Hoff und sei unverzagt! Paul Gerhardt (1607-1676) - Rede zum Johannisempfang der EKD in Berlin

Wolfgang Huber

I.

Unverzagt und ohne Grauen
soll ein Christ, wo er ist,
stets sich lassen schauen.
Wollt ihn auch der Tod aufreiben,
soll der Mut dennoch gut
und fein stille bleiben.

Herausfordernde Sätze sind es, die uns der große evangelische Jubilar dieses Jahres, Paul Gerhardt, ins Stammbuch schreibt. Der Staats- und Domchor hat uns diese Verse eben zugesungen: unverzagt und ohne Grauen. Wie gut, dass es die Sprache der Musik gibt. Mit ihrer Hilfe eröffnet Paul Gerhardt eine Perspektive voller Trost und Kraft, die sogar an der Macht des Todes nicht zerschellt.

Solche Worte mitsamt ihrer musikalischen Gestalt können eine große Wirkung entfalten. Dafür nur ein Beispiel: In Stuttgart regierte im 18. Jahrhundert Herzog Karl Eugen verschwenderisch, erpresserisch, unmenschlich und mit absolutistischer Willkür zugleich. In württembergischen Diensten war damals der Jurist und Dichter Johann Jakob Moser als Landschaftskonsulent tätig. Als gewählter Rechtsbeistand der Ständekammer hatte er die Rechte des Volkes dem Landesfürsten gegenüber zu vertreten. Als der Regent unbegrenzten und uneingeschränkten Gehorsam forderte, bezichtigte Moser ihn öffentlich der Tyrannei und wurde deshalb von allerhöchster Stelle vorgeladen. Während das Volk um den Ausgang des Verfahrens bangte, trat Moser in das herzogliche Kabinett und zitierte Paul Gerhardt: Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen. Das hielt den Herzog freilich nicht davon ab, den renitenten Juristen zu fünfjähriger Haft zu verurteilen; dank eines kaiserlichen Befehls wurde er jedoch vorzeitig entlassen, woraufhin ihm die Bevölkerung einen triumphalen Empfang bereitete.

In Württemberg machte Mosers Paul-Gerhardt-Zitat damals die Runde. Man nannte ihn deshalb auch selbst: Unverzagt und ohne Grauen. Ein schöner Spitzname, finde ich; geradezu ein Ehrentitel – für Politikerinnen und Politiker zum Beispiel.


II.

Hoff, o du arme Seele,
hoff und sei unverzagt!
Gott wird dich aus der Höhle,
da dich der Kummer plagt,
mit großen Gnaden rücken;
erwarte nur die Zeit,
so wirst du schon erblicken
die Sonn der schönsten Freud.

Das Wort unverzagt hat es Paul Gerhardt angetan. Hoff und sei unverzagt. Das klingt nach einem Leitmotiv – für ihn wie für uns. Vor vierhundert Jahren wurde er geboren – in Gräfenhainichen, wie ich zugeben muss, obwohl das weder in Berlin noch in Brandenburg noch in der schlesischen Oberlausitz, sondern bei Wittenberg liegt. Wäre der 1607 dort Geborene nicht bereits 1676 gestorben, sondern lebte er noch heute, so wäre er, wie vor kurzem fachkundig bemerkt wurde, mit Sicherheit zu den großen Liedermachern weltweit zu zählen.  Barbara Hendricks, die langjährige Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfinanzministerium, sagte das bei der Übergabe der Sonderbriefmarke aus Anlass des 400. Geburtstages Paul Gerhardts in der Berliner Nikolaikirche; dort, wo Paul Gerhardt viele Jahre als Pfarrer tätig war, ist auch die ihm gewidmete Sonderausstellung zu sehen. Ein Popstar würde er heute genannt; noch heute gehören seine Lieder neben Grimms Märchen und Luthers Bibelübersetzung zu den bekanntesten Texten deutscher Sprache überhaupt.

Seine Lieder haben bei Johann Sebastian Bach Aufnahme gefunden, zum Beispiel im Weihnachtsoratorium oder in der Matthäuspassion. Komponisten wie Max Reger, Hugo Distler und Ernst Pepping haben sich Liedern Paul Gerhardts gewidmet. Dichter und Schriftsteller wie Matthias Claudius und Theodor Fontane sind von ihm beeinflusst. Günter Grass stellt sich sogar vor, die Wirtin Libuschka, die im Jahre 1647 das Treffen in Telgte beherbergt haben soll, habe Liedstrophen von Paul Gerhardt auswendig aufsagen können. Das war freilich damals noch unwahrscheinlicher, als es bei Gastwirten oder Gastwirtinnen heute wäre. Denn 1647 wurden gerade Gerhardts erste Lieder in Berlin veröffentlicht. Ob  die Wirtin Libuschka das wirklich so schnell gemerkt hat?

Aber andere Autoren unserer Zeit standen so im Bann von Paul Gerhardts Lyrik, dass sie sich in ihren Gedichten an ihm abarbeiteten: Bertolt Brecht kam nicht los von Befiehl du deine Wege; Robert Gernhardt dichtete, mit der Krebserkrankung kämpfend, O Haupt voll Blut und Wunden ebenso nach wie Geh aus, mein Herz, und suche Freud. Brechts wie Gernhardts Nachdichtungen lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Aber Gerhardt lebte in mindestens so grausigen Zeiten wie diese Nachgeborenen: Den dreißigjährigen Krieg durchlitt er; vier seiner fünf Kinder starben ihm ebenso hinweg wie seine Frau. Aber seine Lieder künden nicht von Verzweiflung, sondern vom Vertrauen.

Dass sie das auf außerordentlich eindringliche Weise tun, wurde früh wahrgenommen. Bereits 1663 fanden seine Lieder Eingang in schweizerische Gesangbücher. Die ersten Übersetzungen ins Französische standen in dem für die Berliner Hugenottengemeinde bestimmten Gesangbuch, das 1722 erschien. Viele seiner Lieder wurden ins Englische übersetzt. Auch fanden sie im Zuge der Missions- und Auswandererbewegung des 19. Jahrhunderts ihren Weg nach Asien, Afrika und Amerika. Heute gehören seine wichtigsten Lieder im deutschen wie im englischen oder französischen Sprachgebiet zum ökumenischen Liedgut.

Zu den Entwicklungen unserer Zeit gehören Übernahmen in den Bereich der Jazz- und Popmusik. Paul Simon hat mit seinem Song „American Tune“ 1973 einen eigenen Text mit der Melodie zu Paul Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden“ verbunden. Wie anregend Paul Gerhardts Texte und ihre Vertonung durch Johann Crüger, Johann Ebeling oder Johann Sebastian Bach bis in unsere Tage sind, nehmen wir auch in dieser Stunde wahr.

III.

Heute erinnern wir uns in einem reformiert geprägten Gotteshaus an den eingefleischten Lutheraner Paul Gerhardt. Im Europa des 17. Jahrhunderts erschien manchen Regierenden die reformierte Konfession als fortschrittlicher und politisch zukunftsträchtiger als die lutherische. Solche und auch dynastische Überlegungen mögen den Konfessionswechsel des preußischen Kurfürsten Johann Sigismund von der lutherischen zur reformierten Konfession im Jahr 1613 beeinflusst haben. Aus politischen und ökonomischen Gründen war für seine Nachfolger Toleranz wichtig, nur so konnten sie beispielsweise reformierte Niederländer und hugenottische Flüchtlinge in ihrem mehrheitlich weiterhin lutherisch geprägten Staat ansiedeln; auf diese Ansiedlungen aber waren sie schon wirtschaftlich dringend angewiesen. Sie durchzusetzen rief aber in der lutherischen Opposition Widerstand hervor, der sich mit der Opposition gegen die absolutistische Herrschaftsform verband.

Trotz solcher kritischer, ja außerordentlich delikater Auseinandersetzungen wurde der Kurfürst natürlich weiterhin als von Gott eingesetzte Obrigkeit anerkannt. Doch seine Macht, Paul Gerhardt schärfte das besonders ein, war nur geliehen: Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll. Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.

Zu Konflikten kam es schon damals für den Fall, dass dem weltlichen Herrscher das religiöse Profil seiner Untertanen zu kämpferisch war, weil dieses Profil nicht mehr in sich wandelnde politische Interessen passte, oder weil zusätzliche Maßnahmen nötig erschienen, um die unterschiedlichen Konfessionskulturen zur Koexistenz zu bringen.

Doch staatliche Religionsdiplomatie kann leicht als Eingriff in die Gewissensfreiheit der einzelnen erscheinen. In einer Zeit, in der die evangelischen Geistlichen Staatsbedienstete waren, konnte ein solcher Konflikt weit reichende Folgen haben. Es legte sich nahe, dem landesherrlichen Kirchenfürsten den Gehorsam zu verweigern, wenn er in unzulässiger Weise in den Glauben oder in das kirchliche Leben einzugreifen suchte. Mit der an ein Jesuswort angelehnten Formel Dem Kurfürsten, was sein ist, und Gott, was Gottes ist wurde auf die Unterscheidung zwischen politischer Toleranz und kirchlich-theologischer Klarheit gedrängt. In dem vom Großen Kurfürsten anberaumten Religionsgespräch betonte der Wortführer der lutherischen Seite, zu der auch Paul Gerhardt gehörte, es sei ein großer Unterschied, einen nicht für einen Bruder aufnehmen wollen im Glaubensbekenntnis und einen gar nicht leiden wollen… Das letzte ist von uns nie gehört.

Es ging also unter den Bedingungen jener Zeit darum, dass es sich auch dann um einen Dialog, ein Religionsgespräch handelt, wenn man nicht in allen Dingen einer Meinung ist – eine Einsicht, die uns auch bei heutigen Dialogen, bei heutigen Religionsgesprächen nicht ganz unbekannt ist. Standhaft weigerten sich die damaligen Lutheraner, dem Toleranzedikt des Kurfürsten, das die Anerkennung der reformierten Theologie durch die Lutheraner einforderte, zuzustimmen, und stritten für die grundsätzliche Freiheit, die eigene Überzeugung, wenn nötig, auch kontrovers vertreten zu können.

Nachdem die führenden Lutheraner außer Landes gegangen oder mundtot gemacht worden waren, galt Paul Gerhardt als Kopf der Opposition. Um dessen Absetzung von seiner Stelle in Berlin gab es viel Streit, bis er schließlich im Jahr 1669 als Propst nach Lübben zog; später haben die Berliner das bedauert. Damals lag Lübben in Sachsen; jetzt gehört es zu Brandenburg. Mittenwalde, Berlin, Lübben: aus heutiger Sicht nimmt diese Berufsbiographie vorweg, was wir unverdrossen erstreben – nämlich die Zusammengehörigkeit von Brandenburg und Berlin.

IV.

Drei Jahrzehnte, nämlich die Jahrzehnte von seinem elften bis zu seinem 41. Lebensjahr, verbringt Paul Gerhardt im Krieg. Ein halbes Leben vollzieht sich im Ausnahmezustand mit Angst und Verzweiflung, Verunsicherung und Skepsis, aber auch mit Glauben und Hoffen. Nach dem Krieg sind auch die Seelen der Menschen versehrt. Im Alltag der Katastrophe hat sich die Gottvergessenheit breit gemacht. Unfähig zu trauern und ohne den Trost Gottes stumpften die Überlebenden immer mehr ab und wurden immun gegen jeden Lebenssinn. Gottlos sind die Alten alt geworden heißt ein geflügeltes Wort aus jener Zeit. Paul Gerhardt will deswegen mehr als eine Waffenruhe. Er möchte auch Frieden zwischen Gott und den Menschen.

Doch die Sterberate war in den Zeiten der Pest so hoch, dass Menschen in Massengräbern ohne Namen und Ort beerdigt werden mussten, auch ohne Abschiedsrituale; aus dieser Zeit stammt die Redewendung, jemand werde sang- und klanglos zu Grabe getragen. So weit nach Liedern gefragt wurde, waren es vor allem Buß-, Trost- und Sterbelieder. Zwar konnte das Singen die körperlichen Symptome nicht zum Verschwinden bringen; aber der Gesundheit der Seele tat es wohl. Deshalb stieg der Bedarf an Liederbüchern gerade in den Zeiten von Pest und Krieg erheblich an.
Für Paul Gerhardt ist das Sterben ein Übergang. Der Tod wird nicht verharmlost, er behält seinen Schrecken. Doch er behält nicht das letzte Wort. Wer die Kunst des Sterbens beherrscht, dem fällt der Übergang leicht; und wieder fällt unser Schlüsselwort: unverzagt.

Das schreib dir in dein Herze,
du hochbetrübtes Heer,
bei denen Gram und Schmerze
sich häuft je mehr und mehr;
seid unverzagt, ihr habet
die Hilfe vor der Tür;
der eure Herzen labet
und tröstet, steht allhier.

Das unerschrockene Verhältnis zum Tod ist wohl der Grund dafür, warum Texte Paul Gerhardts den Jesuitenpater Alfred Delp in seiner Gefängniszelle gestärkt und gekräftigt haben. Und Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinem ersten Lebenszeichen an seine Eltern aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel nach seiner Verhaftung im April 1943: Verzeiht, dass ich Euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin diesmal weniger ich, als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul Gerhardt Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue. Und am entscheidenden Wendepunkt, nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944, heißt es gleich im ersten Brief – in dem der Verzweiflung abgerungenen Brief vom 21. Juli 1944: Es kommen Stunden, in denen man sich mit den unreflektierten Leben- und Glaubenvorgängen genügen lässt. Dann freut man sich ganz einfach an den Losungen des Tages… und man kehrt zu den schönen Paul Gerhardtliedern zurück und ist froh über diesen Besitz.  Und natürlich ist es auch für Bonhoeffer ein Schlüsselwort – dieses unverzagt:

Unverzagt und ohne Grauen
soll ein Christ, wo er ist,
stets sich lassen schauen.

V.

Paul Gerhardt vermittelt ein Vertrauen zu Gottes Güte, das an der Kränkung, die jedes menschliche Herz erfährt, nicht zerschellt. Dabei verband Paul Gerhardt seine Glaubenszuversicht und seine Kritik an der Obrigkeit mit offener Sozialkritik. Er schuf eine Poesie von unten; prophetisch klingt seine Klage, dass Reichtum sich zu schnell mit Unrecht vermählt: Sei der Verlassenen Vater, der Irrenden Berater, der Unversorgten Gabe, der Armen Gut und Habe.  Sein Gib dich zufrieden und sei stille wollte der Geborgenheit in Gott dienen trotz nicht zufrieden stellender Lebenslagen. Seine Lieder wollen dazu helfen, dass Menschen sich auch in Armut und Leid nicht selbst aufgeben.

Dort, wo es um Gottes Zusagen geht, die das Herz fest machen, schlägt Paul Gerhardts Herz. Das Paul-Gerhardt-Jahr ist eine ungeheure Chance dazu, auf das zu hören, was das Herz fest macht. Dazu helfen die Lieder Paul Gerhardts, die bekannten wie die unbekannten. Denn auch die unbekannten haben es in sich.

Erst unlängst hat mich der Maler und Grafiker Robert Weber auf ein geradezu verschollenes Gedicht aufmerksam gemacht – ein Gedicht von achtzehn Strophen, die Robert Weber mit achtzehn eindrucksvollen Radierungen kommentiert hat. Nur den Beginn dieses Gedichts kann ich hier zitieren:

Du bist ein Mensch, das weißt du wohl,
Was strebst du denn nach Dingen,
Die Gott, der Höchst, alleine soll
Und kann zu Werke bringen?
Du fährst mit deinem Witz und Sinn
Durch so viel tausend Sorgen hin
Und denkst: wie wills auf Erden
Doch endlich mit mir werden?

Es ist umsonst. Du wirst fürwahr
Mit allem deinem Dichten
Auch nicht ein einzges kleinstes Haar
In aller Welt ausrichten,
Und dient dein Gram sonst nirgend zu,
Als dass du dich aus deiner Ruh
In Angst und Schmerzen stürzest
Und selbst das Leben kürzest.

Willst du was tun, was Gott gefällt
Und dir zum Heil gedeihet,
So wirf dein Sorgen auf den Held,
Den Erd und Himmel scheut,
Und gib dein Leben, Tun und Stand
Nur fröhlich hin in Gottes Hand,
So wird er deinen Sachen
Ein fröhlich Ende machen.

Dass Ihre Sachen ein fröhliches Ende finden, dass all Ihr Tun zu einem guten Ziel findet, das wünsche ich Ihnen von Herzen. Und denke mir dabei, dass manches noch besser gelingen würde, wenn wir mit Paul Gerhardt das, was wir selbst tun können, beherzt von dem unterscheiden, das wir aus Gottes Hand dankbar hinzunehmen haben.