Grußwort zur Eröffnung des Ökumenischen Empfangs der Kirchen zur Berlinale 2008 in Berlin

Wolfgang Huber

Sehr geehrter Herr Staatsminister Neumann,
sehr geehrter Bischof Dr. Fürst,
sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,

Die Stadt Freiburg im Breisgau weist in ganz Deutschland den höchsten Kinobesuch auf. Im Schnitt besucht jeder Freiburger im Jahr fast sechs Filme; im Bundesdurchschnitt dagegen sind es nur 1, 66 Filme. Da ich in Freiburg aufgewachsen bin, habe ich diese Nachricht mit Freude aufgenommen und gedacht: Die Freiburger tun stellvertretend für mich, was ich selbst derzeit nur schwer schaffe.

Aber in Berlin gibt es die für ganz Deutschland einmalige Ausnahmezeit des Films, das rauschhafte Fest des Films, die Berlinale. Sie zieht uns auch in den Kirchen in ihren Bann. Denn die Querverbindungen zwischen Glaube und Kino sind unübersehbar, auch in diesem Jahr.  Sehr herzlich begrüße ich Sie im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zum Ökumenischen Empfang der Kirchen zur Berlinale 2008. Wir setzen damit die Tradition der ökumenischen Empfänge fort, die in den letzten Jahren in der Matthäuskirche am Potsdamer Platz stattgefunden haben. Wir gehen heute aber einen Schritt voran, und zwar nicht nur in eine weitere, nämlich die 58. Berlinale. In diesem Jahr haben erstmals die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz gemeinsam zu unserem Empfang eingeladen, neben der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und dem Erzbistum Berlin, den bisherigen Trägern des ökumenischen Filmempfangs, in deren Namen ich Sie ebenfalls herzlich begrüßen darf. Ebenso wie mit der Veränderung von Ort und Zeitpunkt wollen wir damit ein kulturpolitisches Signal geben – für die Bedeutung, die wir, die Kirchen, dem Film und dem ihm gewidmeten Festival hier in Berlin beimessen.

Es trifft sich gut, dass in diesem Jahr die kulturpolitischen Rahmenbedingungen des deutschen Films intensiv diskutiert und neu verhandelt werden. Der Bundestag wird die Novellierung des Filmförderungsgesetzes debattieren und beschließen – Anlass, die Gesamtsituation des Films in Deutschland zu bewerten und zu versuchen, sie weiter zu verbessern. Bischof Dr. Gebhardt Fürst wird dazu die Position der Kirchen näher erläutern. Wir freuen uns, dass Sie, Herr Staatsminister, Ihrerseits zu uns gekommen sind, um uns Einblick in die Überlegungen Ihres Hauses zu diesem Thema zu geben. Ich möchte Ihnen dafür schon jetzt herzlich danken.

Zur Zukunft des Films werden Sie in den folgenden Reden einiges hören. Ich selbst möchte einen Blick zurück werfen. Vor zwanzig Jahren wurde im Wettbewerb der Berlinale ein Film gezeigt, der nicht nur sofort als ein einzigartiges Werk der Filmkunst erkannt wurde, sondern der auch, wie sein Regisseur, ein singuläres Schicksal erlebt hat. Er erhielt, neben dem Silbernen Bären für die Beste Regie, auch den Otto-Dibelius-Preis der Evangelischen INTERFILM-Jury und den Preis der Jury der internationalen katholischen Filmorganisation OCIC. Ich spreche von dem Film „Die Kommissarin“ von Alexander Askoldov. 1967 in der Sowjetunion entstanden, wurde er noch vor seiner Aufführung verboten, sein Schöpfer wurde mit dem Entzug der Arbeitserlaubnis bestraft. Erst 1988 konnte eine erhaltene Kopie fertiggestellt und auf der Berlinale uraufgeführt werden. [Es ist uns eine Ehre, Alexander Askoldov heute als Gast unseres Empfangs begrüßen zu dürfen, Ihnen ein besonders herzliches Willkommen!]

Manchmal verdichten sich in einem einzigen Film die Aspekte, die für das kirchliche Filmengagement entscheidend sind. „Die Kommissarin“ ist ein großes Beispiel für ein Filmschaffen, das im Zeichen der Erinnerung steht. In einer Kampfpause des russischen Bürgerkriegs 1918 bringt eine Kommissarin der Roten Armee ein Kind zur Welt. Sie, die Aufnahme bei einer jüdischen Familie gefunden hat, sieht in einer nächtlichen Vision Juden, markiert mit dem Judenstern, in langer, unabsehbarer Reihe in ein Lager wandern. Danach verzichtet sie auf das neu erfahrene Mutterglück, lässt das Kind in der Obhut der jüdischen Familie zurück und eilt den schon abgezogenen Truppen nach. Es ist dies ein Einspruch gegen die Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts: ein Paradoxon, in dem sich Antizipation und Gedenken überlagern. Filmischer Einspruch wird eingelegt gegen den Triumphalismus des Fortschrittsmythos, den die Systeme in Ost und West miteinander teilten und sich zugleich gegenseitig streitig machten. Diese dem chronologischen Ablauf der Zeit entrückte filmische Geste sollte nach dem Willen der damaligen sowjetischen Machthaber nicht gesehen und gehört werden. Erst zwanzig Jahre später hat nach seinem Entstehen hat die Berlinale dem Film Askoldovs Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Heute ist der Film in seinen vielfältigen Verbreitungsformen vor allem ein Element der medialen Kommunikation geworden. Seine Bedeutung wächst und wächst – und scheint doch zugleich, in seiner Qualität als künstlerische Ausdrucksform, gemindert zu werden. Das ist nicht zwangsläufig so.  Wir, die Kirchen, halten fest an der Suche nach filmischen Kunstwerken, die dem Leiden und der Hoffnung Gestalt geben, die uns an unsere Verantwortung erinnern, die uns die Augen öffnen für eine Perspektive jenseits des Hier und Heute. Wir sind überzeugt, dass nicht allein die tagesaktuelle wirtschaftliche, sondern ebenso die über den Tag hinausweisende künstlerische Qualität dem Kinofilm eine Zukunft zu sichern vermag. Zu dieser Qualität aber gehört auch die Frage nach der ethischen Substanz eines Films und dem Beitrag, den er zu unserem Bild vom Menschen leistet.

Unterhaltung ist ein guter Grund, ins Kino zu gehen. Aber längst hat das Kino auf diesem Feld mächtige Konkurrenten gefunden. Über die Unterhaltung hinaus braucht der Kinofilm einen Mehrwert, eine Botschaft, deretwegen wir uns auf den Weg machen – zunächst einmal auf den Weg ins Kino, dann aber auch auf einen Weg danach. Filme haben nur Bestand, wenn sie uns nicht von uns weg, sondern tiefer zu uns hin führen. In ihnen begegnen wir eigenen Phantasien, Ängsten und Träumen, wir begegnen eigenen Gefühlen, Zweifeln und Hoffnungen.

Ein Festival wie die Berlinale ist ein wunderbarer Ort, um die Filmkunst zu feiern: ein Festival mit dem Enthusiasmus seiner Organisatoren wie seines Publikums, mit der lebhaften Debatte seines Programms in der Öffentlichkeit, mit der gespannten Erwartung, die jeder neue Film nicht nur im Wettbewerb, sondern auch im Forum oder im Panorama – und übrigens auch in der Kinder- und Jugendsektion – weckt. Die Ökumenische Filmjury wird auch dieses Jahr das Festival intensiv beobachten und dabei ein umfangreiches Pensum bewältigen. Ich wünsche der Jury viel Glück und Ausdauer bei dem Bemühen, würdige Nachfolger für Alexander Askoldovs „Kommissarin“ zu finden.