Welche Rolle spielt die Familie beim Gelingen von Schule und Lernen? - Vortrag beim BELTZ-Forum in Bad Wörishofen

Wolfgang Huber

I.

Der Viertklässler Florian kommt von der Schule nach Hause. Sein Vater ist Frührentner; er wartet bereits mit dem Mittagessen auf seinen Sohn. Als Florian während des gemeinsamen Essens davon erzählt, dass er ein Referat vorzubereiten hat, erklärt sich der Vater spontan zur Mitarbeit bereit. Die Recherche hat es in sich. Doch dem Vater macht sein Engagement Spaß: Während er nach Informationen googelt, ordnet Florian seinen Hefter. Nachdem der Vater auch diesen kontrolliert und drei Arbeitsblätter in die richtige Reihenfolge gebracht hat, beginnt er seinem Sohn das Referat zu diktieren, das dieser am nächsten Tag in der Schule vortragen wird.

Auch Florians Klassenkamerad Hans kommt von der Schule nach Hause; auch er soll ein Referat zum nächsten Tag vorbereiten. Seine Mutter ist gerade dabei, für die vier Geschwister das Mittagessen zuzubereiten. Als es soweit ist, lässt der allgemeine Geräuschpegel ein differenziertes Gespräch nicht zu. Nach dem Essen setzen sich die Kinder an die Hausaufgaben. Mit dem Ältesten wird sie gleich zum Arzt fahren; der zweite ist im nächsten Dorf mit einem Freund verabredet. Die Mutter bittet Hans während sie unterwegs ist, auf die jüngere Schwester aufzupassen. Bald steckt Hans seine Schulsachen zurück in die Tasche. Der Zettel der Lehrerin, die Eltern mögen doch mal einen Blick in die Hefter des Kindes werfen, verknüllt ungesehen in der Tiefe des Schulranzens.

Zwei kurze Spots auf familiären Alltag in unserem Land, wie er in dieser oder anderen Formen vielfach begegnet. Welches der beiden Modelle dem Gelingen in Schule und Lernen eher dienlich ist, mögen Sie selber beurteilen. Das Kriterium der Bildungsnähe oder –ferne einer Familie ist noch gar nicht genannt, da lässt sich bereits an solchen Beispielen die Frage dieses Vortrages eindeutig beantworten: „Welche Rolle spielt die Familie beim Gelingen von Schule und Lernen?" – eine zentrale!

II.

Natürlich reicht es nicht, sich an beispielhaften Szenen zu orientieren. Vielmehr müssen wir die Landschaft des gesellschaftlichen Wandels etwas genauer vermessen. Denn dieser Wandel wirkt sich in hohem Maße auf die Rolle der Familie für Bildung und Erziehung aus. Dafür formuliere ich drei Orientierungsangebote.

1. In der Informationsgesellschaft sind Schule und Gesellschaft nicht voneinander zu trennen. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieb die Europäische Kommission bereits 1995 in ihrem Weißbuch „Lehren und Lernen auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft" die großen Umwälzungen, welche die Bedingungen der Wirtschaftstätigkeit und das Funktionieren unserer Gesellschaft tiefgreifend und nachhaltig beeinflussen. Diese Umwälzungen, die ihren Grund in der weltweiten Informationsvernetzung und der damit verbundenen Wissensexplosion haben, beeinflussen die Bildungssysteme ebenso wie die Orte des informellen Lernens, nämlich die Familie, die außerschulischen Bildungsangebote und das Lernfeld der jugendlichen Peergroups. Wenn wir Bildung nicht gleichsetzen mit Schulbildung, und wenn wir Erziehung nicht vorschnell professionalisieren und sie an bestimmte Berufsgruppen delegieren, dann müssen wir in der Informationsgesellschaft auch Schule und Familie zusammen sehen. Beide gehören zu den sozialen Institutionen, die den Egozentrismus einer zunehmenden Individualisierung und den Konsumismus einer globalisierten Marktgesellschaft – vielleicht, hoffentlich - in Grenzen halten und in einen gemeinsamen Verantwortungszusammenhang einbinden. Die Bildungs- und Erziehungserwartung an die Familie sinkt also nicht; sie steigt vielmehr an.

2. Bildung unterliegt dem Einfluss globaler Veränderungen. Antriebskraft für den gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel ist neben der Herausbildung der Informationsgesellschaft und der wissenschaftlich-technischen Zivilisation vor allem die Globalisierung der Wirtschaft; sie zieht nahezu alle Aufmerksamkeit auf sich. Aber aus dieser Veränderung werden häufig höchst verkürzte Folgerungen gezogen. Allzu leicht schließt man aus ihr, dass wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit das einzige Kriterium für Bildung unter den Bedingungen der Globalisierung sei. Man verkennt dabei, dass Orientierungsfähigkeit in einer globalisierten Welt eine eigene und nicht zu unterschätzende Bedeutung hat. Auch dies gilt für Familie und Bildungssystem in gleicher Weise. Der Zwang zur beruflichen Flexibilität geht häufig mit Ortswechseln einher, immer öfter auch ins Ausland, oder er führt zu einem Berufspendlertum zwischen Wohn- und Arbeitsort. Zugleich ist es die gemeinsame berufliche Erfahrung, die heute häufig Partnerschaften und Ehen stiftet, während konfessionelle Milieus, Herkunftsorte und Vereine in ihrer Prägekraft zurück gehen. Konfessionsverschiedene Familien sind selbstverständlich geworden, kulturübergreifende Familien bilden eine wachsende Herausforderung. Heimat – von vielen ersehnt und in Eigenheimen ersatzweise symbolisch dargestellt – muss immer neu geschaffen werden. Das zu Hause sein an einem Ort, in einer Religion und Kultur ist aber zugleich die Grundlage für die Orientierung in der Welt.

3. Der demographische Wandel verändert auch die Bildung. Als dritte Triebkraft sind die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen des demographischen Wandels zu nennen. Hierbei liegt die Brisanz des Alterswandels der Gesellschaft für unser Thema nicht allein in der Frage nach der künftigen Funktionsfähigkeit der Rentensysteme. Hier werden absurde Debatten geführt: Wer meint, dass Kinder geboren werden, um die Rentensysteme funktionsfähig zu halten, treibt auch noch dem Letzten die Lust auf Kinder aus. Es ist auch unzutreffend, diesen Alterswandel unter die Überschrift der „Überalterung" zu stellen. Denn niemand ist dafür zu kritisieren, dass die Menschen heute im Durchschnitt älter werden. Der wertende Ausdruck „Überalterung" führt also in die Irre. Die Tatsache, dass die Spielräume im Alter weiter wachsen, in denen Menschen sich mit ihrer Erfahrung und in Freiheit für andere einsetzen können, kommt gesellschaftlichen Initiativen, insbesondere aber auch Familien zugute. Was Großeltern an ideellem und finanziellem Einsatz, was sie insbesondere für Erziehungs- und Bildungsprozesse leisten, wird gemeinhin unterschätzt. Nein – nicht die Überalterung der Gesellschaft ist zu beklagen, sondern vielmehr die Unterjüngung der Gesellschaft. Es ist vor allem der Kindermangel, aus dem sich weitreichende Folgen für die Gesellschaft insgesamt und damit auch für Bildung und Erziehung, für Lernen und Schule ergeben. Das Gespräch zwischen den Generationen, das notwendig ist, um Werthaltungen und Traditionen angesichts neuer Herausforderungen zu überprüfen, wird nicht einfacher, wenn weniger Kinder einer höheren „Dichte" in einer oder zwei älteren Generationen gegenüberstehen.

Informationsgesellschaft, Globalisierung, demographischer Wandel – wie wirken sich diese drei Orientierungspunkte auf Bildung und Erziehung aus? Wenn häufig davon die Rede ist, dass die Schule, um Lernort sein zu können, zunehmend zum Lebensort werden muss, dann enthält diese Forderung zugleich eine deutliche Defizitanzeige. Gibt es denn keine Lebensorte mehr, die die Schule vor dieser Überforderung bewahren können? Pathetisch erklärte man früher, man lerne nicht für die Schule, sondern für das Leben – non scholae, sed vitae discimus. Heute aber soll die Schule nicht mehr der Ort sein, an dem man für das Leben lernt. Sondern die Schule soll selbst das Leben sein – nicht nur Lernort, sondern Lebensort, nicht nur an einem halben, sondern am ganzen Tag. Die Schule soll also offenbar leisten, was andere Lebensorte nicht mehr in ausreichender Weise zu leisten vermögen. Zu der erwarteten Steigerung messbarer Leistungen tritt die Erwartung hinzu, einen Lebensort zu schaffen. Dies stellt für viele Lehrende eine Überforderung dar, weil sie nicht allein in der Lage sind, gesellschaftliche Defizite zu kompensieren. Unsere Schulen sind auf solche Aufgaben weithin unvorbereitet – bis hin zu dem höchst banalen Sachverhalt, dass Lehrer Schulen nicht zu einem Lebensort machen können, wenn sie in diesen Schulen nicht einmal einen individuellen Arbeitsplatz haben.

Doch Bildung und Erziehung haben in der Schule nicht ihren einzigen Ort. Bildung ist mehr als Schulbildung und Erziehung ist nicht nur das Geschäft der professionellen Erzieherinnen und Erzieher. „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf", so lautet ein beinah schon abgedroschenes Sprichwort. Um den formellen Lernort Schule lagern sich die informellen Lernorte, allen voran die Familie und die Peergroups der Kinder und Jugendlichen. Und die als handelnde Personen identifizierbaren Eltern und Großeltern, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Sporttrainer und Musikerzieherinnen – sie alle werden unterstützt oder behindert, begleitet oder übertönt durch die erzieherische und bildende Wirkung der Medien.

Obwohl den Schulen und anderen institutionalisierten Bildungseinrichtungen ein hohes Maß an Verantwortung und ausdrücklich die Hauptaufgabe der allgemeinen und beruflichen Bildung zukommen, können sie nicht die gesamte Erziehungs- und Bildungsaufgabe übernehmen. Alle Talente der Kinder und Jugendlichen zur Entfaltung zu bringen, ist ihnen gar nicht möglich. So hängen die Leistungsmotivation vieler Schülerinnen und Schüler und die soziale Einstellung zu anderen Menschen stark von den Vorgaben der Familie ab. Unbequeme Erziehungsaufgaben können nicht einfach an andere gesellschaftliche Instanzen delegiert werden. Daraus ergibt sich nun eine klare Folgerung, der wir uns jetzt zuwenden. Sie heißt:

III.

Die Familie wieder ernst nehmen. Wer Bildung und Erziehung als wichtig ansieht, muss die Familie hoch halten.

Im Gegensatz zu den Katastrophenmeldungen über den „Zerfall" und die Erziehungsunfähigkeit der Familie vermittelt die Forschung – wie könnte es anders sein - ein differenziertes Bild. Gewiss hat die moderne Gesellschaft für Kinder und Jugendliche ein Leben in Spannungen und widersprüchlichen Verhältnissen mit sich gebracht. Erwachsene nehmen sich oft zu wenig Zeit für ihre Kinder. Die für die Entfaltung einer Persönlichkeit dringend notwendigen Gespräche zwischen Eltern und Kindern, die zugleich auch wie nichts anderes die Sprachentwicklung fördern, werden seltener. Ohne die Unterstützung der Familien ist aber eine erfolgreiche Schulbildung sehr erschwert. Nicht nur die Werteerziehung und die Einführung in religiöse Wirklichkeitsdeutungen, sondern auch die für jedes sich in der Welt Zurechtfinden notwendige Grundbildung beginnen in der Familie. Denn Werte werden erst durch gemeinsame Erfahrungen der Problembewältigung und deren Deutungen plausibel. Dazu gehört die Erfahrung, sich bei der Lösung von Problemen wirksam beteiligen zu können, Streitigkeiten austragen und schlichten zu können, miteinander zu teilen und einander beizustehen. Menschen wurzeln in ihrer Geschichte und leiden oft genug unter den Belastungen der vorigen Generation. In den Deutungen solcher oft schicksalhafter Erfahrungen spielt Religion eine wesentliche Rolle. Deswegen sind auch Eltern und Grosseltern bis heute für die Vermittlung des christlichen Glaubens noch wichtiger als Pfarrer, Pfarrerinnen und Lehrer – das gilt, obwohl sich inzwischen in den neuen Bundesländern auch die wunderbare Erfahrung machen lässt, dass es gerade Kinder sind, die nach Erfahrungen mit dem Glauben in Kindergarten und Schule ihre Eltern mit in den Gottesdienst bringen und zur Taufe überreden.

Viel zu lange wurde übersehen, dass Familien für die Gesellschaft Leistungen erbringen. Diese sind freilich nicht naturwüchsig; es sind die Frauen, die die Hauptlast tragen. „Deutsche junge Frauen", so ist im siebenten Familienbericht der Bundesregierung zu lesen, „verbringen ihre Lebenszeit in einer Art ‚Achterbahn-Effekt’. Da fliegt der Kinderwunsch leicht aus der Kurve: Ausbildung, Mutterschaft in Abhängigkeit vom Hauptverdiener, Beruf, Pflege der Eltern." Rushhour nennt man diese Phase im Leben von Frauen. Andere Länder zeigen, dass man mit dieser Phase auch anders umgehen kann. Sie nehmen beispielsweise wahr, dass gestaffelte Ausbildungsabschlüsse die Verbindung von Familie, Ausbildung und Beruf erleichtern können.

Vor allem junge Frauen werden heute verstärkt mit einer dreifachen Erwartung im Blick auf Bildung, Beruf und Familie konfrontiert. Weil darin eine Überforderung liegen kann, werden junge Frauen auf vielfältige Weise vor der Mutterschaft gewarnt. Wer wollte, konnte in einem eindrücklichen Artikel die Empfehlung „Finger weg vom Kinderkriegen" in sich aufnehmen. „Kinder", so schrieb vor einiger Zeit Iris Radisch, „machen einsam, blöd und spießig. Man wird zum Gespött der ‚hippen Freunde’, die besser wissen, was heute angesagt ist. Jedenfalls nicht Hausaufgaben kontrollieren, Bilderbücher blättern und Puzzleteile sortieren. Elterngeld", so kann man lesen, „wird als Anreiz nicht genügen, den Wunsch nach Kindern zu beflügeln. Nicht einzelne Leistungen", heißt es, „sondern das Zusammenspiel unterschiedlicher Maßnahmen, politischer, wirtschaftlicher, sozialer Maßnahmen. Geld ist das eine. Familien brauchen Sicherungen gegen einen Absturz, wenn von zweien ein Ernährer ausfällt, wenn sich das Geld halbiert und mit jedem Kind die Kosten steigen. Geldregen reimt sich auf Kindersegen. Das schuldet die Gesellschaft den Familien."

Der erste Raum der Welteinwohnung für Kinder ist die Familie. So plural Lebensformen gegenwärtig auch sein mögen: Familie haben alle, schon, weil sie aus einer kommen. Keine Gesellschaft kann ohne Familien leben. Kein Gemeinwesen kann die Solidarität ersetzen, die in Familien entsteht.

Der Zeitgeist der siebziger und achtziger Jahre wollte uns glauben machen, Familie sei ein Instrument der Repression auf dem Wege zu individuell verwirklichter Freiheit. Das war schon damals falsch und wurde durch die Erfahrungen mit instabilen, frei schwebenden und leicht lösbaren Verbindungen widerlegt. Familienstrukturen bieten im guten Fall Gelegenheit, die Muster und Rollen des Zusammenlebens einzuüben, mit denen man es auch in den umfassenderen Institutionen der Gesellschaft immer wieder zu tun haben wird. Die Familie ist Lebens- und Erfahrungsraum der künftigen Bürger. Sie vermittelt lebenspraktische Orientierung, sie sorgt für innere Stabilisierung, für Prägungen, denen der veränderliche Augenblick nichts anhaben kann. Sie stabilisiert die Beziehungen ihrer Mitglieder nach außen, macht die Umwelt berechenbar, zeigt das Ordnungsgefüge auf, das eine Gesellschaft zusammenhält.

Wir alle wissen, dass Familien nicht nur Schonräume und Inseln der Seligen sind. Sie sind auch Trainingsräume zur Vorbereitung auf Angst und Kälte im Zusammenleben. Sie sind Erfahrungsräume des Glücks und Erschreckensräume des Scheiterns. Beide Erfahrungen sind in der Familie zu Hause: Liebe und Geborgenheit ebenso wie Gewalt und Leid. Familie als Wattepackung ist eine Illusion. Wer das voraussetzt, verweigert auch die erzieherische Funktion der Familie. Denn zu ihr gehört auch die unvermeidliche Konfrontation. Weil viele Eltern das Ziehen von Grenzen nicht als Aufgabe in der Familie wahrnehmen, geben sie aus Hilflosigkeit oder Angst ihre Erziehungsaufgabe preis und überlassen ihre Kinder sich selbst. Soziale Dienste können nicht ersetzen, was Familien für den sozialen Zusammenhalt leisten. Familie ist weit mehr als eine Reproduktions- und Versorgungsgemeinschaft, sie ist der zentrale Ort, an dem Lebenswissen und Lebensformen tradiert werden, an dem Rituale Halt und Geborgenheit stiften und charakteristische Prägungen und Gewohnheiten entstehen: Sprache und Speisen, Gesundheitsverhalten und Geschlechterrollen, Religion und Weltanschauung. Wer Kindern im privaten Lebensraum beim Aufwachsen beisteht, das ist unbedingt festzuhalten, leistet einen Dienst an der Gesellschaft.

Immer deutlicher wird, welch unverzichtbare Rolle die Erziehung eines Kindes durch die Väter spielt. Die moderne Väterforschung hat dies auf verschiedenen Ebene analysiert und dabei festgestellt, dass Väter wie Mütter über die Fähigkeit zur intuitiven Elternschaft verfügen und dass Kinder zu beiden Elternteilen entsprechende Beziehungen aufbauen können. Typischerweise nehmen Väter insbesondere vom zweiten Lebensjahr an einen positiven Einfluss auf die Kompetenz und Autonomieentwicklung des Kindes, wenn sie Entdeckerfreude fördern und helfen, Ängste abzubauen, und damit die Konflikte zwischen Neugier und Unsicherheit im Erkunden der Welt auflösen. Für die Selbstbehauptung, das Selbstbewusstsein und die Selbstkontrolle von Jungen sei ein väterlicher Erzieher ebenso wichtig wie für den beruflichen Erfolg und die Partnerbeziehungen der Töchter. Umgekehrt sind es überproportional häufig die Mütter, die für psychische Belastbarkeit und soziale Netze wesentlich sind. Was zu der hier vorausgesetzten Typisierung der Geschlechterrollen auch kritisch zu sagen ist, mag für den Augenblick auf sich beruhen. Worauf es ankommt, ist das Folgende: Kinder brauchen vielfältige und unterschiedliche Ressourcen ihrer Eltern, sie brauchen väterliche und mütterliche Unterstützung. Das bedeutet allerdings nicht, dass nur Kinder aus der heilen Kleinfamilie erfolgreich sein können. Vielmehr ist zum Beispiel bei Alleinerziehenden vielfältige Kompensation durch unterstützende familiäre und andere Netze möglich: Tanten und Onkel, Grosseltern und Freunde, aber auch Lehrer können zu Rollenmodellen und Förderern werden. Auch in Patchwork-Familien kann die beschriebene Funktion der Familie wahrgenommen werden. Immer kommt es darauf an, dass die Familie als ein Raum von Verlässlichkeit und Verantwortung, ja von Treue und Liebe erlebt wird.

Das Wickeln und Fläschchen geben, das Frühstückmachen und die gemeinsamen Mahlzeiten, das Vorlesen am Abend und das Nachtgebet - die wiederkehrenden Gewohnheiten und Rituale sind im übrigen die entscheidenden Orte der Begegnung zwischen Eltern und Kindern, die Halt geben und Vertrauen schaffen und an denen entlang sich, wie an einem Klettergerüst die Pflanzen der Individualität und des Lebensmuts entwickeln. „Wir hatten immer die Verabredung, dass wir uns morgens eine halbe Stunde zum Frühstück treffen", erzählt das Politikerpaar Bärbel und Jochen Dieckmann in dem Buch „Power Paare". Und das Unternehmerehepaar Gabriele und Gerd Strehle hat sogar vier Familienregeln, die den Zusammenhalt schützen und der Erziehung einen Rahmen gaben: Vater oder Mutter bringen die Kinder zur Schule. Ein Elternteil isst mit ihnen zu Mittag, der andere hält sich den Abend frei, Zu Hause wird nicht über das Geschäft gesprochen und das Wochenende ist für die Familie frei. Die letzte Regel übrigens ist ein Erfolgsmodell für viele. Der Sonntag und die Familie gehören noch immer zusammen – Zeit füreinander, Zeit um Verstehen und Vertrauen zu stärken.

Im Grunde muss man den Mut und das Vertrauen bewundern, mit denen Eltern heute ihre Kinder wie Rettungsringe in die Gesellschaft werfen, um absehbare Katastrophen abzuwenden. Man muss den Hut ziehen vor der Geduld, mit der Eltern Tag für Tag versuchen, ihren Kindern Halt und Geborgenheit in den Anforderungen einer mobilen und globalisierten Gesellschaft zu geben. Denn ihre Kinder müssen Spitzenkräfte werden und Spitzenkräfte haben. Sie sind die Hoffnungsträger, die das gesellschaftliche Leben weitertragen sollen, wenn ab 2012 die Lücke unumkehrbar wächst, weil eine Generation in Rente geht, die an eigenem Nachwuchs offenkundig wenig Freude hatte. Diese Kinder werden, das ist nachzurechnen, sich nicht nur bei den eigenen Eltern revanchieren und sie im Alter stützen, sondern viele andere Alte auch über die eigenen Eltern hinaus mittragen müssen. Und sie brauchen auch noch Bärenkräfte für die erhofften eigenen Kinder.

Was viele nur ahnen, lässt sich inzwischen wissenschaftlich erhärten. Die Familien sind die mächtigsten Sozialisationsagenturen. Aber sie brauchen zunehmend mehr Unterstützungssysteme. Es fehlt der Aufbau einer verlässlichen Infrastruktur mit leicht erreichbaren Hilfsangeboten für diejenigen Familien, die ihren Kindern und ihrer Entwicklung aus eigener Kraft nicht gerecht werden können. Und das sind heute keinesfalls nur die ökonomisch oder gesellschaftlich Benachteiligten. Auch die eben zitierten Powerpaare, bei denen beide Elternteile beruflich erfolgreich sind, sind auf verlässliche Schulen, Tagesmütter oder Aux-pair-Mädchen, aber auch auf qualitativ gute Freizeitangebote wie Musikschulen angewiesen. In kleiner gewordenen Familien fehlt Kindern die Erfahrung des Miteinanders mit Geschwistern und anderen Gleichaltrigen. Aus unserer eigenen Generation, in der die Einzelkinder eher in der Minderheit waren, wissen wir aber: in einer Familie mit vielen Kindern sammeln sich oft auch andere Kinder – zum Besuch, zum Hausaufgabenmachen, zum Übernachten. An großen Tischen haben oft auch andere noch Platz. Kinder wollen mit anderen Kindern spielen und lernen, sie sind füreinander wichtige Sozialisationsagenten – je älter sie werden, um so mehr. Frühe Förderung ist deshalb nicht nur ein Programm für Eltern, die berufstätig sind oder mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind, sondern für alle Kinder und ihre Eltern. Allen tut es gut, voneinander zu lernen und miteinander die Welt zu entdecken.

Unbeschadet aller Bemühungen, die Familien und ihre Erziehungskompetenz zu stärken, ist deswegen auch die unverzichtbare Rolle der Kindertagesstätten für Erziehung und Bildung hervorzuheben. Tageseinrichtungen für Kinder können heute Knoten im Netz von Familienförderung, Familienbildung und Beratung sein. Die neue gesellschaftliche Debatte um die Elementarbildung, in die sich auch die EKD eingebracht hat, muss auch dazu führen, dass der Beruf der Erzieherin und des Erziehers in Deutschland endlich nach europäischen Maßstäben aufgewertet wird.

Der 12. Kinder- und Jugendbericht des BMFSJS von 2005 rückt deshalb den Zusammenhang von Bildung, Betreuung und Erziehung in den Mittelpunkt und plädiert für ein Bildungsverständnis, das sich nicht primär an den gesellschaftlichen Institutionen, sondern am Lebenslauf orientiert. Als Grundgedanke wird formuliert: „Bildung ist mehr als Schule". Dabei geht es um das Zusammenspiel von privater und öffentlicher Erziehung, Familie und Kinderbetreuung, Schule und außerschulischen Angeboten, zu denen ja auch die Angebote von Gemeinde und Jugendarbeit gehören. Bildungsprozesse müssen so gestaltet werden, dass Kinder und Jugendliche auf ganz unterschiedlichen Wegen und in breiter Form erreicht werden können. Nimmt man die im Kinder- und Jugendbericht gegebene Unterscheidung von definierten und standardisierten Bildungsorten einerseits und informellen Lernwelten andererseits auf, so nimmt Familie eine ganz besondere Stellung ein. Einerseits ist sie informelle Lernwelt, andererseits eine auch gesetzlich vielfach geregelte Ordnung und gesellschaftliche Institution. Familien, insbesondere benachteiligte und überforderte Familien zu unterstützen, bleibt darum ein wesentlicher Schlüssel zur Stärkung formaler Bildungsprozesse und Abschlüsse. Das Ergebnis heißt: Nicht für Schule und Lernen, sondern für Bildung und Erziehung sind die Familien unentbehrlich. Nicht die Hausaufgabenhilfe der Eltern, sondern das Gespräch zwischen Eltern und Kindern ist der entscheidende Punkt. Im Schnittpunkt von Schule und Bildung gewinnt eine Aufgabe herausragende Bedeutung, der ich mich jetzt zuwende.

IV.

Die Aufgabe besteht in dem Mut, Maßstäbe zu nennen. Will man die Landschaft des gesellschaftlichen Wandels unter der Perspektive der Auswirkungen auf Bildung und Erziehung vermessen, ist es erforderlich, nicht nur Orientierungspunkte anzugeben, sondern auch Maßstäbe kenntlich zu machen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich in ihrer Denkschrift „Maße des Menschlichen. Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft" grundsätzlich zu ihrem Bildungsverständnis geäußert. Um einen evangelisch profilierten Bildungsbegriff ging es dabei, der an der menschlichen Biographie, an der Selbstbildung des Menschen in den verschiedenen Phasen des Lebenslaufs orientiert ist. Die evangelische Kirche tritt für eine am ganzen Menschen orientierte Bildung ein, welche sich an den Lebenslagen, Interessen und Möglichkeiten der einzelnen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen ausrichtet. Der Kirche liegt daran, dass die Unterschiede zwischen langsamer und schneller Lernenden, zwischen Bildungsbegünstigten und Bildungsbenachteiligten mit unterschiedlichem ethnischem und religiösem Hintergrund stärker berücksichtigt werden.

Eine solche ganzheitliche Bildungsvorstellung sieht sich allerdings heute neuen Herausforderungen ausgesetzt. Wir leben nicht (mehr) in einer einheitlich strukturierten Lebenswelt. Als modern zeichnen sich die Verhältnisse dadurch aus, dass sie sich rasch verändern. Das, was als modern gilt, ist daher selbst einem Prozess der andauernden Entwertung unterworfen. Erneuerung ist der Imperativ. Der Fortschritt ist nur noch formal durchs Neue definiert. Er ist ein offener Raum, kein Ziel, das irgendwann erreichbar wäre. Niemand kann mehr sagen, wohin die Reise geht; dafür sollen sich alle anstrengen, umso schneller dort zu sein. Die zunehmende Beschleunigung des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens – insbesondere die Veränderung der Arbeitsverhältnisse – entwertet immer schneller und immer massiver die überlieferten kulturellen Muster der Lebensführung. Alle stehen fortwährend unter Veränderungs- und Handlungsdruck. Beschleunigung und Unübersichtlichkeit sind die auffälligsten Merkmale dieses Prozesses. Dies führt unter anderem zu Sinn- und Orientierungsverlusten – und zu individuellen wie gesellschaftlichen Suchbewegungen, um diese zu reduzieren.

"Orientierung ist darum heute ungemein wichtig geworden, aber ihr Fehlen wird vielfach nicht als Krise gedeutet oder als existenzbedrohend empfunden. Nicht die Orientierungskrise, sondern die Normalität eines hohen, stetig wachsenden Orientierungsbedarfs ohne stabile Orientierungsdaten ist darum gegenwärtig zentraler Ausgangspunkt von Bildungsarbeit." (Orientierung in zunehmender Orientierungslosigkeit, EKD 1997)

Ich bin davon überzeugt, dass von Bildung nur dann die Rede sein kann, wenn damit nicht nur Verfügungswissen, sondern auch Orientierungswissen gemeint ist. Ich glaube, dass wir die Ganzheitlichkeit von Bildung nicht nur darin sehen sollten, Körper, Seele und Geist in der Balance zu halten. Sie liegt auch darin, im Blick auf den menschlichen Geist nicht nur auf diejenigen Bildungsinhalte zu setzen, die jemand braucht, um für die Informationsgesellschaft fit zu sein. Vielmehr sind mit dem gleichen Gewicht diejenigen Bildungsinhalte zur Sprache zu bringen, die jemand braucht, um sich in seiner Welt zu orientieren und ethisch verantwortlich handeln zu können. In einer Schule, die dieser Vorstellung gerecht würde, wäre Ethik so wichtig wie Englisch, Religion so wichtig wie Mathematik, Sport und Musik so wichtig wie Informatik.

Wir erleben gegenwärtig eine äußerst paradoxe Entwicklung. Auf der einen Seite verstärkt sich die Tendenz, Bildungsprozesse auf verwertbares Wissen oder anwendbare Fertigkeiten auszurichten. Auf der anderen Seite lässt sich beobachten, dass immer neue Versuche unternommen werden, die dadurch entstehende Einseitigkeit zu kompensieren. Auch solche Kompensationsversuche haben ihren Wert. Auf eigentümliche Weise sind beispielsweise Sport- und Religionsunterricht dadurch miteinander verbunden, dass sie für solche Kompensationsversuche immer wieder auf je spezifische Weise in Anspruch genommen werden. Vom Sport verlangt man Bewegung, von der Kirche Werte. Doch Kompensation genügt nicht. Eine Neuausrichtung unseres Bildungsbegriffs ist nötig.

In der Diskussion um Verfügungswissen und Orientierungswissen ist ferner zu beachten, dass es zwischen beiden nicht zu falschen Abgrenzungen kommen darf: Auf der einen Seite stünde dabei ein Verfügungswissen, das sich "lernen", "erwerben" und empirisch prüfen lässt. Auf der anderen Seite fände sich ein Orientierungswissen, das als Konglomerat sogenannter "weicher Bildungsziele" nebulös und wenig fassbar ist, sich sowohl einer gezielten "Aneignung" als auch einer kriterienbezogenen Prüfung weithin entzieht.

Mit einer solchen Gegenüberstellung kann man sich deshalb nicht zufrieden geben, weil es doch um Orientierungs-Wissen geht. Es geht um ein Wissen, das in die Lage versetzt, sich in einer modernen und pluralen Welt zurechtzufinden. Dazu gehören bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Kenntnis von Sachverhalten und Zusammenhängen, das Verständnis der Folgen von Handlungen. Sie lassen sich durchaus in Lernprozessen organisieren und evaluieren. Darum geht es allerdings nicht allein. "Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele." Dazu braucht man einen Horizont von Werten und moralischen Kategorien sowie ein Urteilsvermögen, das sich außerhalb der verhandelten Sache gründet und begründet. Damit ist Orientierungswissen letztlich auf die Fähigkeit des Menschen bezogen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Ein solches Urteilsvermögen verweist auf den Bezug zu Gott, der den Menschen zur Freiheit ruft und dem der Mensch eine letzte Rechenschaft schuldet.

Auch eine Situation weltanschaulicher Pluralität darf nun nicht dazu führen, diese Fragen aus der Schule auszugrenzen. Es muss gerade daran gelegen sein, diese Fragen als Herausforderung zu begreifen und sie in der Schule präsent zu halten. Dies ist ein entschiedenes Plädoyer dafür, katholischen, evangelischen und unbedingt – deutschsprachigen und grundrechtsorientierten – islamischen Religionsunterricht zu etablieren und in ein geklärtes Verhältnis zum Ehtikunterricht zu bringen.

V.

Es ist an der Zeit, neu nach dem Verhältnis zwischen Bildung, Erziehung und Gerechtigkeit zu fragen. Es geht mir am heutigen Tag darum, Bildung und Erziehung im Zusammenhang zu sehen. Von diesem Zusammenhang war schon die Rede. Deshalb wenden wir uns abschließend dem Aspekt der Gerechtigkeit zu.

In einer Gesellschaft, die von zunehmender Vielfalt und Differenzierung geprägt ist und in der Lebenschancen ungleich verteilt sind, muss sich Bildung der Frage nach Gerechtigkeit stellen. Ein evangelisches Bildungsverständnis orientiert sich dabei am Recht auf gleichen Zugang zu Bildung.

Studien, wie sie unter den Kürzeln PISA oder IGLU bekannt geworden sind, müssen also neue Anstrengungen zur Reform des Bildungswesens auslösen. Sie dürfen sich nicht darauf beschränken, den Erwerb von sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen und Wissensbeständen zu prüfen. Blieben wir dabei stehen, würden wir Bildung verkürzen und beschädigen. Die aktuelle politische Debatte um die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre und das so genannte „Turboabitur" zeigt, dass diese Problemanzeige inzwischen von vielen Eltern geteilt wird. Sie fordern zu Recht, dass dabei das Raumangebot und der Zeittakt von Schule so ausgestaltet wird, dass Schülerinnen und Schüler sich dort gern auch bis in den Nachmittag aufhalten. Aber auch, dass die Curricula so überarbeitet werden, dass Raum bleibt für musische und sportliche Aktivitäten, für Spielen, Lesen und Freundschaften in der Freizeit. Denn nur, wer auch eigene Interessen zu pflegen lernt, die nicht unmittelbar auf Verwertbarkeit zielen, und nur wer in Krisensituationen auf einen stabilen Freundeskreis zählen kann, wird auf Dauer die geforderte schulische und berufliche Leistung erbringen.

Ausreichende soziale Kompetenzen wie Regelbewusstsein, Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft und Teamfähigkeit sind aber für eine spätere Berufsausübung und ein gelingendes Leben mindestens ebenso wichtig wie kognitive Fähigkeiten und inhaltliche Kompetenzen. Hier könnte – um das eingangs genannte Beispiel noch einmal aufzugreifen – der soziale Vorsprung von Hans als Glied einer Großfamilie gegenüber dem Bildungsvorsprung des Einzelkindes Florian zur Geltung kommen. Von den Unterrichtenden wird heute vielfach mangelndes Sozialverhalten beklagt. Vielen Schülerinnen und Schülern fehlen heute elementare Lernvoraussetzungen. Sie sind nur unter Mühen bereit und fähig dazu, sich zu konzentrieren und ihr Leistungsverhalten zu strukturieren. Solchen Problemen kann nicht mit allgemein formulierten Bildungsstandards und Maßnahmen zur Erhöhung des Selektionsdrucks begegnet werden. Vielmehr konfrontieren uns zum Teil schreckenerregende Vorgänge an unseren Schulen mit unbequemen Fragen. Zu ihnen gehört, ob der Zerfall der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern – durch den Konsum von Fernsehen und Internet gefördert – Jugendliche so unansprechbar machen kann, dass sie von niemandem mehr erreicht werden. Dazu gehört aber auch die Frage, ob unser Bildungssystem junge Menschen aussondert, statt sie zu integrieren, abstempelt, statt zu befähigen, ausgrenzt, statt einzubeziehen. Die grundlegende Erfahrung, auf die jeder Heranwachsende angewiesen ist, besteht jedoch darin, dass er gefordert wird, weil er wertgeschätzt ist, dass ihm etwas zugetraut wird, weil ihm etwas anvertraut ist: nämlich eine Person zu sein, die wichtig ist und Würde hat. Die Familie ist für diese Bildungsanstrengung der herausragende Ort, ohne dass sich die schulische oder Elementarbildung diesem entziehen könnte.

Denn eine solche Wertschätzung hat in jedem Unterrichtsfach ihren Ort. Aber sie braucht Lehrkräfte, die für mehr qualifiziert sind als nur für bestimmte Fächer; und die – das will ich ausdrücklich betonen – von den Eltern und der Gesellschaft insgesamt aber auch von den Behörden, unter denen die Lehrkräfte arbeiten, geachtet werden. Zu wirklicher Pädagogik gehört die Einsicht, dass in der Schule nicht Fächer und Gegenstände unterrichtet werden, sondern Menschen.

Auf dieses Ziel hin ist es allerdings notwendig, die Schule in mehrfacher Hinsicht weiter zu entwickeln. Lehrkräfte brauchen Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte und Erzieher, Beratungslehrer und Beratungslehrerinnen sollten verlässlich mit Erziehungsberatungsstellen zusammenarbeiten, Ein Blick in amerikanische Schulen zeigt, dass dort auch Psychologinnen und Psychologen, ja sogar Krankenschwestern zum Team gehören, die mit ihrer Kompetenz in der Lage sind, rechtzeitig wahrzunehmen, wenn familiäre Krisen oder gesundheitliche Störungen den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern in Frage stellen.

Die Lebensgeschichte von Migrantenkindern, die sich gegen manche Widerstände schulisch und beruflich durchsetzen konnten, zeigt: Oft war es eine Lehrerin, ein Lehrer, die Mentorenfunktion übernommen hat. Zu häufig aber haben nicht nur Lehrer und Schüler, sondern auch Eltern und Lehrkräfte noch Angst voreinander: Lehrer vor Eltern, die alles besser zu wissen meinen, aber i Wahrheit nur die vermeintlichen Bedürfnisse des eigenen Kindes sehen. Und Eltern vor Lehrern, die jegliche Kritik an sie und ihr Kind zurückgeben. Partnerschaftlichkeit mit dem gemeinsamen Ziel der „Förderung des Kindes" ist notwendig. Der Rückgriff auf nachmittägliche unbezahlte Lehrkräfte in Form von Müttern und – seltener - Vätern stört heute in vielen Familien das Verhältnis von Schule und Familie dauerhaft und ist unter Gerechtigkeitsaspekten nicht akzeptabel. Auf solche Hilfen kann nur vertrauen, wer ausreichend gebildete Eltern hat, die zudem auch entsprechend Zeit zur Verfügung stellen können bzw. wo das nicht möglich ist, teure private Nachhilfeinstitute finanzieren können. Die soziale Spaltung und Verfestigung gesellschaftlicher Schichten, die dem deutschen Bildungswesen vielfach bescheinigt wurde, wird sich auf diese Weise nicht überwinden lassen.

Diese Kinder haben nur dann annähernd gleiche Chancen, wenn, wie es nun gerade auch die OECD gefordert hat, das Aussortieren nach unten in unserem Schulsystem ein Ende findet und weit mehr Ganztagsschulen mit rhythmisiertem Unterricht eingeführt werden. In beiden Feldern sind nur kleine Fortschritte erkennbar. Bei allen politischen Anstrengungen, die das Schulsystem betreffen, darf allerdings nicht unterschätzt werden, dass die soziale Spaltung und Verfestigung bildungsnaher und bildungsferner Milieus in ganz Europa unabhängig von den jeweiligen Bildungssystemen zunimmt. In bildungsnahen Schichten verstärkt sich dabei das Interesse an der Sicherung von Zukunftschancen für die eigenen Nachkommen und an ganzheitlicher Bildung. Dies wird sich auch bei größtmöglicher Chancengleichheit im Schulsystem auswirken; es führt in Deutschland zur Zeit dazu, dass zunehmend Privatschulen gegründet werden und dass die Begabtenförderung schon im Kindergarten boomt.

Unser Bildungssystem ist zwar durchlässig, aber überwiegend nach unten. Auf einhundert Schüler und Schülerinnen, die absteigen, kommen höchstens elf, die aufsteigen. Die schulische Ghettoisierung von Minderheiten stabilisiert die gesellschaftlichen Ghettos. Wenn Bildungsräume keine Förderräume sind, entwickeln sie sich zwangsläufig zu Trainingsarenen für den gesellschaftlichen Konkurrenzkampf mit unfairen Startbedingungen. Erwiesenermaßen wird am Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen von manchen Lehrerinnen und Lehrern die Messlatte für Kinder aus ohnehin benachteiligten Milieus fast um ein Drittel höher gelegt als für Mitschülerinnen und Mitschüler aus der bildungsnahen Mittelschicht. Aus schwierigen Verhältnissen heraus muss man kraftvoller springen, um für höhere schulische Weihen empfohlen zu werden. Wir alle haben die Aufgabe, diese Mentalitäten zu ändern.

Umgekehrt wäre es richtiger: Ebenso wie Begabte, das heißt in der Regel bereits zu Hause Geförderte auch in der Schule gefördert werden sollen, verdienen auch diejenigen Förderung, die es von Hause aus schwerer haben. Sie auf ihre Startbedingungen festzulegen, ist ebenso unchristlich und unmoralisch, wie ihre Förderung davon abhängig zu machen, ob man gesellschaftlich etwas mit ihnen anzufangen weiß. Es sollte deshalb nicht nur ökonomisch gemeint sein, wenn ein Bildungskongress von McKinsey unter dem Motto stand: „Wer an den Kindern spart, wird in Zukunft verarmen." Noch immer weiß man nicht sicher, ob aus solchen Einsichten konsequente und zukunftsfeste Schritte folgen. Wie man doch auch den anderen Satz nicht nur ökonomisch verstehen sollte: Frühes Investieren erspart weitgehend späteres Reparieren.

VI.

Die Familie spielt für das Gelingen von Schule und Lernen eine tragende Rolle unter den Bedingungen ihrer Gefährdung. Deshalb heißt die entscheidende Schlussfolgerung, Familien zu fördern, ohne die Qualitätsbemühungen in Schule und im Bereich der Elementarbildung zu vernachlässigen.

Die Bewegung, in die Kinder uns bringen, lässt einen Pulsschlag spüren, der tiefer ist als die Herzrhythmen eines erfolgsverhetzten, globalisierten Lebens. Kinder und Jugendliche sind uns ans Herz gelegt, damit sich mit der Freude an ihnen auch die Kraft verbindet, die Ausgegrenzten hereinzuholen und die Verlorenen nicht verloren zu geben. Kinder können Familien zusammen führen, wie Feste in Tageseinrichtungen oder Schulfeste oder Familienfreizeiten in der Kirche zeigen. Aber umgekehrt können auch alle diese Institutionen dazu beitragen, dass Eltern in ihrer Aufgabe gestärkt werden und spüren, welchen unverzichtbaren Beitrag sie leisten. Besonders eindrücklich ist das bei Anlässen, in denen alle Generationen miteinander Gottesdienst feiern und gemeinsam alte und neue Lieder singen. Besonders hilfreich sind auch Orte, die die Generationen auf neue Weise zusammenführen – wie Familien- und Mehrgenerationenhäuser. Solche Erfahrungen über die Grenzen der Generationen hinweg können einem Menschen eine tiefere Wertschätzung mit auf dem Weg geben, als sie sich in der Anerkennung für ein gutes Zeugnis zeigt. Es lohnt sich gemeinsam daran zu arbeiten, dass Kinder und Eltern und Lehrer Mut zum Leben bekommen.