"Die Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft der Gesellschaft" - Vortrag in der Reihe „Rotary im Gespräch“ im Kloster Bronnbach

Wolfgang Huber

I.

Der Flyer des hiesigen Klosters Bronnbach führt aus, dass an der Fassade des Josephsaals bestimmte Figuren in einer interessanten Weise angeordnet sind. Denn die drei christlichen Tugenden Hoffnung, Liebe und Glaube stehen unter der Justitia; diese aber wird noch überragt von der auf der Giebelspitze platzierten Prudentia. Mir scheint dies weniger ein Zeichen dafür zu sein, dass sie somit über die christlichen Tugenden gesetzt wird. Vielmehr gibt diese Anordnung einen Hinweis auf die Wurzeln der prudentia. Es ist ganz im Sinne der Klugheit, nach der Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft unserer Gesellschaft zu fragen.

Diese Frage ist ja auch von offenkundiger Aktualität. Wenn aus konkreten Anlässen in diesen Tagen darüber diskutiert wird, wie man der um sich greifenden Jugendkriminalität begegnen kann, dann streift doch die Debatte über eine Verschärfung des Jugendstrafrechts oder über die Einführung eines „Warnschussarrestes“ nur die Oberfläche. Tiefer kommt man erst, wenn man sich der Frage zuwendet, dass die Erziehung nicht stattgefunden hat, ohne die bei Jugendlichen kein Bewusstsein dafür entstehen kann, was sich gehört und was nicht. Man ist geradezu über den Mut eines Ministerpräsidenten – es ist Roland Koch – erstaunt, der in einem Interview dafür eintritt, es müsse wieder selbstverständlich werden, dass Jugendliche in öffentlichen Verkehrsmitteln aufstehen, wenn sie eine ältere Frau sehen, die keinen Platz findet. Es ist wahr, dass Jugendämter aufmerksam darauf achten müssen, wenn Kinder der Verwahrlosung ausgeliefert werden; und es mag sein, dass die Vernachlässigung der regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen darauf einen Hinweis geben kann. Aber noch stärker trifft es zu, dass Eltern für ihre Kinder eine Verantwortung haben, die sie an niemand anders delegieren können.

Gewiss stimmt es: Das Kindeswohl geht dem Sorgerecht der Eltern vor. Aber man muss es auch umgekehrt sagen: Die Pflicht der Eltern zur Fürsorge geht allem anderen vor. Kinder sind ein großes Geschenk; aber ihre Eltern stehen in einer bleibenden Verantwortung. Von seinen Kindern kann sich niemand scheiden lassen – und von seinen Eltern auch nicht. Eltern und Kinder bleiben aneinander gebunden.

Solche einfachen Zusammenhänge kommen wieder zur Sprache. Und in diesem Zusammenhang ist auch wieder von den zehn Geboten die Rede. Ja, sie sind plötzlich wieder in aller Munde. Nur eines unter vielen Beispielen: Die Auseinandersetzung darüber, ob Änderungen an der Agenda 2010 erlaubt seien, hat den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder zu der Bemerkung veranlasst, es handle sich bei der Agenda 2010 nicht um die zehn Gebote, also seien Änderungen erlaubt. Er fügte sogar hinzu, niemand, der an der Agenda 2010 mitgearbeitet habe, solle sich als Moses begreifen. Er sei es nämlich nicht.

Aber auch in einem ernsthafteren Sinn ziehen die zehn Gebote wieder Aufmerksamkeit auf sich. Nicht nur das deutsche Hygienemuseum in Dresden hat ihnen eine Vortragsreihe gewidmet. Theaterprogramme werden an ihnen orientiert, Ausstellungen ihnen gewidmet. Eine neue Serie der Fernseh-Talkrunde Tacheles widmet sich derzeit den zehn Geboten. Junge Leute werden in einem solchen Zusammenhang gefragt, welche Gebote ihnen die wichtigsten seien: „Du sollst nicht töten“ heißt die Antwort. Und: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Und welche Gebote hinzugefügt werden sollen, werden die jungen Leute auch gefragt. Sie antworten: „Du sollst die Kinder achten.“ Und: „Du sollst die Umwelt für Deine Nachkommen bewahren.“ Eindrucksvoll antwortet auch die Agnostikerin Thea Dorn: „Du sollst deine Lebenszeit nicht nutzlos verbringen.“ Und weniger ernsthaft, aber auch des Nachdenkens wert, der verstorbene Dichter Robert Gernhardt: „Du sollst nicht lärmen.“

Kaum einem fällt in solchen Zusammenhängen übrigens auf, dass die zehn Gebote mit keiner der so oft zitierten Aufforderungen beginnen. Sie beginnen überhaupt nicht mit einer Aufforderung. Ihr erster Satz heißt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ Dann kommt erst die erste Aufforderung, das erste Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ So wie die Einleitung unterschätzt wird: die Zusage der Freiheit, so wird auch das erste Gebot unterschätzt: die Wegweisung der Freiheit. Dabei ist auch sie von kaum zu überschätzender Aktualität. Zu offenkundig ist, dass wir in der Gefahr stehen, uns neuen Göttern zu unterwerfen, so oft wir auch die Behauptung wiederholen, wir lebten in einer säkularen Gesellschaft. Die Götter des Erfolgs, der Selbstverwirklichung, der Eigenverantwortung, die Neigung dazu, wirtschaftliche Maßstäbe über alles und jedes herrschen zu lassen, beispielsweise auch über den Sonntag, all das zeigt, mit welcher Art von Götzendienst wir uns heute auseinanderzusetzen haben. Dass Menschen auch in Zeiten der Globalisierung noch den Sinn für Proportion behalten, versteht sich keineswegs von selbst. Jesu berühmtes Zinsgroschenwort muss heute wohl so aufgenommen werden, dass man freimütig sagt: „Gebt der Wirtschaft, was der Wirtschaft ist, und Gott, was Gottes ist.“ Das ist übrigens ein Grundsatz, dessen Befolgung der Wirtschaft selbst keineswegs zum Schaden gereichen würde.

Es gehört auch zu den Auswirkungen der Globalisierung, dass wir solche Fragen in einer Situation erörtern, die durch religiöse Pluralität gekennzeichnet ist. Es ist ja wahr: Nach der Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft unserer Gesellschaft fragen wir auch deshalb mit neuem Nachdruck, weil andere, nämlich islamische Werte in unserer Gesellschaft verstärkt Geltung beanspruchen. Welche Haltung nehmen wir zu dieser Entwicklung ein? Wie zeigen wir den Respekt vor der Religionsfreiheit auch Andersgläubiger in überzeugender Weise und bezeugen doch zugleich den Respekt gegenüber der Prägekraft des christlichen Glaubens für Gegenwart und Zukunft? Wie praktizieren wir Toleranz ohne falsche Unterwürfigkeit? Diese Frage ist von offenkundiger Aktualität.

In den letzten Monaten des alten Jahres wurde diese Frage exemplarisch am Thema der Moscheebauten diskutiert. Meinerseits habe ich in diesem Zusammenhang gelegentlich darauf aufmerksam gemacht, dass gegenwärtig mehr Moscheen neu gebaut werden, als bisher in Deutschland existieren. Nach Angaben des Islamarchivs in Soest sind in Deutschland zurzeit 184 Moscheen im Bau oder in Planung. Bereits genutzt werden 159 Moscheen. Dabei handelt es sich um „klassische Moscheen“, die durch Kuppeln oder Minarette auch von außen erkennbar sind. Dazu kommen etwa 2600 Gebets- und Versammlungshäuser und außerdem Schulmoscheen und islamische Gebetsstätten.

Meine Überlegungen zu dieser Entwicklung gehen davon aus, dass Religionsfreiheit immer auch die Freiheit des Andersgläubigen ist. Wir können zwar darauf hinweisen, dass auch die Diskussion über Moscheebauten in Deutschland davon profitieren würde, wenn Christen in Saudi-Arabien neue Kirchen bauen könnten und wenn die Religionsfreiheit auch für christliche Gemeinden in der Türkei gewährleistet wäre, statt dass das Christentum in der Region um seine Existenz fürchten müsste, in die der Apostel Paulus einige seiner wichtigsten Briefe schrieb. Trotzdem gilt ebenso: Wir selbst können unser Verständnis von Freiheit nicht davon abhängig machen, ob sie in anderen Ländern gewährt wird oder nicht. Das schließt natürlich auch den Bau von Moscheen hierzulande ein. Ich halte es in diesem Zusammenhang für besser, Muslime bewegen sich in ihren Moscheen als in irgendwelchen Hinterhöfen.

Allerdings tragen auch die Angehörigen anderer Religionen eine Mitverantwortung für die Wahrung von Religionsfreiheit und Toleranz. Wer sich auf die Religionsfreiheit beruft, muss auch die anderen Aussagen unserer Verfassung akzeptieren. Die Gleichbehandlung von Mann und Frau gehört ebenso dazu wie die Freiheit, die Religion zu wechseln. Keine Religion kann Gewalt rechtfertigen.

Doch nachdem all dies klargestellt ist, muss auch die Frage erlaubt sein, was es mit der offenbar groß angelegten Moscheebau-Initiative in unserem Land auf sich hat. Deshalb wiederhole ich auch hier die Frage, inwieweit es sich dabei um die legitime Befriedigung religiöser Bedürfnisse handelt oder ob weitergehende Machtansprüche damit verbunden sind. Muslimische Verbände wären gut beraten, mit Fragen dieser Art offen umzugehen, statt sie pauschal zurückzuweisen.

Was wir in diesem Land brauchen, ist nach meiner Überzeugung ein wirklich standhafter und prinzipienfester Dialog mit dem Islam. Er geht davon aus, dass unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger keineswegs von vornherein aus unserer Werte- und Verfassungswelt herausdefiniert werden. Vielmehr müssen wir versuchen, sie in die Mitverantwortung für Religionsfreiheit und Toleranz hineinziehen. Aber dazu gehört auch die Bereitschaft, Machtansprüche in Frage stellen, ohne unsere freiheitlichen Prinzipien aufzugeben. Ich bin froh darüber, dass dieser Ansatz auch in der Öffentlichkeit verstanden wird. Dass er zugleich lebhafte Kontroversen auslöst, versteht sich von selbst. Und wenn die Frage gestellt wird, ob die Position der Evangelischen Kirche in Deutschland in solchen Fragen sich weiterentwickelt hat, frage ich zurück, wem wohl damit gedient wäre, wenn wir in derart wichtigen Fragen nicht dazu lernen würden. Die evangelische Kirche jedenfalls versteht sich, wenn ich das einmal ganz weltlich ausdrücken darf, als ein lernendes System. Und wenn ich es geistlich sagen darf: Sie vertraut auf den Heiligen Geist. Und der hat es ja bekanntlich damit zu tun, dass er nicht nur weht, wo und wann er will, sondern dass er bei diesem Wehen auch Neues bringt.

II.

Diese Beispiele mögen genügen, um deutlich zu machen: Die Diskussion über christliche Werte und ihre Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft rückt wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nun ist allerdings bei dieser Debatte auch Vorsicht geboten. Denn der christliche Glaube erschöpft sich nicht in Werten. Die christlichen Kirchen und die christliche Theologie bilden keine „Bundesagentur für Werte“; ihr Auftrag erschöpft sich nicht darin, Werte bereitzustellen und dadurch für das Schmieröl des gesellschaftlichen Motors zu sorgen. Was sie zu sagen haben, muss vielmehr in bestimmten Fällen eher wie der Sand im Getriebe wirken. Denn die Wahrheit, für die sie eintreten, richtet sich nicht nach gesellschaftlichen Bedürfnissen und fügt sich nicht ins politische Machtkalkül. Diese Wahrheit bezieht sich nämlich darauf, dass Gott sich in einem Menschen offenbart, der am Rand der Gesellschaft, auf den Feldern der Bedeutungslosigkeit zur Welt kommt, der den Mächtigen ein Ärgernis ist, sich dem gewohnten Tempelkult verweigert und sich den Niedrigen helfend zuwendet. Dass Gott in ihm sein menschliches Antlitz zeigt, ist so befremdlich, dass der natürliche religiöse Instinkt immer wieder dazu neigt, den Glauben an Gott haben zu wollen, ohne dafür auf den Gekreuzigten schauen zu müssen.

Doch auch aus dieser radikalen, an Jesus Christus als dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn orientierten Haltung heraus tragen die christlichen Kirchen und die christliche Theologie zugleich auf eine bestimmte Weise zu den die Gesellschaft prägenden Vorstellungen und den daraus abgeleiteten ethischen Maßstäben. Dabei wissen sie sich in eine Hoffnungsperspektive hineingestellt, die sich am kürzesten in den Worten erfassen lässt, mit denen die biblische Erzählung von der Sintflut schließt: „So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1. Mose 8, 22).

Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht bestimmen bei aller technischen Weiterentwicklung bis heute unseren Lebensrhythmus. Die Kenntnis dieses sich Jahr für Jahr neu entwickelnden Zyklus ist die Grundlage nicht nur für wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch für unsere Ernährung. Und gleichzeitig erleben wir immer stärker, dass dieser Rhythmus zwar im Großen beständig, im Detail aber sehr gefährdet ist. Er wird von Menschenhand beeinflusst und verändert. Genau in dieser Hinsicht verwandeln sich die Errungenschaften der modernen Wissenschaft in Gefährdungen, wenn beispielsweise durch die Emission von Treibhausgasen die Klimaerwärmung forciert oder durch die Begradigung von Wasserläufen die Hochwassergefahr erhöht wird. Wir spüren, dass der kurzfristige Vorteil nicht dafür bürgt, dass unser Handeln langfristig verantwortbar ist.

Das Wissen, dass die Verantwortung für unser Handeln dessen langfristige Folgen einschließt, ist in der Land- wie in der Forstwirtschaft seit Jahrhunderten fest verankert. Das heute so beliebte Wort „Nachhaltigkeit“ ist zuerst überhaupt für die Forstwirtschaft geprägt worden. Sie musste nämlich auf den guten Altersaufbau eines Waldes achten, wenn ein langfristiger Ertrag gesichert werden sollte. Hier wurde zunächst die Vorstellung von einem Generationenvertrag geprägt, dem zufolge wirtschaftlich effektives Handeln sich nicht nur am eigenen Vorteil, sondern auch am Nutzen für die nächste Generation ausrichtet. Heute sehen wir – zumindest ansatzweise – ein, dass zukunftsfähiges Handeln sich an solchen Grundsätzen der Nachhaltigkeit und des Generationenvertrags ausrichten muss. Dass diese Art von Verantwortung für unsere Zukunftsfähigkeit, für die Bildung tragender Werte, für die Nachhaltigkeit unseres Lebens und Wirtschaftens von entscheidender Bedeutung ist.

Doch selbstverständlich sind solche Einsichten nicht. Meistens beschränkt man die Anwendung dieser Konzeption auf den Bereich der Ökologie. Doch so wichtig dieser Bereich ist, so wichtig ist es, dass wir neben der ökologischen und der ökonomischen auch die soziale und kulturelle Nachhaltigkeit im Blick haben. Ob unsere Gesellschaft zukunftsfähig ist, entscheidet sich nicht nur daran, ob wir mit den natürlichen Ressourcen verantwortlich umgehen und unsere Wirtschaft leistungs- und wettbewerbsfähig erhalten. Es entscheidet sich ebenso daran, ob wir die Institutionen des sozialen Zusammenlebens pfleglich behandeln, ob wir unsere kulturelle Identität bewusst bewahren und weiterentwickeln, ja, ob es uns gelingt, ein Bild von der Zukunft unserer Gesellschaft zu entwerfen. Sonst könnte es sein, dass wir wichtige Elemente des sozialen Zusammenhalts und des kulturellen Erbes innerhalb kurzer Zeit verspielen, ohne dass irgendein tragfähiger Ersatz dafür in Aussicht steht.

Das Schlüsselthema, an dem sich für mich eine solche umfassendere Betrachtung von Nachhaltigkeit entscheidet, ist das Thema der Familie. Der demographische Wandel, den wir erleben, nötigt uns dazu, den ursprünglichen Sinn des vierten Gebots wieder zu erkennen: „Du sollst Vater und Mutter ehren“. Im ursprünglichen Sinn des Gebots sind damit die alt gewordenen Eltern von Erwachsenen gemeint, die auf Ehre und Fürsorge in besonderer Weise angewiesen sind. Doch wir sollten bedenken, dass Dankbarkeit und Fürsorge in gleicher Weise auch aufgebracht werden sollten, wo es um die Gabe des Lebens, das Geschenk des Geborenwerdens, das Aufwachsen von Kindern geht. Das wir an dieser Stelle zu einem Paradigmenwechsel kommen, ist in meinen Augen eine der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit.

Auch am Beispiel des Sonntags lässt sich erläutern, was ich meine. Auch nach der Föderalismusreform steht der Umgang mit ihm unter dem Verfassungsgebot, den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage „als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ zu achten. Durch die Steigerung der Zahl der verkaufsoffenen Sonntage, wird dieses Verfassungsgebot in manchen Bundesländern Schritt für Schritt ausgehöhlt. Die beiden Kirchen haben sich deshalb  dazu entschlossen, im Blick auf die gesetzliche Regelung dieser Frage das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

Denn der besondere Schutz des Sonntags wird durch derart weitgehende Formen der Sonntagsöffnung in sein Gegenteil verkehrt. Die Vorstellung erhält Vorschub, dass der Mensch vor allem als Konsument wahrzunehmen ist. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Pflicht zum Schutz des Sonntags, die sich aus den entsprechenden Verfassungsbestimmungen ergibt, bei solchen Vorhaben überhaupt nicht im Bewusstsein ist. Wer die Wertebasis des gesellschaftlichen Zusammenlebens stärken will, muss sorgsam mit den Institutionen der Sozialkultur umgehen.

Die christlichen Kirchen bringen in diese Diskussion das christliche Menschenbild ein. Wir sagen deutlich: Der Sonntag ist als Tag des Gottesdienstes, der Muße und der Besinnung zu erhalten. „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“ – dieser Satz, den wir als evangelische Kirche vor wenigen Jahren in einer öffentlichen Kampagne vertreten haben, gilt auch heute. Im vergangenen Jahr haben wir die Sonntags-Kampagne wieder neu aufgenommen: „Gott sei Dank, es ist Sonntag.“ Mit diesem Satz sprechen wir eine noch deutlichere Sprache – und weisen ausdrücklich darauf hin, wem der „Tag des Herrn“ gewidmet ist – oder doch gewidmet sein sollte. „Du sollst den Feiertag heiligen.“ So sagt es das dritte Gebot. Es geht in der Diskussion um den Sonntagsschutz um die Bewahrung einer wichtigen sozialen Institution, um die kulturelle Qualität des Zusammenlebens, um den Raum für die Freiheit der Religion. Dabei muss man betonen, dass eine Aushöhlung des Sonntagsschutzes, wie dies Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio deutlich gemacht hat, keineswegs der Religionsneutralität des Staates entspricht. Sondern ein solches Verhalten bevorzugt eine religionslose, ja atheistische Einstellung. Das ist gerade kein Ausdruck von Religionsneutralität, sondern von religiöser Parteinahme, wenn auch in antireligiöser Absicht.

Es ging und es geht uns als evangelischer Kirche um Nachhaltigkeit und um einen christlich geprägten Wert, den ich für die Zukunft unserer Gesellschaft für ein unerlässliches Gut halte. Wir wollen nicht zulassen, dass das Menschenbild in unserer Gesellschaft auf Konsumentengröße gestutzt wird. Der Sonntag ist ein Symbol für die Würde und die Freiheit, die dem Menschen von Gott aus zukommt und durch die das Bild des Menschen in unserer Gesellschaft grundsätzlich geprägt ist. Ich wünschte, unsere Gesellschaft insgesamt könnte den Sonntag mit den Worten begrüßen: „Gott sei Dank, es ist Sonntag!“

III.

Zu der Wertordnung, für die die christlichen Kirchen sich einsetzen, gehört ebenso wie die Nachhaltigkeit die soziale Gerechtigkeit. Sie steht unter dem Druck derjenigen Entwicklungen, die man zusammenfassend als Globalisierung bezeichnet. Die Globalisierung hat in Wahrheit freilich viele Facetten. Sie schlägt sich in einem erheblich gesteigerten Wettbewerb der Unternehmen nieder – und sie findet auch statt als ein Wettbewerb der Staaten und Regionen samt ihrer jeweiligen Bevölkerungen; ein Wettbewerb der Gemeinwesen. Unternehmen sind hier die Nachfrager, die über ihre Standortentscheidungen Beschäftigung, Einkommen und Steueraufkommen großen Einfluss auf die internationale Verteilung von Ressourcen ausüben. In diesem Wettbewerb haben es strukturschwächere Regionen besonders schwer; sie sind darauf angewiesen, in einen größeren Verbund einbezogen zu werden und in ihm ihren Ort zu finden. Deshalb ist es für uns in den ostdeutschen Bundesländern so wichtig, dass wir an der Entwicklung in Gesamtdeutschland wie in Gesamteuropa möglichst intensiv teilnehmen und beteiligt werden. Der Eindruck, dass der Aufschwung bei uns nicht ankommt, darf nicht das letzte Wort behalten. Und es gibt ja auch schon viele Anzeichen dass die stärkere wirtschaftliche Dynamik unsere Region erreicht und dass die Bereitschaft, selbst die Initiative zu ergreifen, sich auch lohnt.

Es gibt insgesamt nicht mehr den großen Gegensatz zwischen der „freien Marktwirtschaft“ und den Planwirtschaften, sondern eine Vielfalt von unterschiedlichen Kapitalismen und damit verbundenen wirtschafts- und sozialpolitischen Pfaden in die Zukunft. Welcher Weg – in Europa: der skandinavische, der angelsächsische, der südeuropäische oder der mitteleuropäische und deutsche Weg – erreicht einen hohen und gut verteilten Wohlstand für alle? Welcher Weg sichert den inneren Frieden und bietet Chancen auf Teilhabe für möglichst viele seiner Bürger? Darüber gehen die Diskussionen.

In dieser Situation stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit neu. Es ist vor allem die Erfahrung, in neuer Weise den Mechanismen der weltweiten Finanzmärkte ausgeliefert zu sein, die uns in den letzten Jahren in Deutschland – aber auch anderswo – zu schaffen gemacht hat. Früher konnte man den Eindruck haben, dass der in Deutschland erwirtschaftete Reichtum in irgendeiner Form auch wieder investiert wurde und so für den Erhalt von Arbeitsplätzen sorgte. Zwar war die Einkommens- und Vermögensverteilung nie wirklich gerecht, aber man konnte doch den Eindruck haben, dass alle Menschen genug zum Leben und zu Teilhabe abbekamen. Heute nun scheint es unter dem Einfluss der globalen Kräfte so zu sein, dass sich die Erzeugung von Reichtum von der Welt der realen Produktion abgekoppelt hat. Das wirklich große Geld wird auf den Finanzmärkten verdient – allerdings, wie derzeit deutlich besonders deutlich wird, dort auch bisweilen wieder verloren. Profiteure dieser Entwicklung sind die Anleger großer Vermögen. Dies alles treibt die Gewinnerwartungen hoch und lässt auch deutsche Unternehmen in einer früher nicht gekannten Weise Renditemaximierung betreiben. Die Gehälter – und die Abfindungen – von Spitzenmanagern wird an diese Entwicklung angekoppelt. Sie erreichen dann schwindelnde Höhen, die unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit schlechterdings nicht mehr gerechtfertigt werden können. Unter dem Einfluss dieser Entwicklungen geht die Schere zwischen Armen und Reichen immer weiter auf – in einem Tempo, das den sozialen Frieden bedroht.

Es ist nachvollziehbar, dass eine ethische Orientierung bei eigentümergeführten Unternehmen besonders deutlich wahrzunehmen ist. Es ist auch nachvollziehbar, dass in mittelständischen Unternehmen die Bindung der Unternehmensführung nicht nur an die eigenen Gewinninteressen, sondern ebenso an das Wohl der Belegschaft besonders zu spüren ist. Doch das ist keineswegs ein Grund dafür, international agierende Großunternehmen von entsprechenden Erwartungen freizustellen. Im Gegenteil ist unternehmerisches Handeln auch hier daran zu messen, welche Konsequenzen es für die Fragen von Arbeit und Arbeitslosigkeit hat.

Spekulative Finanzinteressen dürfen sich nicht hinter dem Rücken der Verantwortlichen so durchsetzen, dass sie produktive Möglichkeiten wirtschaftlichen Handelns zerstören, statt ihre Entfaltung zu fördern. Stärker als bisher sollte unser Land deswegen auf eine effiziente Regulierung der internationalen Finanzmärkte hinwirken. Hier muss ein hohes Maß an Transparenz zur Steuerung eines fairen Wettbewerbs mit der verstärkten Abschöpfung von spekulativen Gewinnen einhergehen. Es gilt dann auch, ethische Maßstäbe auch für das Verhalten an der Börse zu entwickeln und ihre Einhaltung zu kontrollieren. In der deutschen Tradition sind Unternehmen nie nur den Shareholdern, sondern auch den Mitarbeitenden verpflichtet und tragen Verantwortung für das Gemeinwohl. Statt den Standort Deutschland in dieser Hinsicht schlecht zu reden, sollten wir würdigen und festhalten, dass es hier in der Sozialpolitik – und nicht zu vergessen auch in Traditionen de Arbeitsrechts – immer schon eine Option für die Schwächeren und Armen gegeben hat.

Die Synode der EKD in Würzburg im November 2006 hat zu diesen Fragen festgehalten, dass Reichtum in einer Gesellschaft zur Sicherung des allgemeinen Wohlstandes herangezogen werden muss, um Unsicherheiten, Unfreiheiten und Beeinträchtigungen für alle zu reduzieren. Dies gilt auch weltweit: Wird Reichtum zu einem angemessenen Teil dazu eingesetzt, Maßstäbe weltweiter Gerechtigkeit zu erreichen? Oder aber kommt er überhaupt nur durch die ungerechte Ausnutzung der Armen zustande? Mit diesen Fragen knüpfen wir an die überkommenen Überzeugungen von einer dem Leben und den Menschen dienenden Wirtschaftsordnung an. Davon werden wir nicht abrücken: Die Wirtschaft ist nicht um ihrer selbst willen da – sie hat einen Platz in der Schöpfung Gottes – aber eben in ihr – nicht ihr gegenüber.

Soziale Gerechtigkeit bezieht sich nicht nur auf die jetzige Generation. Sondern sie bezieht sich genauso auf die Generation unserer Kinder. Wer Jugendliche nicht beteiligt, wer ihnen keine Möglichkeit zur Ausbildung und danach zu eigener Erwerbstätigkeit eröffnet, rührt an den Kern der sozialen Gerechtigkeit; wer die Jugendhilfe unbedacht kürzt, der geht an den Nerv des Sozialstaats. Er wird übrigens damit keine Kosten sparen; sondern die versäumte, vielleicht noch rechtzeitige Hilfe, die Beteiligung eröffnet, wird an anderer Stelle neue, vielleicht weit höhere Kosten hervorrufen.

Aber auch das sei in aller Deutlichkeit hinzugefügt: Wenn man soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip bewahren will, dann darf man nicht alles und jedes unter diesen Begriff subsumieren. Wenn man den Sozialstaat zukunftsfähig erhalten will, dann muss man sich davor hüten, ihn systematisch zu überfordern. Weder soziale Gerechtigkeit noch Sozialstaat sind deshalb Leitbegriffe für ein pures Besitzstandsdenken. Aber in ihnen drückt sich die Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen aus, das einmal auf die kurze Formel gebracht wurde: Die Stärke des Staates bemisst sich am Wohl der Schwachen. Wir dürfen unseren Blick nicht von denen abwenden, die am Straßenrand liegen. Die notwendige Leistungsorientierung darf die ebenso notwendige soziale Sensibilität nicht verkümmern lassen. Der Wärmestrom der Solidarität darf nicht versiegen.

Vorrangig sollten wir unsere Bemühungen auf die Aufgabe richten, die Vererbung von Armut in Deutschland zu bekämpfen, also Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen in besonderer Weise zu fördern. Denn gegenwärtig wird Bildungsferne in der Folge davon auch soziale Armut vererbt wird; es gibt inzwischen Familien – insbesondere Familien mit Migrationshintergrund –, in denen die „Sozialhilfekarriere“ von Generation zu Generation weitergegeben wird. Deshalb muss versucht werden, durch Bildungsanstrengungen die Vererbung von Armut zu verhindern. Das schließt die Berufsausbildung im dualen System ein. Insofern ergibt sich aus dem im christlichen Glauben verankerten Ansatz der „gerechten Teilhabe“ eine unmittelbare Folge für wirtschaftliches Handeln. Zu ihr gehört auch, dass wirtschaftliches Handeln, das auf die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen gerichtet ist, in besonderer Weise als ethisch vorzugswürdig zu gelten hat. Dabei ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in besonderer Weise hervorzuheben. Sowohl im Blick auf die Berufstätigkeit von Frauen als auch im Blick auf die wachsende Teilhabe von Männern an der Familienarbeit sollte diese Vereinbarkeit zu einem vorrangigen Kriterium für die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen gemacht werden. Daraus ergeben sich nicht nur Forderungen an die Politik im Blick auf familienunterstützende Maßnahmen; vielmehr verbinden sich damit auch Erwartungen an die Wirtschaft wie auch ebenso an alle öffentlichen und kirchlichen Arbeitgeber. Die Kindvergessenheit unserer Gesellschaft werden wir nur überwinden, wenn das Familienethos in unserer Gesellschaft wieder einen anderen Rang erhält; dafür hat die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Schlüsselbedeutung. Zu den Fragen der sozialen Verantwortung gehört gleichermaßen die Frage, wie mit älteren Arbeitnehmern umgegangen wird.

IV.

Der Sage nach prophezeite der Heilige Bernhard von Clairvaux, als er einmal in Wertheim weilte, dass im Taubertal eines Tages ein Kloster seines Ordens gegründet werden würde. Die fränkischen Edelfreien Billdung von Lindenfels, Sigebot von Zimmern, Erlebod von Krensheim und Beringer von Gamburg ergriffen die Initiative zur Stiftung des Zisterzienserklosters. Bei ihrer die Suche nach einem geeigneten Ort sahen sie plötzlich drei weiße Lerchen singend aus dem Wald emporsteigen. Diesen göttlichen Fingerzeig konnten die Edelleute nicht ignorieren und schenkten den Zisterziensern um 1151 das "castrum Brunnebach" auf der Höhe über der heutigen Anlage.

Das Menschenbild der zehn Gebote, die Aufgabe nachhaltigen Handelns und die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit: das sind die drei “Lerchen“, an denen ich verdeutlichen wollte, dass die Frage nach der Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft unserer Gesellschaft eine verheißungsvolle Frage ist. Orte, an denen die Grundhaltungen vermittelt werden, finden sich weit über ein Kloster hinaus, wenn an ihnen zusammenfinden: Nächstenliebe und Zuversicht, Gottvertrauen und Orientierung am gemeinsamen Besten.