Reformatorischer Konsens und ökumenische Profile

Wolfgang Huber

I. Drei Jubiläen: Gemeindejubiläum 2007, Calvin-Jahr 2009 und Reformationsjubiläum 2017

Herausragende Ereignisse der Welt- wie der Kirchengeschichte finden hier in Genf ihren konkreten Niederschlag. Auch die Begründung des lutherischen Gottesdienstes in dieser Stadt vor genau 300 Jahren gehört in einen solchen weiten Zusammenhang. Die Reformation war in Genf schon 1536 durch Johannes Calvin eingeführt worden. Doch lutherische Gottesdienste hatte es hier über die Jahrhunderte hin nicht gegeben, bis deutsche Kaufleute, die aus Lyon kommend hier Zuflucht suchten, solche Gottesdienste erbaten. Denn mit der Aufhebung des Edikts von Nantes, so begrenzt auch die Rechte waren, die es den Evangelischen in Frankreich gewährte, verloren auch die Lutheraner in Frankreich die Möglichkeit, ihren Glauben auszuüben. Nicht nur Reformierte, sondern auch Lutheraner begaben sich auf die Flucht, so auch jene deutschen Kaufleute. Sie konnten hier an das Wirken jener Kaufleute anknüpfen, die schon um 1520 die Kunde von der Reformation Martin Luthers nach Genf gebracht hatten.

Dreihundert Jahre lutherische Gottesdienste in Genf heißt auch: dreihundert Jahre deutschsprachige Gottesdienste. Die Unterstützung des Preußenkönigs Friedrich I. hatten jene Kaufleute in Anspruch genommen, als sie vom Magistrat des calvinistischen Genf das Recht erbaten, lutherische Gottesdienste feiern zu dürfen. Die Genfer Autoritäten, aber auch die Genfer Bürger sagten Ja und so entstand hier eine lutherische Tradition; dass eines Tages sogar der Lutherische Weltbund hier heimisch würde, konnte man ja auch nicht von ferne ahnen. Seit drei Jahrhunderten wird Gottes Wort in deutscher Sprache hier verkündigt, werden die Sakramente nach lutherischer Lehre recht verwaltet. Ich gratuliere Ihnen herzlich zu diesem Jubiläum, dem Sie das schöne Motto gegeben haben: „Aus Vertrauen Brücken bauen.“ Sie schlagen Brücken in die Stadt Genf hinein genauso wie in die Ökumene.

Nun kann man in Genf im Jahr 2007 nicht ein lutherisches Jubiläum feiern, ohne den Blick nach vorn zu richten und sich zu vergegenwärtigen, welches Jubiläum uns in Kürze bevorsteht. Im Jahr 2009 ist des 500. Geburtstags von Johannes Calvin zu gedenken. Dieses Geburtstagsfest kann ich gar nicht in den Blick nehmen, ohne mich an eine Anekdote zu erinnern, die Georges Casalis mir vor Jahrzehnten erzählte, der eindrucksvolle Theologe aus Paris, der mit der Tochter des Schweizer Theologen Eduard Thurneysen verheiratet war. In seinem Ruhestand nahm Georges Casalis mit seiner Frau in Calvins Geburtshaus in Noyon Wohnung; angesichts der spärlichen Rente für einen Theologieprofessor in Frankreich war er auf eine günstige Unterkunft angewiesen. Zu seinen Pflichten gehörte es, Besuchergruppen durch Calvins Geburtshaus zu führen. So geriet er eines Tages an eine Schulklasse aus Paris, die nur des strömenden Regens wegen in das Haus kam; man suchte eigentlich nicht mehr als ein Dach über dem Kopf. Doch Georges Casalis wollte die Gelegenheit nutzen, nahm auf der Treppe Aufstellung und begann seine Erklärung: „In diesem Hause wurde Jean Calvin geboren“ – so hob er an. „Qui était Jean Calvin – Wer war Johannes Calvin?“ – so tönte es ihm entgegen. Er versuchte eine einfache Antwort und sagte: „Johannes Calvin war ein Mensch, dem Jesus Christus sehr wichtig war.“ „Qui était Jésus Christ – Wer war Jesus Christus?“ So klang es nun aus Schülermund. Womit das Gespräch – wenn auch wider Willen – durchaus beim Kern der Reformation war.

Wer über das Calvin-Jahr 2009 hinausblickt, stößt schon bald auf ein anderes 500. Jubiläum. Denn dann wird der 500. Jahrestag des Thesenanschlags Martin Luthers an der Wittenberger Schlosskirche zu begehen sein. Die erste von Luthers 95 Thesen „Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte mit seinem Wort ‚Tut Buße’, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei“ beschreibt auf ihre Weise den Anlass für eine Erneuerung der Kirche gegeben, die mit dem Wort „Reformation“ Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat. Der Reformation ging es ja nicht darum, eine neue Kirche zu schaffen, sondern den christlichen Glauben in seinem eigentlichen, ursprünglichen Sinn freizulegen. Die reformatorische Tradition beginnt also nicht erst 1509, 1517 oder 1707. Sie geht zurück auf die biblischen Quellen und speist sich aus den theologischen Erkenntnissen der Kirchenväter wie der mittelalterlichen Theologie. Die Reformation war von der Intention bestimmt, die Quellen des Glaubens neu und ursprungsgerecht zu verstehen. Pfingsten ist der Geburtstag auch unserer Kirche. Die evangelischen Kirchen stehen in Treue und Kontinuität zur alten Kirche. Daran lohnt es sich, bei der Feier eines jeden evangelisch geprägten Jubiläums zu erinnern. Den Ursprung evangelischer Frömmigkeit bildet die Rückbesinnung auf Christus selbst, auf den Glauben, auf die Heilige Schrift und auf Gottes Gnade, um von dieser Quelle her das Leben im Glauben zu gestalten.


II. Der reformatorische Konsens (das reformatorische „allein“)

In den letzten Jahrzehnten schien es oft so, als sei die christliche Religion „aus der Mode gekommen“, als sei die christliche Botschaft irrelevant geworden in der modernen Gesellschaft. Was das Besondere der Reformation sei, konnte in einer solchen geistigen Atmosphäre nur schwer zur Sprache gebracht werden.

Sprechen die Kirchen überhaupt noch die Sprache der Menschen – so wurde gefragt. Benutzen sie nicht viel zu große Worte? Können die Menschen überhaupt noch verstehen, was gemeint ist, wenn die Besonderheit des reformatorischen Aufbruchs mit dem vierfachen „allein“ zum Ausdruck gebracht wird: allein Christus, allein die Heilige Schrift, allein aus Gnade, allein durch den Glauben. Wer freilich genau hinschaut, wird erkennen: Die reformatorischen Grundaussagen, der reformatorische Konsens, sind auch heute noch aktuell.

Ein Beispiel: Allein Christus. Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass eine Umfrage in Deutschland den Papst zum dominierenden deutschen Intellektuellen kürt? Das Magazin Cicero hat in seiner jüngst veröffentlichten Liste der 500 führenden deutschen Intellektuellen Papst Benedikt XVI. an die erste Stelle gesetzt. Und was ist seine Botschaft? Allein Jesus Christus! Gewiss können manche Äußerungen des Papstes kontroverse Reaktionen auslösen. Aber an einem gibt es keinen Zweifel: Wie kaum ein Papst vor ihm stellt Benedikt XVI. Jesus Christus in den Mittelpunkt seines Denkens und Redens – und das nicht nur in seinem Buch über Jesus von Nazareth. Bei meinem Besuch in Rom im Mai dieses Jahres konnte ich mich im persönlichen Gespräch davon überzeugen, wie ernst er es damit meint. Und es besteht begründeter Anlass zu der Hoffnung, dass er damit auch gehört wird. Wir als evangelische Christen können uns darüber nur freuen.  Und ich hoffe, er wird damit nachhaltiger gehört als mit anderen, keineswegs demütigen Aussagen, die gegenwärtig, mit päpstlicher Autorisierung, aus Rom zu hören sind. Die theologische Leidenschaft von Benedikt XVI., das muss man würdigen, ist auf Jesus Christus gerichtet, das „menschliche Antlitz“ Gottes, an dem erkennbar wird, dass Gott die Liebe ist. „Solus Christus“ – es scheint, als sei das gar nicht so irrelevant für die moderne Welt, wie man gemeint hat.

Ein weiteres Beispiel: Allein die Bibel. Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass die Veröffentlichung einer Bibelübersetzung zu großer Aufregung in den Medien führt, gerade in den außerkirchlichen? Aber genau das ist geschehen. Ebenso wie vor vierzig Jahren eine öffentliche Debatte darüber entbrannte, ob die damals geplante Revision der Lutherübersetzung der Sprachkraft des Reformators gerecht werde, und ebenso, wie vor knapp zwei Jahren der Streit darüber, ob Evangelische sich an einer Bibelübersetzung mit der römisch-katholischen Kirche beteiligen könnten, wenn dabei die Gefahr bestand, den Rang des Urtextes zu relativieren, wird auch jetzt wieder öffentlich und teilweise mit großer Leidenschaft über Übertragungen der Bibel diskutiert.

Die vor einem Jahr veröffentlichte „Bibel in gerechter Sprache“ nimmt für sich in Anspruch, dem biblischen Urtext treu zu bleiben und gleichzeitig die Anliegen der Geschlechtergerechtigkeit, der Gerechtigkeit im Hinblick auf den jüdischen-christlichen Dialog und der sozialen Gerechtigkeit aufzunehmen. Das hat zu einem enormen Medienecho geführt und die Feuilletons der großen Tageszeitungen zu ausführlichen Debatten darüber veranlasst, was die Bibel für unsere Gesellschaft und den persönlichen Glauben des Einzelnen bedeutet.

Aber auch die vom Kirchenrat der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich herausgegebene Neufassung der Zürcher Bibel ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Viele sehen in ihr ein epochales Werk. Dankenswerterweise ist ihr eine große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil geworden. Mit ihr scheint es mir in gutem Maße gelungen, die biblische Botschaft quellentreu mit Worten zu sagen, die die Menschen verstehen und nachvollziehen können. „Sola Scriptura“ – es scheint, als sei das gar nicht so irrelevant für die moderne Welt, wie man gemeint hat.

Das dritte Beispiel: Allein durch die Gnade. Selten ist in der deutschen Öffentlichkeit das Wort „Gnade“ so oft in den Mund genommen worden wie in den ersten Wochen dieses Jahres, als heiß um mögliche Hafterleichterungen und die eventuelle frühzeitige Entlassung des ehemaligen RAF-Terroristen Christian Klar gestritten wurde. Denn mit der Frage nach der vorzeitigen Entlassung von Christian Klar aus der Haft kam das große Thema der Gnade wieder in die öffentliche Debatte. Der deutsche
Bundespräsident, Horst Köhler, hat nach reiflicher Prüfung von einem Gnadenerweis abgesehen. Gegner und Befürworter einer Begnadigung Klars hatten sich zuvor zum Teil vehement zu Wort gemeldet und gefordert, Klar dürfe keinesfalls vorzeitig begnadigt werden – oder umgekehrt: die Begnadigung Klars sei überfällig. Dabei ist es interessant, welch unterschiedliche Bedeutungen dem Wort „Gnade“ beigelegt werden. Viele haben die Bedingungen formuliert, unter denen Gnade erwiesen werden kann. Dass man meinte, solche Bedingungen angeben zu können, macht deutlich, dass das Wort „Gnade“ in einem solchen Fall nur analog verwendet wird. Denn theologisch betrachtet ist eine Gnade, die an Bedingungen geknüpft ist, keine wirkliche Gnade. Denn für Gottes Gnade gilt, dass sie „freie Gnade“ ist und in keinerlei „Verdienst und Würdigkeit“ ihre Grundlage hat. „Sola Gratia“ – es scheint, als sei das gar nicht so irrelevant für die moderne Welt, wie man gemeint hat.

Und schließlich ein letztes Beispiel: Allein durch den Glauben. Anknüpfend an eine Äußerung der Kultusministerin des Bundeslandes Hessen, Karin Wolff, hat sich in Deutschland unlängst eine Debatte über das Verhältnis von biblischem Schöpfungsglauben und naturwissenschaftlicher Evolutionslehre entwickelt. Dabei sind auch international wirksame Strömungen, z.B. der aus den USA stammende Kreationismus und seine modernisierte Weiterentwicklung in der Theorie des „intelligent design“ ins Gespräch gekommen. Der entscheidende Denkfehler des damit verbundenen Konzepts liegt darin, dass man mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden das Eingreifen Gottes in die Evolution der Welt und der Lebensformen plausibel machen und damit den Glauben stärken möchte. Damit wird aber völlig vernachlässigt, dass die modernen Naturwissenschaften jene Dimensionen des Wirklichen gar nicht erreichen können, die im Glauben an den Schöpfer benannt und erkannt werden. Dies ist in der Debatte, die sich in vielfältigen Zeitungsartikel und Leserbriefen, aber auch in kirchlichen Stellungnahmen widergespiegelt hat, immer wieder betont worden. Naturwissenschaften wie Physik und Biologie orientieren sich an der Welt der messbaren Objekte und kalkulierbaren Phänomene. Gott aber ist kein bloßes Objekt des Wissens. Der evangelische Theologe Michael Beintker hat dazu klar gesagt: „Mit Gott kann man so gerade nicht umgehen. Man bringt sich um jede Möglichkeit der Gotteserkenntnis, wenn man Gott auf eine Ebene mit physikalischen Erkenntnisobjekten zwingt. Nach wie vor ist die wichtige Grundregel im Umgang mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu beachten, dass Gott nicht als Lückenbüßer in die offenen Lücken menschlicher Erkenntnisse geschoben werden darf.“

Kreationisten, so zeigt diese Diskussion, leisten dem Glauben an Gott einen schlechten Dienst, wenn sie Gott zu einer wissenschaftlich erweisbaren Ursache in der Welt der Erfahrung machen. Sie fordern mit ihrer Argumentation gerade dazu auf, Gott mit jeder durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse wieder geschlossenen Lücke aus der Welt hinausdrängen. Dies stärkt den Glauben nicht. Auf der Linie eines biblisch begründeten Schöpfungsglaubens ist die Vorstellung von einem Schöpfer und einem durch seinen Willen entspringenden Plan ebenso legitim wie der Gedanke, dass solch ein Plan die Prozesse der Selbstorganisation der Materie durchwaltet. In der Perspektive eines solchen Glauben hat Gott nicht einfach nur die Basisinformationen für den sogenannten „Urknall“ zur Verfügung gestellt, sondern den Weg der Welt bis zum heutigen Tage beeinflusst und begleitet. Aber sich so zu Gott dem Schöpfer als dem Geheimnis alles Geschaffenen zu bekennen, ist etwas anderes, als ihn zur wissenschaftlich beweisbaren Weltursache zu erklären. Es scheint, dass auch die Perspektive „Allein aus Glauben“ heute wieder neue Aktualität gewinnt.


III. Reformatorische Vielfalt

Nun kann man vom reformatorischen Konsens nicht sprechen, ohne nicht auch die reformatorische Vielfalt in den Blick zu nehmen. Am heutigen Tag liegt das besonders auf der Hand, an dem wir uns daran erinnern, dass vor dreihundert Jahren im reformiert geprägten Genf ein lutherischer Gottesdienst eingeführt wurde. Warum schlossen sich die lutherischen Kaufleute, die hier Zuflucht fanden, nicht einfach dem reformierten Gottesdienst an? Warum trug das gemeinsame reformatorische Erbe nicht so weit?

Es waren ernste theologische Gründe, die das verhinderten. Unter ihnen stand die unterschiedliche Auffassung vom Abendmahl obenan. Doch sie verband sich mit Differenzen in der Gotteslehre ebenso wie in der Verhältnisbestimmung von Amt und Gemeinde. So sehr man im Rückblick bedauert, dass der Weg der Reformation sich auf eine solche Weise gabelte, so sehr muss man die Ernsthaftigkeit des Ringens respektieren, das zu diesem Ergebnis führte.

Doch mit derselben Klarheit muss man feststellen, dass der innerevangelische Dissens heute nicht mehr in derselben Weise fortbesteht. Es waren insbesondere die Erfahrungen in der Bekennenden Kirche während des nationalsozialistischen Regimes, die zu einem neuen und gemeinsamen Ansatz im Verständnis des Abendmahls führten. Er wurde dadurch möglich, dass die reale Präsenz Jesu Christi im Abendmahl nicht isoliert an die Elemente als solche, sondern an den gottesdienstlichen Vollzug im Ganzen geknüpft wurde. Er eröffnet die Versöhnung der Menschen mit Gott wie untereinander, die durch den auferweckten Christus vermittelt und verbürgt wird. In ihm aber ist zugleich der vorösterliche Christus, der gekreuzigte Heiland wie der verheißene Menschensohn präsent. Die Ganzheitlichkeit dieser Präsenz wird darin konkret, dass die Schöpfungsgaben von Brot und Wein als Leib und Blut Christi prädiziert werden. Im Blick auf diesen Vorgang im Ganzen können heute reformierte und lutherische Christen gemeinsam die reale Präsenz Jesu Christi im Abendmahl bekennen.

Zu diesem Klärungsprozess hat die lutherische Seite vor allem dadurch beigetragen, dass sie auf dem Gedanken der Realpräsenz Christi beharrte; die reformierte Seite aber hat die Klärung vor allem dadurch gefördert, dass sie das Abendmahl als eine „gottesdienstliche Handlung der im Namen Jesu versammelten Gemeinde“ verstand. Beide Gesichtspunkte sind heute im evangelischen Verständnis miteinander verbunden.

Damit war der Weg dazu geebnet, dass die evangelischen Kirchen Europas, ihnen folgend aber auch einige lateinamerikanische evangelische Kirchen in der Leuenberger Konkordie von 1973 förmlich feststellten, dass eine ausreichende Basis für den Vollzug der Kirchengemeinschaft gegeben sei. Diese Kirchengemeinschaft hat in der Bildung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ihren Ausdruck gefunden, deren Präsident seit einem Jahr der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds Thomas Wipf ist. Mein Wunsch ist es, dass die GEKE immer deutlicher über den Charakter eines Zweckverbands hinauswächst und immer klarere ekklesiale Züge annimmt. Ich unterstütze ausdrücklich das schon seit längerem diskutierte Vorhaben, den Schritt zu einer evangelischen Synode für Europa zu vollziehen. Das würde dem reformatorischen Zeugnis in unserem Kontinent Klarheit und Profil geben. Und es läge darin ein wichtiger Beitrag zum Zusammenrücken der reformatorischen Kirchen auch auf Weltebene. Dafür kann es sich ja nur als günstig auswirken, dass sowohl der Lutherische Weltbund als auch der Reformierte Weltbund ihren Sitz in Genf haben.

Die tiefgreifend gewandelte Situation, die ich mit diesen wenigen Strichen beschreibe, ändert nichts daran, dass reformierte und lutherische Tradition weiterhin einen guten Sinn haben und unentbehrliche Farben in das gemeinsame Zeugnis der evangelischen Kirchen einbringen. Dabei handelt es sich nicht um kontradiktorische Gegensätze, sondern um einander ergänzende Perspektiven: die Konzentration auf das Wort einerseits und der Sinn für die gestaltete Liturgie andererseits, die Hochschätzung der mündigen Gemeinde einerseits; die Wertschätzung des Amts – auch des Bischofsamts – andererseits; die Verkündigung der voraussetzungslosen Gnade einerseits, das Achten auf den Zusammenhang von Zuspruch und Anspruch andererseits – so ließe sich die Reihe gewiss noch lange fortsetzen. In diesem Zusammenhang gilt es auch, den besonderen Charakter unierter Kirchen zu würdigen; für sie ist es übrigens kennzeichnend, dass ihnen die Bekenntnisformulierungen, die im 20. Jahrhundert gefunden wurden, besonders wichtig sind. Dazu zählt nicht nur die Barmer Theologische Erklärung von 1934, sondern auch die Leuenberger Konkordie von 1973, der Schritt für Schritt die Bedeutung eines evangelischen Bekenntnisdokuments zuwächst. Auch in der Pluralität evangelischer Kirchen nimmt der reformatorische Konsens immer deutlichere Gestalt an. Ich kann mir deshalb die Prognose nicht zu Eigen machen, die Kurienkardinal Walter Kasper als Ökumene-Verantwortlicher der römisch-katholischen Kirche der evangelischen Entwicklung vor Kurzem gestellt hat, als er – in einem Vortrag in Freiburg/Breisgau am 9. Juli dieses Jahres – sagte: „Es mag sein, und es zeichnet sich nach meiner Einschätzung auch ab, dass wir es dann einerseits mit bekenntnisfreien, in sich pluralistischen und darum wenig stabilen Gemeinden zu tun haben, die kaum mehr als Kirchen im herkömmlichen protestantischen Sinn zu identifizieren sind, und andererseits mit Kirchen des katholischen und orthodoxen Typs, an die sich die bekenntnistreuen evangelischen Gemeinschaften in der einen oder anderen Form anlehnen.“ Was bedeutet übrigens eine solche Prognose anderes als eine variierte Rückkehr-Ökumene? Ein Teil der evangelischen Kirchen, so wird damit gesagt, verlieren ihren Kirchencharakter; der andere lehnt sich immer stärker an die römisch-katholische und an die orthodoxen Kirchen an. Dem gegenüber, so bin ich überzeugt, ist es angebracht, das eigenständige Profil und das eigenständige Kirchesein evangelischer Kirchen mit Deutlichkeit zu vertreten.
 

IV.  Die Grundlagen ökumenischer Gemeinschaft

Umso wichtiger wird die Frage, worin denn der Grund und die Verpflichtungskraft ökumenischer Gemeinschaft zu sehen ist. Der ökumenische Grundtext des Neuen Testaments gibt darauf eine deutliche Antwort. Er verpflichtet die Christen darauf, „zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“. Und er begründet das mit der Einheit, die allem christlichen Leben und Bekennen vorgegeben ist: „ ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.“ Ökumene heißt: die Einheit zu bewahren und zu erneuern, die den Kirchen vorgegeben ist. Es heißt: den Grund zu bezeugen, auf dem alle Kirchen gemeinsam stehen. Es heißt: das Bekenntnis zu dem einen Herrn, das alle Kirchen gemeinsam aussprechen, im Leben der Kirchen zu bewähren.

In dieser Beschreibung der Grundlagen ökumenischer Gemeinschaft spielt die Taufe eine besondere Rolle. Sie ist in der Tat das ökumenische Grundsakrament. Sie verleiht die Zugehörigkeit zum Leib Christi, der umfassender ist als jede einzelne Kirche. Sie verpflichtet auf die Zusammengehörigkeit aller, die auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft sind. Es könnte für die Gemeinschaft der Kirchen hilfreich sein, stärker auf die ökumenische Bedeutung der Taufe zu achten und dadurch auch einen neuen Zugang zur ökumenischen Bedeutung des Abendmahls zu gewinnen.

In dieser Richtung weist ein Vorschlag, den Kardinal Kasper und der vatikanische Einheitsrat vorgelegt haben. Er zielt darauf, der wechselseitigen Anerkennung der Taufe durch eine Vereinbarung zwischen den Kirchen einer jeweiligen Region Ausdruck zu verschaffen. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland ist der erste regionale ökumenische Zusammenschluss, der diese Anregung aus dem Jahr 2002 verwirklicht hat. Am 29. April dieses Jahres haben wir die wechselseitige Anerkennung der Taufe in einem festlichen Gottesdienst im Magdeburger Dom bekräftigt.  In dieser gewaltigen Kirche mit dem ältesten Taufstein nördlich der Alpen hatten sich elf Kirchen zusammengetan, um die Taufe als „das sakramentale Band der Einheit“ zu feiern. Der Schlüsselsatz der feierlich unterzeichneten Vereinbarung lautet: Wir erkennen „jede nach dem Auftrag Jesu im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes mit der Zeichenhandlung des Untertauchens im Wasser bzw. des Übergießens mit Wasser vollzogene Taufe an…“.

Das war ein Ereignis von großer Bedeutung. Zwar hat sich die wechselseitige Anerkennung der Taufe durch die evangelischen Kirchen – mit Ausnahme derjenigen, die in einer täuferischen Tradition stehen – und der römisch-katholischen Kirche seit einem halben Jahrhundert Schritt für Schritt durchgesetzt. Doch der Schritt zu einer wechselseitigen Taufanerkennung auf der Seite der orthodoxen Kirchen ist ein wichtiges Ereignis.
Für die ökumenische Gemeinschaft insgesamt ist an diesem Schritt unter anderem auch dies von besonderer Bedeutung, dass im Fall des Taufsakraments dem Auftrag Jesu zum Vollzug der Taufe deutlich der Vorrang vor der Frage zuerkannt wird, in welcher Weise in den einzelnen Kirchen die Amtsträger – oder Amtsträgerinnen – legitimiert sind, die das Sakrament vollziehen.

Daran darf auch heute noch, trotz der Ernüchterung der letzten Wochen durch die römisch-katholische Seite, die Hoffnung geknüpft werden, dass eine solche Betrachtung, die dem Auftrag oder der Einladung Jesu den Vorrang vor den unterschiedlichen Amtsverständnissen einräumt, auch den Zugang zu einer Antwort auf die Frage nach der Gemeinschaft im Abendmahl eröffnet.


V. Die Einheit in Christus und die Vielfalt der Konfessionen

Das Bekenntnis zur vorgegebenen Einheit in Christus und der damit verbundene Auftrag zum Eins-Sein in Christus haben von Beginn der Christenheit an unterschiedliche Interpretationen und Ausgestaltungen gefunden. Von dem Neutestamentler Ernst Käsemann stammt der berühmte Satz, dass der biblische Kanon „nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen“ repräsentiere, ja eröffne. Schon in der Bibel finden sich unterschiedliche Auffassungen, Verständnisse und Interpretationen des einen Heilsereignisses in Jesus Christus; die Vielfalt von Gemeinden, Konfessionen und auch Kirchen ist kein Spätphänomen der Christenheit. Naheliegenderweise haben die Unterschiede im Lauf der Jahrhunderte an Gewicht gewonnen.

Die biblischen Texte, auf die sich unser Verständnis des ökumenischen Auftrags stützt, enthalten freilich eine Näherbestimmung der Einheit, auf die alles ankommt. Die Aufforderung heißt, die „Einigkeit im Geist“ zu bewahren, nämlich im Geist Jesu Christi. Das Gebet Jesu geht dahin, dass alle „in uns eins sein" sollen (Johannes 17, 20f.). Es liegt auf der Hand, dass diese Einheit in Christus und in seinem Geist und damit in Gott, dem Vater, mehr und anderes meint als die sichtbare Einheit der Kirchen. Darum liegt die Einheit der Kirchen nicht einfach nur vor uns; sondern sie ist längst gestiftet und vorhanden im Grund der Kirche, in Jesus Christus. Es kommt für die Ökumene entscheidend darauf an, ob man die Einheit der Kirchen an eine äußere, sichtbare Einigkeit der Kirchen bindet, die zu gestalten dann als die entscheidende Aufgabe gilt, oder ob man sie als in Christus gegeben ansieht und sich vor der Aufgabe sieht, die Aktualisierung der Einheit zu fördern, die in Christus schon Realität ist.

In der Aktualisierung der in Jesus Christus gegebenen Realität hat Dietrich Bonhoeffer den entscheidenden Vollzug gesehen, der die Kirche konstituiert. Mein Vorschlag ist, diesen Denkansatz für unser Verständnis der ökumenischen Aufgabe fruchtbar zu machen. Der Grundsatz ökumenischen Handelns und der Maßstab ökumenischer Fortschritte heißt dann: „Dominus Iesus“ – „Herr ist Jesus“.

Diese Antwort freilich schließt einen kritischen Vorbehalt ein, den jede Kirche sich selbst gegenüber geltend machen muss. Wir alle müssen zu unterscheiden lernen zwischen dem Grund einer jeden Kirche, der in Christus Jesus gegeben ist, und der konkreten, geschichtlichen Gestalt der jeweiligen Kirche. Die christlichen Kirchen und Konfessionen sind Variationen des Bezugs auf den einen Grund der Kirche, Jesus Christus. Der Anspruch einer Kirche, sie allein sei die angemessen aktualisierte Gestalt des Grundes, auf dem die Kirche ruht, also Jesu Christi selbst, nur sie sei „Christus als Gemeinde existierend“, degradiert unvermeidlich andere Kirchen und setzt dem Zusammenspiel der konkreten Gestalten von Kirche deutliche Grenzen.

Genau an diesem Punkt hat die vatikanische Glaubenskongregation in ihren „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche“ vom 11. Juli dieses Jahres in brüskierender Weise ihren Anspruch wiederholt. Gegenstand der Äußerungen sind ekklesiologische Auffassungen, die innerhalb der katholischen Kirche vertreten würden, nach Ansicht der Kongregation aber irrtümlich seien. Warum dies dazu genutzt worden ist, eine sehr unglückliche Passage aus der Erklärung „Dominus Jesus“ aus dem Jahr 2000 zu wiederholen, ist nicht so leicht erklärbar. Wenn der Vatikan sagt, die Kirchen der Reformation seien nicht Kirchen im eigentlichen Sinn, dann errichtet er eine ökumenische Blockade. Noch am 9. Juli, zwei Tage vor dieser vatikanischen Veröffentlichung, hatte der vatikanische Ökumene-Kardinal Walter Kasper erklärt, es sei nur ein „zugegebenermaßen verkürzt geratener – Halbsatz in der Erklärung „Dominus Jesus“ (2000), der die protestantischen Kirchen theologisch nicht als Kirchen im eigentlichen Sinn sondern als kirchliche Gemeinschaften“ einstufe. Und er fügte hinzu: „Manchen scheint er willkommen zu sein um die eigenen ökumenekritischen Vorbehalte besser verstecken oder abreagieren zu können.“ Mit dem Dokument, das die Glaubenskongregation zwei Tage später veröffentlichte, konnte man indessen in dem Anspruch der römisch-katholischen Kirche, allein „Kirche im eigentlichen Sinn“ zu sein, weder einen Halbsatz noch eine Verkürzung sehen. Die Zurückweisung eines solchen Anspruchs als Anreagieren eines ökumenekritischen Affekts abzutun, erscheint mir deshalb wirklich als unangemessen.

Der Vorsitzende der Schweizer katholischen Bischofskonferenz, Bischof Kurt Koch, hat zu diesem Vorgang in einem Schreiben an den Präsidenten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, Thomas Wipf, unter anderem erklärt: „Ich muss feststellen, dass die Formulierung der Glaubenskongregation, die aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften seien nicht ‚Kirchen im eigentlichen Sinn’, auf Eurer Seite anders als von der Glaubenskongregation intendiert verstanden worden sind und deshalb viele Verletzungen hervorgerufen hat, die ich sehr bedaure und die mir leid tun.“ Er hat seinerseits für diese Aussage einen Deutungsvorschlag gemacht, der zwar nobel ist, der auch nicht allein von ihm vorgebracht wurde, der aber gleichwohl in den amtlichen Verlautbarungen des Vatikans nach meiner Kenntnis keinen Anhalt findet. Er knüpft dabei an die Aussage des evangelischen Theologen Edmund Schlink aus der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils an, nach welcher das Konzil  die anderen Kirchen „kaum im selben Sinn“ als Kirchen verstanden habe, „in dem die römische Kirche sich selbst versteht, sondern wohl nur in einem analogen Sinn“. Bischof Koch legt deshalb nahe, überall dort, wo von „Kirche im eigentlichen Sinn“ die Rede sei, solle man „Kirche im katholischen Sinn“ verstehen. Und er wiederholt seinen Vorschlag aus dem Jahr 2000, von „Kirchen anderen Typs“ zu sprechen, um deutlich zu machen, dass es nicht darum gehe, den reformatorischen Kirchen das Kirchensein abzusprechen. Doch leider ist der Vorschlag, den er 2000 im Blick auf die Erklärung „Dominus Iesus“ gemacht hat, nicht in die Antworten der Päpstlichen Glaubenskongregation vom 11. Juli 2007 übernommen worden.

Da Bischof Koch sich in seinem weithin beachteten Brief an Präsident Wipf ausdrücklich auf mich bezogen hat, will ich noch Folgendes hinzufügen: Wie ich an einer früheren Stelle dieses Vortrags deutlich gemacht habe, liegt es mir fern, die auf Christus konzentrierte Verkündigung von Papst Benedikt XVI. in Zweifel zu ziehen. Doch dies ändert nichts daran, dass es genau diese Konzentration auf Christus ist, welche es der evangelischen Kirche unmöglich macht, einen Stellvertreter Christi auf Erden mit einem Primat auszustatten, der ihm eine gegenüber allen anderen Christen einzigartige Autorität zuerkennt. Die mir von Bischof Koch unterstellte Aussage, „in der evangelischen Kirche stehe stets der Herr Jesus Christus im Mittelpunkt im Unterschied zur katholischen Kirche, in der sich alles um dessen Stellvertreter drehe“, habe ich freilich in dieser Allgemeinheit nie gemacht; insofern besteht auch kein Grund, mir diese Aussage als einen „ökumenischen Affront sondergleichen“ vorzuhalten.

Ich halte fest: Der Anspruch, der hinter den Aussagen der Päpstlichen Glaubenskongregation über das Wesen der Kirche „im eigentlichen Sinn“ steht, muss zurückgewiesen werden. Der Vatikan kann allenfalls darüber befinden, was es bedeutet, eine Kirche im katholischen Sinn zu sein.
Ich sage es hier ganz deutlich: Ökumene lebt im und vom gemeinsamen Engagement für das Evangelium. Unzählige Gemeinden machen das vor. Mit gleicher Deutlichkeit füge ich hinzu: Eine Auseinandersetzung darüber, welche unserer Kirchen eine „Kirche im eigentlichen Sinne“ sei, ist diesem ökumenischen Miteinander nicht förderlich. Betrachten wir diese Auseinandersetzung im Licht des Evangeliums, fällt einem unwillkürlich das Beispiel der beiden Jünger Jesu ein, Jakobus und Johannes, die im Himmel die besten Plätze zugesichert bekommen wollten. Jesus antwortete: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ Im Licht des Evangeliums ist es peinlich, wenn wir darüber streiten, ob die römisch-katholische oder die evangelische Kirche näher bei Christus sitzen darf.
 
Eine Fixierung auf die letzte Wendung im Gespräch mit der römisch-katholischen Kirche ist uns freilich verwehrt. Die Tage der dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Hermannstadt haben uns das wieder deutlich gemacht. Die Kirchen würden  ihrem Auftrag nicht gerecht, wenn sie die Chance ungenutzt ließen, um deutlich zu machen, wie sie in einer vorbildhaften Weise Einheit in Vielfalt und Vielfalt in Einheit gestalten wollen. Sie stehen vor der Aufgabe, deutlich zu machen, wie sie die spirituelle Erneuerung in ihrem eigenen Innern mit der Zuwendung zu den Menschen verbinden, denen der christliche Glaube fremd geworden ist. Sie müssen deutlich machen, dass die gottesdienstliche Feier des Glaubens und sein tätiges Bezeugen in den Herausforderungen unserer Zeit  eine unauflösliche Einheit bilden.

In unserem ökumenischen Pflichtenheft steht nicht, über das Kirchesein einer anderen Kirche zu verfügen. In ihm steht vielmehr, dass wir jeweils selbst unserem Auftrag als Kirche zu entsprechen suchen. Und die Frage, ob die evangelische Kirche Kirche Jesu Christi und damit Kirche im eigentlichen Sinn ist, wird nicht in Rom entschieden, sondern überall dort in unseren Gemeinden und in unserem gemeinsamen kirchlichen Handeln, wo wir darum bemüht sind, „die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk“, wie die Barmer Theologische Erklärung von 1934 formuliert hat. Für mich hat deshalb im ökumenischen Dialog die Achtung für das Kirchesein der anderen einen hohen Rang; sie begründet die Einheit in Vielfalt und bahnt den Weg zu versöhnter Verschiedenheit.

Wir müssen Ökumene heute unter der Voraussetzung gestalten, dass die beteiligten Kirchen nicht nur unterschiedliche Kirchenverständnisse sowie unterschiedliche Vorstellungen von Amt und Ordination, vom Verhältnis zwischen Schrift und Tradition, von Frauen im geistlichen Amt haben, sondern dass sie unterschiedliche Vorstellungen von dem haben, was „sichtbare Einheit“ bedeutet. Es wäre ja auch zu verwunderlich, wenn die verschiedenen theologischen Ansätze sich nicht auch in unterschiedlichen Zielvorstellungen spiegelten. Doch gemeinsam sollen und können die ersten Schritte sein. Dies gebietet der in der Geschichte der Christenheit selbst gegründete wechselseitige Respekt.


VI. Ökumene der Profile

Gerade weil wir vor gemeinsamen Herausforderungen stehen und für gemeinsames Handeln auch gute Voraussetzungen geschaffen haben, ist es unvermeidlich geworden, auch die verbleibenden Unterschiede in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne habe ich erstmals in einer Ansprache an Papst Benedikt XVI. bei der Begegnung am Rande des Weltjugendtages im August 2005 von einer Phase der „Ökumene der Profile“ gesprochen. In einer Ökumene der Profile sind zwei Grundintentionen vereinigt: Einmal gehört zu ihr der unbeirrbare Impuls der evangelischen Kirche, die Ökumene zu fördern, das Gemeinsame zu vertiefen und den Motor einer ökumenischen Annäherung immer wieder anzuwerfen. Zum anderen aber gehört zu einer Ökumene der Profile auch die Ernsthaftigkeit, die für die evangelische Seite unaufgebbaren theologischen Einsichten der Reformation auszusprechen und zu vertreten. Es sollen nicht alte, schon überwundene Gegensätze künstlich wieder belebt werden, sondern zentrale, für den evangelischen Glauben unhintergehbare Einsichten ebenso fair wie klar benannt werden. Deswegen gehören m.E. zu einer „Ökumene der Profile“ drei wesentliche Elemente:

1. Differenzen profilieren

Ob man nun an die für uns Evangelische nach wie vor befremdliche Vorstellung von Ablass und Verringerung von Fegefeuerzeiten durch die Kirche denkt, ob man an die Marien-Verehrung denkt, ob man die jüngst vom Papst eröffnete Möglichkeit denkt, Gottesdienste wieder in lateinischer Sprache zu zelebrieren, ob man an die Fragen von Amt und Ordination oder an die ethischen Positionierungen zu Themen wie Sexualmoral und Empfängnisverhütung denkt: es gibt viele Themen- und Sachgebiete, die nach wie vor unterschiedlich gesehen werden. Eine präzise Beschreibung dieser Differenzen ist der erste Beitrag zu einer Ökumene der Profile. Es geht dabei um die klare und unpolemische Beschreibung dessen, worin der Unterschied zwischen den Konfessionen besteht, wie er zu verstehen ist und worin seine geistigen und theologischen Wurzeln liegen. Im Unterschied zu der früheren Zeit wäre das "erkenntnisleitende Interesse" nicht, Formulierungen zu finden, die möglichst schon eine ökumenisch gemeinsame Sprache avisieren (wie z.B. „communio sanctorum“), sondern es geht um eine größere Sachlichkeit und Nüchternheit, die die beiden Konfessionen im Idealfall gemeinsam die Unterschiede benennen lässt. Dabei wird man in allen diesen theologischen Sachfragen – so ist es jedenfalls meine Vermutung – letztlich und in der Tiefe auf einen Unterschied stoßen, den fair zu beschreiben einen unerlässlichen, aber noch keineswegs abgeschlossenen Schritt auf dem Weg zu größerer Gemeinsamkeit darstellt:
Das evangelische Verständnis von der Gegenwart Gottes eröffnet die fundamentale Einsicht, dass Gottes Geist und seine Wahrheit keineswegs einen Gegensatz zur modernen Welt, sondern im tiefsten ihren tragenden Grund bilden. Die von Pluralismus und Individualismus, vermeintlichem Säkularismus und Materialismus geprägte moderne Welt ist Gottes Welt, von ihm gelenkt und geleitet, von seinem Trost gehalten und von der verantwortlichen Mitgestaltung durch die Christen geprägt. Der evangelische Glaube schätzt und würdigt die nicht zuletzt in der Reformation freigesetzten Impulse der Aufklärung und der individuellen Freiheit, der klaren Unterscheidung zwischen Konfession und Bürgerrecht bzw. zwischen Staat und Kirche, der kritischen Wissenschaften und der Liberalisierung von Moralvorstellungen, obwohl er weiß, dass all diese Entwicklungen sich auch kritisch gegen ihn selbst gewandt haben und die Erfüllung seines Auftrages nicht eben erleichtern. Der evangelische Glaube ist keine „Gegen- oder Antimoderne“, er ist ein weltzugewandter Glaube, der darum die sichtbare Kirche das sein lassen kann, was sie ist: Teil dieser Welt, schuldfähig, erneuerungsbedürftig und liebenswert.

2. Profilierte Mission - Mission mit Profil

Ein zweiter Aspekt einer „Ökumene der Profile“ bezieht sich auf das gemeinsame Wirken nach außen. Welche Folgen hat es in einer modernen Gesellschaft, wenn die großen Traditionsströme des Christentums ihre Unterschiede bewusster zur Sprache bringen? Nach meiner Auffassung wäre es ein Missverständnis, darin eine Schwächung der christlichen Kirchen zu sehen. Im Gegenteil, unter missionarischem Gesichtspunkt kann man sagen, dass die beiden großen Konfessionen dann faktisch zwei unterschiedliche Missionsstrategien vertreten, die beide mit dem je besonderen Profil verknüpft sind. Es ist, als hätte Christus gleichsam zwei Arme, mit denen er auf unterschiedliche Weise die Menschen zu erreichen versuchte. In dieser Perspektive kann man die Stärken des jeweils Anderen verstehen als einen Beitrag zur Mission der einen christlichen Kirche. Im Grunde muss man wollen, dass der jeweils Andere mit seinen Stärken und Profilen besonders zum Leuchten kommt! Wir Evangelischen wollen und wünschen uns eine starke römisch-katholische Kirche, gerade weil wir evangelisch sind und bleiben wollen.

3. Zugewandtes Wächteramt

Zuletzt sei eine ganz konkrete Dimension des zukünftigen Weges benannt. Es gibt ein Kinderbuch mit dem wunderbaren Titel: „Wir können noch so viel miteinander machen“! Und das trifft auch für die Ökumene zu. Es kann nur allergrößte Zustimmung finden, wenn Kardinal Kasper jüngst einen Wegweiser zur Zukunft der Ökumene unter dem Leitmotiv einer ökumenischen Spiritualität veröffentlicht hat. Dieser Wegweiser beschreibt, was heute gemeinsam getan, geglaubt, gefeiert und gebetet werden kann. Das Buch von Kasper bekräftigt, dass die geistliche Ökumene die „Seele der ganzen ökumenischen Bewegung“ ist; und es ermutigt dazu, dieser Seele Raum zu geben. Im Prinzip kann man als evangelischer Christ dieser Richtungsangabe nur zustimmen. Denn einerseits ist diese Betonung einer gemeinsamen Spiritualität immer schon die Basis aller konkreten Ökumene. Zum anderen kann diese gelebte Spiritualität an der Basis mit Herz und Sinn ausgefüllt werden und hineingetragen werden in die Nachbarschaften, in die gemeinsamen Herausforderungen und in die konkreten Partnerschaften.

Wie steht es in diesem Zusammenhang um die lutherische Gemeinde in Genf? Durch ihre besondere Situation als lutherische und deutschsprachige Gemeinde in einer mehrheitlich reformierten und französischsprachigen Stadt ist sie von Anfang an auf die ökumenischen Partner ausgerichtet gewesen, zunächst innerhalb des reformatorischen Spektrums, dann aber auch darüber hinaus. Durch die englisch- und die schwedischsprachigen Gottesdienste ist auch der sprachliche Rahmen immer weiter gespannt worden. Damit hat diese Gemeinde zeichenhaft das verdeutlicht, was Johannes Calvin in seiner Institutio Christianae Religionis (IV, 1, 9) so formuliert hat: „Die allgemeine Kirche (Ecclesia universalis) ist die Schar, die aus allen Völkern versammelt ist; sie ist durch räumliche Abstände getrennt und zerstreut, aber sie ist doch einhellig in der einen Wahrheit der göttlichen Lehre und sie ist durch das Band der gleichen Religionsausübung verbunden. Unter ihr sind dann die einzelnen Kirchen (singulae Ecclesiae) zusammengefasst, die über Städte und Dörfer nach den Erfordernissen menschlicher Notdurft verteilt sind, und zwar so, dass jede einzelne mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche innehat.“

Die lutherische deutschsprachige Gemeinde in Genf ist eine solche singula Ecclesia, die „mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche innehat“. Gleichzeitig ist sie mit den anderen singulae Ecclesiae verbunden, sei es mit den reformierten Gemeinden in ihrer Stadt, mit dem Bund Evangelisch-Lutherischer Kirchen in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein (BELK), dem sie angehört, oder mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), mit der sie ebenso intensiv verbunden ist. Dreihundert Jahre lutherische deutschsprachige Gemeinde in Genf, das heißt auch dreihundert Jahre ökumenische Gemeinsamkeit mit reformatorischem Profil.

Die Tage in Hermannstadt, die an diesem Wochenende zu Ende gehen, waren bestimmt von der umfassenden Verheißung der Gnade Gottes, die in Jesus Christus in unsere Welt gekommen ist: „Das Licht Christi scheint auf alle.“ Diese Perspektive bestimmt auch die Weise, in der wir als Kirchen ökumenisch angemessen miteinander umgehen. Der entscheidende Maßstab besteht darin, ob wir die Gaben, die uns jeweils anvertraut sind, in den Dienst der Gnade Gottes stellen. Der entscheidende Maßstab besteht darin, ob wir durch die Art und Weise, in der wir mit unseren Unterschieden umgehen, das Licht Christi verdunkeln, das eines ist und für alle gilt. Wenn wir daran Maß nehmen, rücken manche Fragen, die uns immer wieder so nachhaltig beschäftigen, ins zweite Glied. Und andere Fragen gewinnen an Bedeutung. Die institutionelle Abgrenzung der Kirchen voneinander verliert an Bedeutung. Und ihr Zeugnis in Wort und Tat zieht die Aufmerksamkeit auf sich.
Das ist die ökumenische Bewegung, die ich mir erhoffe.