Toleranz ist nicht Beliebigkeit - Zum Dialog der Religionen, Marktkirche in Essen

Wolfgang Huber

I.

In Breslau trägt ein Stadtviertel seit einiger Zeit den Namen „Stadtviertel der gegenseitigen Achtung“. Die jüdische Synagoge und Gotteshäuser für drei christliche Konfessionen liegen in der Nachbarschaft. Zunächst hatte man vom „Stadtviertel der Toleranz“ gesprochen. Doch dann wurde der Name geändert: Toleranz sei nicht genug, so hieß der Einwand. Man fühlt sich an Goethe erinnert: „Dulden heißt Beleidigen.“ Bloße Toleranz, gerade in dem Verständnis, das sich heute ausgebreitet hat, verweigert dem Wahrheitsanspruch des andern den Respekt. Und wie steht es mit dem eigenen Wahrheitsanspruch?

Seit dem September 2001 zeichnet sich im Umgang mit dem Toleranzproblem ein Paradigmenwechsel ab. Bis zum Jahr 2001 neigte man dazu, die gesellschaftliche Transformation in Europa als eine Entwicklung zu gesteigerter Pluralität anzusehen. Eine pluralistische Religionskultur galt als eines der Merkmale kultureller Pluralität. Die aufgeklärte Säkularität, die in Europa das Verhältnis von Religion und Rechtsordnung bestimmt, erschien dafür als ein günstiger institutioneller Rahmen. Ein multireligiöser Relativismus als eine in Europa verbreitete Geisteshaltung schien eine solche Einstellung zu fördern. Die Tendenz zur Selbstaufhebung, die jeder auf Indifferenz begründeten Toleranz zu eigen ist, trat kaum ins Bewusstsein.

Zu den ersten Reaktionen auf den 11. September gehörte der Appell, den Dialog mit dem Islam gerade nun verstärkt fortzusetzen. Die religiöse Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf das World Trade Center im Yankee Stadium in Harlem bezog die Vertreter des Islam bewusst ein. Aber zugleich ließen diese Anschläge wie auch Selbstmordattentate jugendlicher Palästinenser eine Form des Islam vor Augen treten, der mit allen Formen aufgeklärter Toleranz schlechterdings unverträglich ist. Die nur scheinbar beruhigende Auskunft, dass das Phänomen des Islamismus auf bestimmte Länder zwischen Saudi-Arabien und Pakistan beschränkt sei, trägt nicht mehr.

Ob Samuel Huntingtons These vom „clash of civilisations“ sich doch als zutreffend erweise, wird inzwischen gefragt. Man wird einräumen müssen, dass das in Religionen eingeschlossene Konfliktpotenzial doch wesentlich größer ist, als multireligiöse Euphorie noch vor einem Jahrzehnt wahrhaben wollte. Doch die programmatische Ausrufung eines Kulturkonflikts führt gleichwohl in die falsche Richtung. Den „Dialog der Religionen“, die wichtigste Alternative zum „Kampf der Kulturen“, gibt es seit langem. Er muss gefördert, verstärkt und nach Kräften gepflegt werden. Als positives Beispiel erwähne ich auch hier in Essen die „Kölner Friedensverpflichtung“ vom 29. Oktober 2006. In ihr erklären Vertreter von Christentum, Judentum und Islam, dass sie jeder Verhetzung von Menschen entgegentreten, sich aktiv für Frieden und Verständigung engagieren und zu gegenseitigem Verständnis sowie zum Abbau von Vorurteilen beitragen. Ausdrücklich verpflichten sie sich darauf, „dass Hass und Gewalt überwunden werden und Menschen in unserer Stadt Köln und überall auf der Welt in Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit leben können.“

Aus dieser Erklärung spricht  die Einsicht in die Notwendigkeit eines toleranten Verhältnisses zwischen den Religionen. Die Religionen können Beispiele gelebter Toleranz bieten. Sie können zeigen, wie Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensformen in wechselseitiger Achtung miteinander leben können. Eine Vorstellung von Toleranz ist dabei freilich vorausgesetzt, die mit gleichgültiger Beliebigkeit nicht zu verwechseln ist. Toleranz setzt vielmehr voraus, dass Menschen zu dem stehen, was ihnen wichtig ist, und deshalb achtungsvoll mit dem umgehen, was anderen wichtig ist. Man kann diese Vorstellung als „überzeugte Toleranz“ bezeichnen und sie von derjenigen „indifferenten Toleranz“ abheben, die heute oft leichtfertig bereits als zureichende Form von Toleranz ausgegeben wird. Solche „überzeugte Toleranz“ kann freilich nur gelingen, wenn die Achtung vor der Integrität des andern und die Bereitschaft, konkurrierende Wahrheitsansprüche achtungsvoll auszutragen, leitend sind. Religiöse Haltungen, in denen die Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen mit Gewalt für möglich gehalten wird, sind zur Toleranz nicht im Stande und verdienen auch ihrerseits keine Toleranz. Doch worin kann gegenüber einer Toleranz aus Indifferenz eine Toleranz aus Überzeugung ihren Grund haben?

II.

Wann immer von Toleranz die Rede ist, wird die Aufmerksamkeit auf den Beitrag gelenkt, den Lessing mit seinem „Nathan“ dazu geleistet hat. Doch die Frage muss erlaubt sein, ob Lessings Vorstellung für unsere Gegenwart ausreicht. Ist das Bild der drei Ringe, unter denen der wahre Ring sich nicht mehr finden lässt, wirklich ein Modell von Toleranz? Die drei Söhne, die von ihrem Vater drei gleich aussehende Ringe erhalten, ziehen vor den Richter, um feststellen zu lassen, wer den echten Ring und mit ihm auch die Herrschaft erhalten hat. Da jedoch nach der Auffassung des Richters die Wahrheitsfrage nicht entschieden werden kann, macht er stattdessen die Frage zum Prüfstein, wer von den dreien der beliebteste sei, welchen also zwei der drei Brüder besonders lieben. Dieser Test geht negativ aus, weil ja die erklärte Liebe zu einem Bruder das Eingeständnis impliziert hätte, dass er über den echten Ring verfügt. Das veranlasst den Richter zu der Einschätzung, dass es diesen gar nicht mehr gibt; er ging vielmehr, so vermutet er, verloren. An die drei Brüder appelliert er, trotzdem an die Echtheit ihres Rings zu glauben und dies durch ein Verhalten unter Beweis zu stellen, das durch vorurteilsfreie Liebe geprägt ist.

Mit diesem Ausgang der Ringparabel wird die Frage nach dem Verhältnis von Toleranz und Wahrheit geradezu suspendiert. Das Ertragen einer fremden Wahrheitsüberzeugung wird nicht mehr gefordert; denn nach der Wahrheit der Religion wird nicht mehr gefragt. Die Wahrheitsgewissheit wird aus einer Überzeugung zu einer Hypothese in praktischer Absicht. Religion wird auf Moralität reduziert.

Toleranz dagegen muss jedenfalls in christlicher Perspektive in einer Glaubensgewissheit gründen, um deretwillen der Mitmensch in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Martin Luther begründet diese Haltung in der Toleranz Gottes, in der Langmut, mit der Gott den sündigen Menschen erträgt, ihm vergibt und ihn aufrichtet. Reformatorisch geprägter Glaube stützt sich auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Denn diese göttliche Anerkennung beruht gerade nicht auf den von Menschen erbrachten Leistungen, sondern auf einer göttlichen Toleranz, die den gottlosen Menschen als von Gott geliebtes Geschöpf annimmt.

Wenn Toleranz demzufolge nicht in einer religiösen Indifferenz, sondern in einer bestimmten und bestimmbaren Glaubensgewissheit gründet, dann hat das freilich Folgen für die Art und Weise, in welcher diese Toleranz praktiziert wird. Wenn Toleranz auf eine bestimmte und bestimmbare Wahrheitsgewissheit angewiesen ist, dann kann sie sich gerade nicht in einer Suspendierung der Wahrheitsfrage Ausdruck verschaffen, sondern muss sich auch im Streit um die Wahrheit bewähren. Wenn gelebte Toleranz eine im Leben bewährte Folge des Gottesverhältnisses ist, dann kann Religion auch um der Toleranz willen nicht auf Moralität reduziert werden; vielmehr muss gerade im Verhältnis zwischen den Religionen die Gottesfrage in ihrer konstitutiven Bedeutung zur Sprache kommen. Deshalb ist die Frage nach Frieden und Toleranz zwischen den Religionen auch noch nicht mit der Ausrufung eines „Projekts Weltethos“ beantwortet; die Antwort kündigt sich vielmehr erst dann an, wenn die Religionen ihre Differenzen im Glaubensverständnis in einer Weise austragen können, die den Frieden nicht gefährdet, sondern stärkt.

III.

Dabei ist die Frage danach von großer Bedeutung, ob das Bekenntnis der drei monotheistischen Religionen zu dem einen Gott ein Bekenntnis zu demselben einen Gott darstellt. Wer, beispielsweise aus dem Gefühl eigener Glaubensüberlegenheit hinaus, erklärt, die Angehörigen anderer Religionen glaubten nicht an „denselben Gott“, räumt, oft unbewusst, ein, dass es unterschiedliche Götter „gibt“. Aus der Perspektive der biblischen Botschaft zeigt sich indessen klar, dass man sich mit einer solchen Auskunft auf keinen Fall zufrieden geben kann. Denn die biblische Botschaft bekennt sich zu dem einen Gott nicht nur in dem Sinn, dass man keine anderen Götter neben ihm haben soll, mit deren Existenz man sich gleichwohl abfindet. Sondern sie bekennt sich zu dem einen Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt.

Zwar ist es richtig, wie Jan Assmann hier in Essen in einem beeindruckenden Vortrag dargelegt hat, dass der biblische Monotheismus im Gang seiner Entwicklung nicht nur die Existenz anderer Religionen, sondern auch die Existenz anderer Götter anerkannt hat. Assmann hat auch plausibel gemacht, dass sich aus dieser Vorstellung die „Eifersucht“ des biblischen Gottes erklärt. Aber man muss zugeben, dass der Monotheismus dabei noch nicht zu Ende gedacht ist.

Auch im Neuen Testament gibt es noch Spuren solchen Denkens – für eine kleine Glaubensgemeinde in heidnischer Umwelt vielleicht nicht ganz überraschend. Eine Äußerung des Apostels Paulus ist dafür sehr erhellend. „Und obwohl es solche gibt, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“ (1. Korinther 8, 5 f.). An einer späteren Stelle allerdings stellt der Apostel den einen Gott und die bösen Geister einander gegenüber (1. Korinther 10, 20). Damit will er unterstreichen, dass die Götzen, denen Opfer gebracht werden, nicht wirklich Gott sind.

Die damit gegebene Ambivalenz hinterlässt ihre Spuren auch in der christlichen Theologie. Wenn Martin Luther sagt: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“, scheint er auch dem Gedanken Vorschub zu leisten, dass es neben dem einen Gott auch andere Götter gibt. Denn in der Tat: Woran ich mein Herz hänge, das gibt es – jedenfalls für mich. Aber es ist doch eindeutig, dass dabei nicht mehr von anderen Göttern auf derselben Ebene gesprochen werden kann, auf der Gott als der eine und einzige bekannt und verehrt wird. Insofern bleibe ich bei dem Satz, dass die biblische Botschaft sich zu dem einen Gott bekennt, neben dem es keine anderen Götter gibt.

Wie immer man zu dem Streit über die Entstehung dieses biblischen Monotheismus im Einzelnen Stellung nimmt, so ist er doch für den christlichen Glauben der Ausgangspunkt auch für den Dialog mit anderen Religionen. Und zwar so, dass dieser eine Gott sich in Jesus Christus, seinem Sohn, offenbart. Christen bekennen sich zu Jesus als dem Sohn Gottes, in dem Gott sich in seiner vergebenden Liebe und Barmherzigkeit offenbart. Der Islam hingegen sieht in Jesus von Nazareth einen Propheten, der in der inneren Logik des Islam dem Propheten Mohammed untergeordnet ist. Zur Aufrichtigkeit im Umgang miteinander gehört es, das festzustellen und von daher auch einzuräumen, dass auch im Dialog der Religionsgemeinschaften untereinander das eigene Bekenntnis nicht verleugnet werden darf.

Die Klarheit, die in dieser wie in anderen Fragen vonnöten ist, schließt nach unserer Überzeugung gute Nachbarschaft nicht aus; vielmehr ist eine solche gute Nachbarschaft ohne solche Klarheit gar nicht zu haben – sie steht dann nämlich auf tönernen Füßen. Klarheit ohne gute Nachbarschaft wäre lieblose Schroffheit und würde Mauern errichten. Und gute Nachbarschaft ohne Klarheit würde wichtigen Fragen ausweichen, Profile verwischen, Identitäten aufgeben. Ohne ihre Identität aber können Religionen so wenig existieren wie Individuen. Deshalb hat die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer Handreichung von 2006 „Klarheit und gute Nachbarschaft“ zum Leitgedanken für die Begegnung zwischen Christen und Muslimen gemacht.

IV.

Die Konsequenz des christlichen Glaubens aus den Überlegungen zu einer Identität Gottes in den drei monotheistischen Religionen heißt: Insofern in den anderen Religionen wirklich Gott vorkommt, muss es der eine Gott sein, den die biblische Botschaft bezeugt und zu dem wir uns als Christen bekennen.

Karl Barth, der große Theologe, hat daraus an einer späten Stelle seines Werks die Folgerung gezogen: Ich kann nicht ausschließen, dass Gott auch andere Religionen dazu benutzt, um das Licht seiner Versöhnung leuchten zu lassen. In dem Maß, in dem ich das bemerke, kann ich nur Gott die Ehre und insoweit den anderen Religionen Recht geben.

Entscheidend ist die Frage, ob dem einen Gott die Ehre gegeben wird, der nicht ein Mittel und Instrument unserer Wünsche und Vorstellungen ist, sondern diesen Wünschen und Vorstellungen in seiner eigenen Souveränität gegenübertritt. Und ob wir eben um dieser Ehre Gottes willen die gleiche Würde jedes Menschen achten, übrigens unabhängig davon, ob er den Glauben hat, von dem wir wünschen, dass er ihn hätte.

Aus christlicher Perspektive ist es für den Dialog der Religionen ein gutes Kriterium, nach Bewegungen Ausschau zu halten, die dem einen Gott die Ehre geben und eben darum allen Menschen die gleiche Würde zuerkennen. Das führt in manche Auseinandersetzungen hinein, sowohl innerhalb der eigenen Religion – das ist freimütig zuzugeben – als auch mit anderen Religionen. Es führt zugleich über die Vorstellung hinaus, es ließen sich die institutionalisierten Religionen einfach als höher oder niedriger einstufen. Doch man nimmt dem christlichen Bekenntnis nichts von seiner Verbindlichkeit, wenn man den Gedanken einer Absolutheit des Christentums hinter sich lässt. Denn es geht nicht um eine Absolutheit der eigenen Religion, sondern um die Absolutheit Gottes und damit um die Wahrheitsfrage.

Freilich macht auch eine solche Überlegung das Gebet in den verschiedenen Religionen nicht so gleichartig, dass gleich alle zusammen beten können. Christen beten vielmehr im Namen des Dreieinigen Gottes; sie binden sich im Gebet an den Namen, der durch die Taufe für sie verbindlich ist. Deshalb halten wir bei entsprechenden Gelegenheiten multireligiöse Feiern und Gebete für möglich, lehnen aber interreligiöse Feiern ab. Interreligiös würde bedeuten: Man betet in derselben Veranstaltung ein und dasselbe Gebet zu Gott. Das halten wir als evangelische Kirche nicht für möglich. Multireligiös heißt: Menschen unterschiedlicher Religionen beten nacheinander oder nebeneinander oder feiern nebeneinander Gottesdienste. Das kann einen guten Sinn haben, wenn es durch einen gegebenen Anlass, ein wichtiges Anliegen oder gemeinsame Trauer für dieses Beten nacheinander oder nebeneinander einen einleuchtenden Grund gibt.

Zugleich wird damit noch einmal unterstrichen: Eine oberflächliche Vorstellung von Toleranz führt nicht weiter. Wechselseitige Achtung aber ist umso nötiger. Wir leben in einer Situation religiöser Pluralität. Religiöse Pluralität aber ist der Ernstfall der Religionsfreiheit.

V.

Die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht; als solches beansprucht sie universale Geltung. In Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 wird dieses Menschenrecht so formuliert: „Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.“

Die Religionsfreiheit gründet im Gewissen des einzelnen. Sie darf ihm nicht geraubt werden. Sie schließt das Recht zur Freiheit von der Religion ein. Die Verhältnisse kehren sich jedoch um, wenn der Freiheit von der Religion der Vorrang vor der Freiheit zur Religion zuerkannt wird. Einem solchen Ungleichgewicht treten Christen beherzt entgegen.

Die Religionsfreiheit schließt das Recht zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung ein. Das hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihrem Artikel 18 genauso anerkannt wie die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950. Das veranlasste damals Saudi-Arabien, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Zustimmung zu verweigern. Was die Religionsfreiheit betrifft, hat sich die Situation seitdem generell nicht verbessert. In islamischen Staaten gilt die Abwendung vom Islam als „Abfall“, der in einer Reihe von Ländern mit der Todesstrafe bedroht ist. Die Verkündigung anderer Glaubensweisen neben dem Islam wird vielfach unterdrückt. So wird in der Türkei der Ausdruck „Missionar“ nur in ablehnendem Sinn verwendet und nur auf Christen angewandt, die von ihrem Glauben auch in der türkischen Gesellschaft Zeugnis ablegen wollen. Wozu Menschen dadurch verleitet werden, wurde im April 2007 durch den Mord an drei Mitarbeitern des Zirve-Verlags in der ostanatolischen Stadt Malatya deutlich, Dieser Vorgang wurde zu einem Symbol dafür, in wie starkem Maß die Religionsfreiheit in unserer Gegenwart bedroht ist.

Umso mehr Beachtung verdient die Tatsache, dass der Zentralrat der Muslime in Deutschland in seiner Islamischen Charta von 2002 ausdrücklich feststellt: „Die im Zentralrat vertretenen Muslime akzeptieren das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben.“ Es ist zu wünschen, dass aus dem „Akzeptieren“ allmählich ein „Bejahen“ wird.

Die umfassende Garantie der Religionsfreiheit setzt einen Staat voraus, der zwischen Recht und Religion unterscheidet. Denn das Recht soll für alle in gleicher Weise gelten, unbeschadet ihrer Religion. Das ist gerade eine Voraussetzung persönlicher Freiheit, auch in Fragen der Religion.

Das Problem der islamischen Scharia besteht gerade darin, dass sie diese Unterscheidung zwischen Recht und Religion nicht kennt. Die Scharia ist religiöses Recht, ihre Autorität ist religiöser Natur. Rechtsstaatliches Recht dagegen verlangt für sich nur eine weltliche Autorität. Seine Reichweite ist vergleichsweise begrenzt. Aber es ist ein und dasselbe Recht für alle. Es soll dem Zusammenleben der Verschiedenen dienen.

In allen westeuropäischen Gesellschaften breitet sich derzeit die Sorge vor der Ausbildung von Parallelgesellschaften heraus; überall muss man sich derzeit um Integration, die Stärkung des sozialen Zusammenhalts bemühen. Diese Sorge war es auch, die den Erzbischof von Canterbury, Rowan Wiilliams, gestern zu einem überraschenden Vorschlag veranlasst hat. Er hat vorgeschlagen, dass Muslime in Großbritannien für bestimmte Rechtsgebiete wählen können, ob sie sich dem britischen Recht oder der Scharia unterwerfen – so sollen sie beispielsweise die Möglichkeit erhalten, in Ehestreitigkeiten oder bei finanziellen Auseinandersetzungen einen Scharia-Gerichtshof anzurufen.

Ich bejahe die Zielsetzung, Integration und soziale Kohäsion zu stärken. Doch das vorgeschlagene Mitte bejahe ich nicht. Ich halte es für falsch, von einem doppelten Recht auszugehen und sich davon Integration zu erhoffen. Kulturelle und religiöse Besonderheiten können innerhalb des für alle geltenden Gesetzes zur Geltung kommen; sie können nicht zu ihm in Konkurrenz treten. Es kann sich nur um die Frage handeln, wie weit religiöse Prägungen innerhalb des einen Rechtssystems einen legitimen Ort haben oder an der Prägung dieses Rechts beteiligt sein können. Dass die Scharia das für alle geltende Gesetz für bestimmte Rechtsbereiche oder für bestimmte Gruppen außer Kraft setzt, halte ich dagegen für ausgeschlossen. Ich halte es auch nicht für richtig, dadurch indirekt ein Rechtssystem aufzuwerten, zu dem in machen Ländern die Vorschrift zählt, den Religionswechsel als „Abfall vom Islam“ anzusehen und mit dem Tod zu bestrafen. Gegen eine solche Weiterung hat sich übrigens Erzbischof Rowan Williams ausdrücklich verwahrt, indem er erklärte: „Niemand, der recht bei Sinnen ist, will in diesem Land die Unmenschlichkeiten sehen, die mit dieser Rechtspraxis in einigen islamischen Ländern verbunden sind.“

VI.

Ein weiterer Schritt ist nötig. Die Religionsfreiheit ist nicht nur ein Recht des Individuums, sondern sie entfaltet sich auch in der gemeinschaftlichen Ausübung von Religion. Die in Deutschland deshalb den Religionsgesellschaften zugesprochenen Rechte sind auf Verbände ausgerichtet, die durch Mitgliedschaft geprägt sind. Angesichts der Organisationsformen des Islam stößt diese Orientierung an der Mitgliedschaft – sei es in Vereinen oder in Körperschaften des öffentlichen Rechts – bisher auf Schwierigkeiten. Das ist übrigens nicht zwingend so, wie das Beispiel Österreichs zeigt, wo schon im 19. Jahrhundert eine islamische Religionsgemeinschaft gebildet wurde.

Unabhängig von der Organisationsform bejahen wir als evangelische Kirche die freie Religionsausübung von Muslimen in unserem Land. An der Frage des Moscheebaus war das gerade in letzter Zeit verschiedentlich zu verdeutlichen; dabei schließt das Ja zum Bau von Moscheen die kritische Auseinandersetzung über den Ort und die Größe, die Gestaltung oder die Anzahl nicht aus. Wir machen unser Ja zur freien Religionsausübung von Muslimen nicht von der Frage abhängig, ob islamisch dominierte Länder den dort lebenden Christen Religionsfreiheit gewähren. Doch zugleich treten wir nachdrücklich für die Religionsfreiheit als universales Menschenrecht ein. Wir finden uns nicht damit ab, dass es insbesondere Christen sind, die unter Einschränkungen und Verletzungen dieses Menschenrechts zu leiden haben.

VII.

Religionsfreiheit ist nicht nur bequem. Denn Religion ist nicht nur gut. Sie fördert nicht nur den Frieden, sondern auch den Konflikt. Sie überwindet nicht nur Gewalt, sondern steigert sie auch. Wir kennen die Rechtfertigung von Gewalt im Judentum, im Christentum und im Islam. Wir werden die unfriedlichen Folgen der Religion nur in dem Maß überwinden, in dem wir jeweils zu selbstkritischen Korrekturen bereit und im Stande sind. Dabei sollten die Religionen sich gegenseitig unterstützen. Das aber kann nur gelingen, wenn die strittigen Themen angesprochen werden. Das Thema „Religion und Gewalt“ gehört dazu. Es muss klar gesagt werden, dass zum Dialog der Religionen auch die Einsicht gehört, dass mit der Religionsfreiheit nicht jede denkbare Äußerung sakrosankt ist. Gerade weil der Staat sich in seiner Religionsneutralität von der inhaltlichen Beurteilung religiöser Überzeugungen fern hält, muss die Debatte in den Religionsgemeinschaften und zwischen ihnen bis zu inhaltlichen Fragen vordringen. Ein fairer Streit um die Wahrheit und das Ringen um gute Wege in die Zukunft gehören zu den substantiellen Gestalten der Religionsfreiheit selbst.

Dabei darf es einen Generalverdacht gegen eine Religion als solche und alle ihre Anhänger ebenso wenig geben wie eine generelle Einschränkung der Religionsfreiheit. Denn das wäre nicht der richtige Weg, um die Friedensverantwortung der Religionen und die Friedensfähigkeit einer freiheitlichen Gesellschaft zu sichern und zu stärken. Doch sind alle Tendenzen zu fundamentalistischen Gestalten von Religion beunruhigend. Sie gefährden den Friedensbeitrag der Religionen in hohem Maß; ja sie erschweren für viele Zeitgenossen den Zugang zur Wahrheit der Religion.

So deutlich man religiösem Fundamentalismus entgegentreten muss, so klar muss man auch erkennen, dass religiöser Analphabetismus keine zureichende Antwort auf Fundamentalismus ist. Zureichend ist vielmehr allein eine Antwort, die eine geklärte religiöse Identität mit der Bereitschaft zu Frieden und Toleranz im Verhältnis der Religionen zueinander verbindet.

Religionen, die einen solchen Zugang zu ihrer Friedensverantwortung entwickeln, können der Vergeltung widerstehen, die Versöhnungsbereitschaft fördern und die Fähigkeit, Konflikte gewaltfrei zu lösen, verbessern und stärken. Die Religionen sollten ein verstärktes Interesse daran entwickeln, gesellschaftliche Friedensprozesse zu fördern, und sich selbst als Akteure der Friedenserziehung zu verstehen. Insbesondere die zivile Konfliktbearbeitung stellt die ernsthafte und wichtigste Alternative zum Austragen von Konflikten mit militärischer Gewalt dar.

Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie von Markus A. Weingardt nimmt ausdrücklich „religionsbasierte Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung“ in den Blick.  Religionsbasierte Akteure, seien es Einzelpersonen, Bewegungen oder Organisationen – so stellt diese Studie fest – haben in den letzten Jahrzehnten bedeutsame Funktionen in der Deeskalation von Konflikten wahrgenommen. Zu den herausragenden Beispielen gehören die Vermittlung eines Friedensabkommens im mosambikanischen Bürgerkrieg durch die katholische Gemeinschaft San Egidio (1992), der kollektive Widerstand der ruandischen Muslime gegen den Völkermord von Hutus und Tutsis (1994) oder die Bedeutung der Kirchen, insbesondere der evangelischen Kirche für die „friedliche Revolution“ in der ehemaligen DDR (1989). Das letzte Beispiel ist für uns von besonderem Belang, weil es sich im eigenen Land vollzogen hat, mit Auswirkungen für ganz Europa. Es fällt nicht schwer, der Schlussfolgerung des Autors zuzustimmen, dass den Religionen in politischen Konflikten ein bemerkenswertes Friedenspotenzial eignet.

VIII.

Natürlich kann man bei einer Überlegung zur Friedensverantwortung der Religionen der Frage nicht ausweichen, wie sie zu Militäreinsätzen im Interesse der Friedenssicherung stehen. Hier kann ich erst recht nur für die eigene Religion stehen. Im Christentum haben sich die friedensethischen Positionen des prinzipiellen Pazifismus und der Lehre vom gerechten Krieg über lange Zeit in großer Spannung gegenübergestanden. Unter den veränderten Bedingungen seit der Wende in Europa hat sich die Perspektive verändert. Beide Positionen sind einander unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung für einen gerechten Frieden näher gerückt. Auf der Seite pazifistischer Positionen ist deutlicher bewusst geworden, dass eine gewissenspazifistische Position nicht ausreicht. Denn nicht wie ich selbst ohne Gewissensbelastung eine Konfliktsituation bestehe, sondern wie Gewaltanwendung wirksam verhindert oder beendet werden kann, ist die entscheidende ethische Frage. Für diese Frage gilt als Grundsatz der Vorrang gewaltfreier Lösungen vor dem Einsatz militärischer Gewalt. Doch im Interesse der Verhinderung oder Beendigung faktischer Gewaltanwendung kann die Drohung mit oder sogar der Einsatz militärischer Gewalt nicht vollständig ausgeschlossen werden.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat im vergangenen November eine neue Friedensdenkschrift veröffentlicht, die sich diesen Fragen stellt. Unter dem Titel „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ vertritt sie einfache und klare Grundsätze und Maximen. Die folgenden hebe ich ausdrücklich hervor: Wer aus dem Frieden Gottes lebt, tritt für den Frieden in der Welt ein. Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten. Friede ist nur dann nachhaltig, wenn er mit Recht und Gerechtigkeit verbunden ist. Gerechter Friede setzt in der globalisierten Welt den Ausbau der internationalen Rechtsordnung voraus. Staatliche Sicherheits- und Friedenspolitik muss von den Konzepten der „Menschlichen Sicherheit“ und der „Menschlichen Entwicklung“ her gedacht werden.

Diese einfachen Leitgedanken verbinden sich mit konkreten Handlungsoptionen. So ist etwa mit der geforderten Rechtsförmigkeit einer internationalen Friedensordnung der Anspruch verknüpft, dass diese Rechtsordnung dem Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung verpflichtet ist und die Anwendung von Zwangsmitteln an strenge ethische und völkerrechtliche Kriterien bindet. Auch die Herausforderung durch den modernen internationalen Terrorismus rechtfertigt deshalb keine Wiederbelebung der Lehre vom „gerechten Krieg“. Vielmehr bewährt sich gerade in einer solchen Situation die Ausrichtung aller friedenspolitischen Überlegungen an der Leitidee des „gerechten Friedens“.

Durchgängig wird in der Denkschrift die Notwendigkeit der Prävention hervorgehoben; gewaltfreien Methoden der Konfliktbearbeitung wird der Vorrang zuerkannt; den zivilen Friedens- und Entwicklungsdiensten wird für die Wiederherstellung, Bewahrung und Förderung eines nachhaltigen Friedens eine wichtige Rolle zugeschrieben. Mit dieser Grundorientierung bringt die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Stimme in die politische wie in die ökumenische Diskussion ein. Sie versteht diese Denkschrift deshalb auch als einen Beitrag zu der vom Ökumenischen Rat der Kirchen ausgerufenen Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001 bis 2010).

Auch bei nüchterner Betrachtung der Realität nach Chancen des Friedens Ausschau zu halten – das ist der Geist dieser neuen Friedensdenkschrift. Sie führt die Tradition friedensethischer Urteilsbildung in unserer Kirche unter neuen Bedingungen weiter. Diese Tradition hat in den Zeiten der deutschen Teilung in der Ostdenkschrift von 1965 und der Friedensdenkschrift von 1981 besonderen Ausdruck gefunden; in den Kirchen der DDR hat sie sich besonders in der Friedensdekade, in der großen Wirksamkeit des Zeichens „Schwerter zu Pflugscharen“ und in der beherzten Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung Ausdruck verschafft. Heute entwickeln wir eine Friedensethik, die unterschiedliche Strömungen unter dem Leitbegriff des gerechten Friedens zusammenführt. Die EKD will damit ihren Beitrag zur friedensethischen Urteilsbildung wie zu praktischen Friedensbemühungen unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts leisten.

Dafür, dass nichtchristliche Religionen in Europa für zivile Friedensdienste Verantwortung übernehmen, sind mir bisher nur Ansätze bekannt. Beispielhaft lässt sich für Deutschland ein Projekt des Jüdischen Wohlfahrtswerks innerhalb des Freiwilligen Sozialen Jahrs (FSJ) erwähnen, das dem Einsatz für Einwanderer aus Russland gewidmet ist. Jüdische oder muslimische, hinduistische oder buddhistische Friedensgruppen und -initiativen, vielleicht sogar zivile Friedensdienste, getragen von diesen Weltreligionen, wären eine hoffnungsvoll stimmende Vision. Es wäre nicht nur aus der Sicht der christlichen Kirchen wünschenswert, um die gemeinsame Sorge um den Frieden in der Welt sozusagen interreligiös zu verankern; sondern es wäre zugleich ein Beitrag zur Stärkung ziviler Ressourcen in der europäischen Gesamtgesellschaft.

All das setzt voraus, dass die Religionen jegliche Verbindung mit der Gewalt hinter sich lassen. Die drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – kennen die Verbindung mit der tötenden Gewalt des Opfers nicht mehr. Sie kennen auch nicht mehr – jedenfalls nicht offiziell – die Gewalt, durch die die Anhänger eines anderen Gottes ausgerottet werden sollen, also die Gewalt im Namen des eifersüchtigen Gottes. Aber sie sind über die Jahrhunderte ein Bündnis mit der politischen Gewalt eingegangen; sie haben den Einsatz politischer Gewalt ihrerseits religiös legitimiert und auch für religiöse Zwecke in Anspruch genommen. So wie das Bild des einen Gottes von der Vorstellung befreit worden ist, dass zu seiner Verehrung Leben gewaltsam vernichtet werden muss, so muss auch die Vorstellung überwunden werden, dass die Verehrung des einen Gottes die Anwendung politischer Gewalt zu rechtfertigen vermag. Denn wer immer bei der Anwendung solcher Gewalt ein „Gott mit uns“ ausruft, beansprucht diesen Gott für die eigene Sache; er macht den einen Gott zum Götzen der eigenen Seite, allzu oft der eigenen Nation. Das ist, zu Ende gedacht, eine Rückkehr zum Polytheismus. Ganz zu Recht haben kritische Beobachter schon während des Ersten Weltkriegs, in dem diese Vorstellung vom „Gott mit uns“ so traurige Triumphe feierte, von einem „Bankrott der Christenheit“ gesprochen. Auf schweren Wegen hat sich durch die finsteren Zeiten des 20. Jahrhunderts hindurch die Einsicht Bahn gebrochen, dass man Gott nicht auf eine solche Weise für die eigenen Interessen und Ziele instrumentalisieren darf. Wer sich zu dem einen Gott bekennt, muss anerkennen, dass er der Gott aller Menschen ist. Der Respekt vor der gleichen Würde und dem gleichen Recht aller Menschen folgt aus diesem Bekenntnis mit innerer Notwendigkeit – auch wenn es lange gedauert hat, bis christliche Kirchen wie andere Religionsgemeinschaften das anerkannt haben. Deshalb ist das Bekenntnis zur gleichen Würde und den gleichen Rechten aller Menschen übrigens nicht der Ausdruck einer „allgemeinen Menschenreligion ... jenseits der Religionen mit ihren Glaubenswahrheiten“, wie Jan Assmann im Anschluss an Lessings Ringparabel vorgeschlagen hat. Nein, die Anerkennung der gleichen Würde jedes Menschen ist eine Wahrheit in diesen Religionen selbst. Für Christen jedenfalls gibt es keine Entschuldigung dafür, sich dieser Einsicht zu entziehen. Auch bei den anderen Religionen für sie zu werben, ist unsere Pflicht – wenn wir denn dazu beitragen wollen, dass die Religion im 21. Jahrhundert nicht zum „Dynamit des Volkes“ (J. Assmann) wird, sondern sich als eine Kraft des Friedens und der Gerechtigkeit erweist.