lebens – vom Anfang bis zum Ende. Das schließt die nachdrückliche Bejahung medizinischer Forschung, ärztlicher Hilfe, pflegerischen Beistands und gesellschaftlicher Maßnahmen ein, die der Minderung oder der Vermeidung von unnötigem Leiden, der Suche nach neuen Heilungsmöglichkeiten und der Verbesserung der menschlichen Lebensqualität dienen. Dazu zählt aber insbesondere auch, dass die Würde des Menschen das Recht einschließt, in Würde zu sterben.

Nach christlichem Verständnis ist der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen; er ist Gottes Ansprechpartner und Gegenüber. Nicht eine vorfindliche Qualität am Menschen selbst macht ihn zu Gottes Gegenüber, sondern allein Gottes Anrede. Durch sie ist der Mensch ein Beziehungswesen. Sein Leben vollzieht sich in Beziehungen. Die Beziehung zu Gott steht unter ihnen voran. Die Beziehungen zu den Mitmenschen und zur natürlichen wie zur sozialen Mitwelt treten ihr zur Seite. Auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst kommt in den Blick. Gott zu ehren, den Mitmenschen in seiner gleichen Würde zu achten, Gottes Schöpfung dankbar wahrzunehmen und in Selbstachtung sein Leben zu führen – das sind die vier Hinsichten, in denen unser Menschsein in Beziehungen praktische Konsequenzen hat. In diesen Beziehungen nimmt die Würde des Menschen Gestalt an. Um der Menschenwürde willen sind all diese Beziehungen so zu gestalten, dass der Mensch niemals bloß als Mittel, als Instrument, als Sache betrachtet ist, sondern immer Zweck in sich selbst bleibt, in seinem Eigenwert geachtet und in seinem Personsein gewürdigt wird.

Wenn es um das menschliche Sterben geht, kann die Menschenwürde angetastet werden, wenn der Mensch  in den Beziehungen seines Lebens nur als Sache betrachtet und nicht mehr als Person wahrgenommen wird. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine medizinische Behandlung nur zu Forschungszwecken eingesetzt wird, wenn therapeutische Maßnahmen ohne Zustimmung oder gegen den Willen des Betroffenen eingesetzt werden, wenn therapeutische Maßnahmen aus der Person gegenüber fremden (z.B. finanziellen) Interessen heraus eingesetzt oder umgekehrt ohne Berücksichtigung der Selbstbestimmung des Patienten ein Behandlungsverzicht vorgenommen wird.

Dass auch am Ende des Lebens menschliche Beziehungen und die Lebensqualität im Vordergrund stehen – dafür treten insbesondere die Hospizbewegung und die Palliativmedizin ein. Beiden geht es darum, das Leben von Schwerstkranken trotz starker Beschwerden lebenswert zu gestalten, indem sie neben einer Schmerztherapie auch psychosoziale und spirituelle Aspekte der Krankheitsverarbeitung einbeziehen. Ambulante Palliativmedizin ist in Deutschland leider noch selten, meist existiert sie als subventioniertes Modellprojekt. Hier wäre es wünschenswert, dass sie weiter ausgebaut werden kann. Auch ist die erst ansatzweise erfolgte Etablierung der Palliativmedizin an den Universitäten weiter zu führen.

IV.

Vielfach wurde darauf hingewiesen, dass die niederländische Gesetzgebung über die Zulässigkeit der „aktiven Sterbehilfe“ auch auf den Umstand zurückzuführen sei, dass die modernen Methoden der Palliativmedizin in Holland nur eine untergeordnete Rolle spielten. Aber auch wenn Deutschland hier weiter entwickelt ist, so wird doch auch bei uns immer wieder die Frage aufgeworfen, ob aus der Menschenwürde ein Recht auf den eigenen Tod bzw. auf Tötung auf Verlangen abgeleitet werden kann. Ich erinnere etwa an die Forderung des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch im Jahr 2005 nach Legalisierung der Tötung auf Verlangen. Doch dies blieb eine Einzelstimme. Erfreulicherweise ist diese Forderung seit längerem nicht mehr im SInn eines politisch vorbereiteten Reformvorhabens vorgebracht worden.

Auch die strafrechtliche Abteilung des Deutschen Juristentages hat im September 2006 ausdrücklich die Tötung auf Verlangen strafrechtlich verurteilt, wenngleich sie Klarstellungen im Blick auf die Nichthinderung des Suizids und Einschränkungen der Garantenpflicht gefordert hat. Ebenso haben sich alle namhaften Gremien, die sich in den letzten Jahren in Deutschland mit der Sterbeproblematik beschäftigt haben, gegen eine Legalisierung der Tötung auf Verlangen ausgesprochen: die Bioethik–Kommission des Landes Rheinland–Pfalz, die Enquete–Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“, die Arbeitsgruppe des Bundesjustizministeriums „Patientenautonomie am Lebensende“ unter Klaus Kutzer sowie der Nationale Ethikrat. Schon der Europarat hatte 1999 in seiner „Empfehlung zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde von Todkranken und Sterbenden“ die Legalisierung der Tötung auf Verlangen mit den Menschenrechten für unvereinbar erklärt.

Auch aus christlicher Sicht ist und bleibt die Tötung auf Verlangen eine ethisch nicht vertretbare Tötung eines Menschen, auch wenn sie auf seinen ausdrücklichen, verzweifelten Wunsch hin erfolgt. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ untersagt die gezielte Tötung eines Menschen und stellt den Umgang mit der so gewährleisteten Integrität des menschlichen Lebens  in die Verantwortung vor Gott. Kein Grund kann es rechtfertigen, einen Menschen zu töten. Weder, um einen Kranken vom Leiden zu befreien, kann man zum Mittel des Tötens greifen, noch um anderen Menschen die Mühe der Pflege abzunehmen, und schon gar nicht, um der Gesellschaft Geld zu sparen. Wer anderes tut, macht sich vor Gott und den Menschen schuldig. Denn es ist Gottes Wille, dass Leben erhalten wird. Gott ist ein Freund des Lebens und nicht des Todes.

Neben dem Tötungsverbot lassen sich noch weitere Gesichtspunkte dafür anführen, warum es bei dem Verbot der Tötung auf Verlangen bleiben muss: Eine Rechtsordnung, die eine Tötung auf Verlangen zulässt, beschwört die Gefahr herauf, dass der uneingeschränkte Schutz des Lebensrechts aller Menschen noch an weiteren Stellen gelockert wird. Außerdem besteht die noch erheblich gewichtigere Gefahr, dass sich sterbende Patienten als Last für ihre Umgebung empfinden und sich deshalb zu der Äußerung der Bitte um Lebensbeendigung genötigt fühlen. Und nicht zuletzt würde eine solche Öffnung das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient in problematischer Weise beeinflussen. Alle diese Gründe sind aus meiner Sicht von hohem Gewicht. Deswegen haben sich die Kirchen auch deutlich gegen die niederländische und belgische Gesetzgebung zur Euthanasie ausgesprochen.

V.

Während die Diskussion über die Tötung auf Verlangen auf eine lange Tradition zurückblicken kann, ist eine breitere öffentliche Debatte über die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung erst jüngeren Datums. Verschiedene Umstände mögen dazu geführt haben: Zuerst ist hier wohl die Eröffnung der ersten deutschen Zweigstelle des Schweizer Vereins „Dignitas“ am 26. Oktober 2005 in Hannover zu nennen. Der Verein hat als politisches Ziel, zu erreichen, dass deutsche Ärzte ausreichende Dosen von Natrium-Pentobarbital verabreichen dürfen. Sodann mag auch die Unsicherheit darüber, was in Deutschland am Sterbebett medizinisch erlaubt und geboten ist, den Wunsch nach scheinbar einfachen Lösungen genährt haben. Und nicht zuletzt erfährt die Diskussion große Aufmerksamkeit durch den wachsenden „Sterbetourismus“ in die Schweiz und durch den Anstieg der Selbsttötungen in schweizerischen Organisationen, die sich in den letzten Jahren verdreifachten.

Die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung unterscheidet sich von einer Tötung auf Verlangen dadurch, dass der Suizident die Herrschaft über den Tatverlauf hat, indem ihm vom Arzt eine tödliche Medikation zur Selbstverabreichung bereitgestellt wird. In ethischer Hinsicht ist die Beihilfe zur Selbsttötung insofern schwieriger zu fassen als die Tötung auf Verlangen. Denn es handelt sich hier um drei verschiedene Sachverhalte, die in den Blick zu nehmen sind: die Selbsttötung eines Menschen, die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung und die geschäftsmäßige Vermittlung von Suizidbeihilfe durch Organisationen.

Aus christlicher Sicht kommt eine Selbsttötung der Absage an die Hoffnung gleich, dass der Mensch im Vertrauen auf Gottes Hilfe jede Lebenssituation annehmen und bestehen kann, weil es kein aussichtsloses menschliches Leiden gibt. Dennoch gibt es extreme Situationen, die einen Menschen zu einem solchen letzten Schritt führen können. Der Wunsch nach Selbsttötung muss jedoch auch im Krankheitsfall so beurteilt werden wie in anderen Situationen auch. Er enthält einen Appell des Suizidenten an seine Umwelt. Es kommt darauf an, dass dieser Appell gehört und nach einem Ausweg aus der als Verhängnis empfundenen Situation gesucht wird. Nicht die nachträgliche Verurteilung des Suizidenten oder sein postumer Ausschluss aus der Gemeinschaft bilden angemessene Antworten auf solche Situationen; worauf es ankommt, ist vielmehr eine rechtzeitige und wirksame Sterbebegleitung.

Vom ethischen Urteil über die Selbsttötung selbst ist die ethische Bewertung der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung zu unterscheiden. Der Arzt sieht sich in dieser Situation im Blick auf den Selbsttötungswunsch des Patienten im Spannungsverhältnis zwischen der gebotenen Fürsorge für einen suizidgefährdeten Menschen einerseits und dem Respekt vor der Selbstbestimmung eines zur Selbsttötung entschlossenen Menschen andererseits. Im Blick auf seine Rolle als Helfer zur Selbsttötung steht er außerdem zwischen der Verpflichtung, Menschen zum Leben zu verhelfen, und der Aufgabe, einen suizidwilligen Menschen nicht allein zu lassen. Schon diese Beschreibung macht deutlich, wie problematisch bei der Suizidbeihilfe die Rolle des Arztes ist und welchen Konflikten er ausgesetzt ist.

Bei allem Verständnis, das man einem suizidwilligen Menschen im Einzelfall in einer Ausnahmesituation entgegenbringen kann – und dazu gehört für mich auch die extreme Möglichkeit, dass jemand in bedrängendster Krankheitssituation in freier Verantwortung und nach ernsthafter Erwägung seiner Perspektiven einen solchen Entschluss fasst – , ist der Forderung nach einer ärztlichen Mitwirkung bei der Selbsttötung und erst recht einer rechtlichen Institutionalisierung dieser Beihilfe aus meiner Sicht entschieden entgegenzutreten. Von den vielen Gründen, die mich dazu veranlassen, die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung abzulehnen, möchte ich nur vier ansprechen:

Wie bei der Tötung auf Verlangen kann auch die Suizidbeihilfe zu einem Mentalitätswechsel im ärztlichen Handeln führen. Die Grundlage des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patienten ist der ärztliche Auftrag, menschlichem Leben nicht zu schaden, sondern es zu erhalten. Dieses Vertrauensverhältnis wäre grundlegend gefährdet, wenn die Bereitstellung von Tötungsmedikamenten zur ärztlichen Aufgabe erklärt würde.

Gleichermaßen wie bei der Tötung auf Verlangen besteht auch hier die Gefahr, dass Druck ausgeübt werden kann und zwar sowohl auf den Arzt, solche Hilfe zu leisten, als auch auf schwerkranke und alte Patienten von Seiten ihrer Angehörigen, sich für diesen Weg zu entscheiden.

Ein Angebot professioneller Vermittlung von „einfachen“ Selbsttötungen verleiht Handlungen, die auf die Vernichtung des eigenen Lebens ausgerichtet sind, den Anschein von Normalität und setzt die Schwelle, die suizidgefährdete Personen durch die gesellschaftliche Tabuisierung der Selbsttötung überwinden müssen, deutlich herab. Der Staat hat aber die Aufgabe, in Extremsituationen auch das Leben des Einzelnen vor diesem selbst zu schützen, wenn er beispielsweise an einer psychischen Erkrankung leidet.

Bei einer Rechtfertigung der Beihilfe zum Suizid mit der Begründung, der Suizid müsse als Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung respektiert werden, besteht die Schwierigkeit, festzustellen, wann ein Suizidwunsch freiverantwortlich und ernsthaft bedacht ist und wann er einer depressiven Verstimmung oder einer vorübergehenden seelischen Krise entspringt. Selbst klare Indikationen für die Suizidbeihilfe, wie z.B. Schwere der Krankheit, Todesnähe oder Ernsthaftigkeit des Wunsches können nicht ausschließen, dass auch Menschen ohne hoffnungslose oder unheilbare Krankheiten eine Selbsttötungsmöglichkeit angeboten wird.

Diese Überlegungen zur ethischen Beurteilung der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung sind zu unterscheiden von der Institutionalisierung der Selbsttötungsbeihilfe nach Schweizer Vorbild in Form von Organisationen wie Dignitas. Die Sorge ist berechtigt, dass sich eines Tages auch in Deutschland Sterbehilfeorganisationen einrichten und Serviceleistungen im Blick auf die Vermittlung von Selbsttötungsgelegenheiten anbieten. Ich begrüße daher die Bundesratsinitiative der Länder Thüringen, Saarland und Hessen aus dem vergangenen Jahr, mit der die geschäftsmäßige Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung unter Strafe gestellt werden soll. Wir müssen den Anfängen wehren; in dieser Hinsicht sollen sich in Deutschland nicht „Schweizer Verhältnisse“ etablieren.

Für Menschen in einer aussichtslosen Krankheitssituation gibt es andere Möglichkeiten der Hilfe, als sie zu töten oder ihnen Beihilfe zur Selbsttötung anzubieten: nämlich ganzheitliche Sterbebegleitung im Sinne von Hospizbewegung und Palliativmedizin und die Vorsorge durch Patientenverfügungen und vorsorgenden Vollmachten, die im konkreten Fall eine Therapiebegrenzung möglich machen.

VI.

Diese Form einer Sterbebegleitung – nämlich das Sterbenlassen oder die Behandlungsbegrenzung – steht im Rahmen der Diskussion um eine gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen im Zentrum der Debatte. Anders als die Tötung auf Verlangen und die Beihilfe zur Selbsttötung ist sie bisher rechtlich nicht geregelt.

Rechtliche Zweifel an ihrer Definition und Reichweite führen immer wieder zu einer Beeinträchtigung der Patientenautonomie am Lebensende. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass eine Klarstellung im Strafrecht vorgenommen wird, die vorsieht, dass ärztliche Handlungen, die nach der bisherigen Rechtsprechung seit langem nicht mehr als Tötung gelten (nämlich „Leidensminderung“ und „Behandlungsbegrenzung“), rechtlich anerkannt werden. Für die Ärzteschaft hätte dies den Vorzug, dass sie vor einer Strafverfolgung sicher sein können, wenn sie am Lebensende bei Vorliegen einer Patientenverfügung oder einer vorsorgenden Vollmacht nicht mehr alles tun, was medizinisch möglich ist. Und für die Bürger und Vormundschaftsgerichte bestünde die Möglichkeit, die Zulässigkeit dieser beiden Formen der Sterbebegleitung in ihrem Bewusstsein zu verankern. Aus Zeitgründen kann ich hier nicht näher auf die „Leidensminderung“ (in alter Begrifflichkeit: indirekte Sterbehilfe) eingehen, sondern möchte mich auf die Behandlungsbegrenzung konzentrieren.

Was deren ethische Beurteilung betrifft, so gilt nach christlicher Überzeugung, dass über menschliches Leben, in welchem Stadium auch immer, nicht frei verfügt werden darf, sondern dass Gott allen Dingen ihre Zeit bestimmt hat. „Der Mensch steht vor der Aufgabe, zu erkennen und zu wissen, wann was an der Zeit ist. Davon ist das Ende menschlichen Lebens nicht ausgenommen. Auch hier gilt es zu erkennen, wann was an der Zeit ist.“ Dazu kann die Erkenntnis gehören, „dass auch dem Sterben seine Zeit gesetzt ist, in der es darauf ankommen kann, den Tod zuzulassen und seinem Kommen nichts mehr entgegen zu setzen. Diese Erkenntnis kann niemand stellvertretend für einen Anderen haben. Jeder muss sie für sich selbst gewinnen und vor Gott verantworten.“ (S. 12f) Dies kann auch einschließen, dass nicht alle medizinischen Mittel ausgeschöpft werden, wenn dadurch der Tod nur künstlich hinausgezögert würde. So hat es die Kammer für Öffentliche Verantwortung in ihrem Text „Sterben hat seine Zeit“ von 2005 formuliert. Die Entscheidung über eine Behandlungsbegrenzung oder sogar über einen Behandlungsverzicht kann also aus christlicher Sicht ein Ausdruck der Verantwortung sein, die Menschen im Blick auf ihr Leben übernehmen.

Der Aussage, dass jeder Mensch sein Sterben nur für sich selbst annehmen kann, korrespondiert, dass auch der Wunsch nach einer Behandlungsbegrenzung oder Behandlungsbeendigung von ihm selbst kommen muss. Darin sehen wir einen Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung. Sie orientiert sich auch in solchen Grenzsituationen daran, dass ärztliche Behandlung voraussetzt, dass es zwischen dem Arzt und dem Patienten zu einem Behandlungsvertrag gekommen ist. Der Arzt darf deshalb nicht gegen den Willen des Patienten eine Behandlung fortsetzen. Was aber ist, wenn der Patient zu einer Äußerung seines Willens nicht mehr im Stande ist. Die modernen Möglichkeiten der Intensivmedizin geben einer solchen Situation eine wachsende Wahrscheinlichkeit. Dadurch ist die Frage nach der Wünschbarkeit, der Reichweite und der rechtlichen Verbindlichkeit von Patientenverfügungen entstanden.

VII.

Nachdem im Zusammenhang mit der Bundestagsdebatte über Patientenverfügungen am 29. März 2007 überraschenderweise vielen anderen voran der Präsident der Bundesärztekammer Professor Hoppe sich dafür ausgesprochen hat, besser keine rechtliche Regelung für Patientenverfügungen auszuarbeiten, möchte ich deutlich sagen: Der Rat der EKD hält es für wichtig, dass Patientenverfügungen gesetzlich geregelt werden, um Patienten, Angehörigen, Bevollmächtigten, Betreuern und Ärzten mehr Rechtssicherheit bei Entscheidungen am Lebensende zu bieten. Allerdings darf die Regelung nicht so ausfallen, dass die Gerichte jede Entscheidung über die Anwendung einer Patientenverfügung oder die Anwendung von Behandlungsbegrenzungen überprüfen müssen.

Ich erläutere den Diskussionsstand zur Patientenverfügung in der Evangelischen Kirche durch einige wenige Gesichtspunkte:

Wenn ein Mensch am Leben, aber nicht mehr selbst äußerungsfähig ist, muss ein Gleichgewicht zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge gefunden werden. Beide sind miteinander zu verbinden und aufeinander zu beziehen. Selbstbestimmung allein reicht nicht aus. In aller Regel ist es nicht möglich, eine Krankheitssituation so konkret vorweg zu nehmen, dass die dafür getroffenenen Entscheidungen ausreichend konkret sind. Vor allem ist in der Situation mangelnder Einwilligungsfähigkeit die Möglichkeit zum Dialog zwischen Arzt und Patient nicht gegeben, die in anderen Fällen jeder Entscheidung über die Zustimmung zu einer Behandlungsabsicht vorausgeht. Der Patient bleibt deshalb, auch wenn er seinen Willen vorher schriftlich festgelegt hat, auf beides angewiesen: auf die Bereitschaft, seine Willensäußerung zu respektieren, und auf die Fürsorge, die die konkret eingetretene Situation berücksichtigt. Eine gesetzliche Regelung, die diese Balance wahrt, ist einer Regelung vorzuziehen, die sich einseitig nur am Selbstbestimmungsrecht des Patienten orientiert, ohne dieses mit dem Lebensschutz und damit mit dem Aspekt der Fürsorge in einen Ausgleich zu bringen.

Eine Patientenverfügung ist fast immer auf Interpretation angewiesen. Sie bedarf der Auslegung, da sie nur selten im Vorhinein so abgefasst werden kann, dass sie in der konkret eintretenden Situation völlig eindeutig ist. Für die Auslegung ist das Gespräch zwischen Angehörigen, Ärzten, Pflegepersonal, Seelsorger und Bevollmächtigtem oder Betreuer nötig und hilfreich. Die entscheidende Frage ist dann allerdings, wie die Entscheidung über die weitere Behandlung zustande kommt. Eine sachgemäße, die Gesichtspunkte der Selbstbestimmung und der Fürsorge miteinander verknüpfende Lösung wird möglich, wenn ein Bevollmächtigter des Patienten zur Verfügung steht. Deswegen empfehle ich, eine Patientenverfügung mit einer Vorsorgenden Vollmacht zu verknüpfen. Manche mögen sogar die Vorsorgende Vollmacht ganz in den Vordergrund rücken und auf detaillierte eigene Anweisungen verzichten. Auf diese Weise ist in dem Gespräch über den mutmaßlichen Willen des nicht mehr äußerungsfähigen Menschen eine Person beteiligt, die sein besonderes Vertrauen genießt und mit allen Entscheidungsvollmachten ausgestattet ist.

Ich halte es außerdem für wünschenswert, dass zwischen einem Bevollmächtigten, der mit einer Vorsorgenden Vollmacht ausgestattet ist, und einem Betreuer, der vom Vormundschaftsgericht eingesetzt wird, wenn kein Bevollmächtigter benannt wurde, deutlicher unterschieden wird, als dies in der gegenwärtigen Diskussion geschieht.

Im Blick auf die Reichweite von Patientenverfügungen sind für mich keine zwingenden Gründe erkennbar, sie gegenüber der Reichweite von Entscheidungen eines entscheidungsfähigen Patienten prinzipiell einzuschränken. Deswegen plädiere ich dafür, Behandlungsbegrenzungen nicht nur auf tödlich verlaufende Krankheiten zu beschränken, sondern auch zwei Grenzfälle mit in den Blick zu nehmen, bei denen bisherige Erfahrungen eine Regelung besonders nötig erscheinen lassen, nämlich das lang anhaltende Wachkoma und die schwerste Demenzerkrankung. Wenn bei diesen beiden Ausnahmen zusätzliche, lebensbedrohliche Erkrankungen wie z.B. eine Lungenentzündung auftreten, sollte aus meiner Sicht – sofern eine entsprechende Patientenverfügung vorliegt – auf therapeutische Maßnahmen verzichtet werden können. Mir scheint die Befürchtung unbegründet, dass mit einer derart erweiterten Reichweitenbestimmung Weichen in Richtung auf die Tötung auf Verlangen gestellt würden. Ein Behandlungsverzicht bei einem Wachkomapatienten bei Vorliegen einer validen Patientenverfügung ist nicht eine aktive Herbeiführung seines Todes, sondern ein Zulassen seines Todes in dem Sinne, dass dessen Kommen nichts mehr entgegengesetzt wird.

VIII.

Ich komme zum Schluss. Angesichts der medizinischen Möglichkeiten, das menschliche Sterben so weit hinauszögern zu können, dass man „sich seines Todes nicht mehr sicher sein kann“ – wie Hermann Kesten formuliert hat –, ist es nötig, die verschiedenen Formen der Sterbebegleitung zu prüfen und ethisch zu bewerten. Bei dieser Bewertung spreche ich mich gegen die Freigabe der Tötung auf Verlangen unter bestimmten Bedingungen wie in den Niederlanden und Belgien und gegen die Freigabe der ärztlichen Hilfe bei der Selbsttötung wie in der Schweiz aus. Demgegenüber halte ich das Instrument der Patientenverfügung für geeignet, in der Sterbephase auf medizinisch mögliche, aber therapeutisch aussichtslose Versuche der Lebensverlängerung auf Wunsch des Sterbenden bewusst zu verzichten, also das Leben nicht um jeden Preis zu erhalten und zu verlängern, sondern es zu Ende gehen zu lassen. Dabei messe ich der Vorsorgenden Vollmacht eine besondere Bedeutung zu. Denn es gehört zur Würde des Menschen, sterben zu dürfen, wenn die Zeit dazu gekommen ist.