Festansprache zum 150-jährigen Jubiläum des Evangelischen Johannesstifts, Berlin

Wolfgang Huber

I.

Ein Hamburger Lehrer notiert im Herbst 1832 nach einem Besuch in der winzigen Bude einer siebenköpfigen Familie: „ Alle ohne Wäsche, blasse Gestalten, klappernd vor Hunger und Frost. Die Lippen strömten über von Klagen über ihren Jammer, alle sprachen zugleich. Die dreizehnjährige Marie saß auf dem Boden und schabte einen rasengrünen Apfel auf einer Scherbe und setzte das dem kranken Vater vors Bette. Feuer hatten sie nicht mehr auf dem Herd gehabt seit langer Zeit. Hier galt es Retten und Helfen ohne Ansehen der Person, aber wie?“

Der Lehrer, der dies notierte, hieß Johann Hinrich Wichern. Vor zweihundert Jahren kam er als das älteste von sieben Kindern zur Welt. Als der Vater ganz plötzlich an Schwindsucht starb, ging seine Kindheit über Nacht zu Ende. Der schmale und ernste Jugendliche muss die Schule abbrechen und arbeitet fortan als Gehilfe einer christlichen Erziehungsanstalt für die Söhne wohlhabender Familien. Noch ahnt niemand, dass das später von ihm gegründete „Rauhe Haus“ in Hamburg-Horn zum Ausgangspunkt einer Bewegung werden soll, die die gesamte evangelische Kirche aufrüttelt.

Das Wort „retten“ klingt für moderne Ohren vielleicht allzu pathetisch. Wichern  selbst weiß, was damit gemeint ist. Ohne die finanzielle Hilfe einiger Hamburger Bürgerfamilien hätten er, seine Mutter und die jüngeren Geschwister nicht überleben können. Ohne seinen Glauben hätte er die Kraft nicht aufbringen können, die Tag für Tag nötig war. Wichern übersetzt „retten“ mit „selig machen“; die Bergpredigt Jesu klingt an. Er träumt davon, in Not geratenen Kindern in einem eigenen Haus mit familiärer Atmosphäre einen Schutzraum zu gewähren.

II.

„Zweiundvierzig Menschen waren in vier Räumen ohne Beschäftigung eingesperrt und sechs Uhr bereits alle auf den Pritschen. Mann an Mann gepfercht. Durch das eine Männerlokal hindurch führt der Weg zu den Weibern. Die Pestluft war wie ein Körper, ein dicker Qualm, der einen fast zu Boden warf. Wie mag diese Luft am anderen Tag beschaffen sein. Einige dieser Löcher haben auch am Tag nur Dämmerlicht.“

Es wird Sie nicht verwundern: Auch dieses Zitat stammt von Johann Hinrich Wichern. Am Beispiel des ostpreußischen Wehlau beschreibt er die Zustände in den preußischen Gefängnissen seiner Zeit. Er gewinnt den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. dazu, daran etwas zu ändern. Im Gefängnis Moabit hier in Berlin führt der König zum ersten Mal das sogenannte „pennsylvanische“ System ein: Einzelhaft statt 42 Menschen in vier Räumen. Wichern stellt Diakone des Rauhen Hauses in Hamburg für den Aufsichtsdienst zur Verfügung. Zu Recht spricht man von dem „waghalsigen Unternehmen eines christlichen Besserungsgefängnisses“.

Aus diesem Impuls entsteht das Evangelische Johannesstift: eine Brüderanstalt, die „evangelische Männer“ auf den Dienst an „Armen, Kranken, Gefangenen und Kindern“ zusammenführen soll. Der Dienst an den Gefangenen steht im Zentrum. Doch Friedrich Wilhelm IV., der Förderer Wicherns, wird 1858, genau in dem Jahr, in dem Wichern das Johannesstift gründet, durch schwere Krankheit regierungsunfähig. Sein Bruder Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm I., übernimmt die Regentschaft. 1863 setzt das preußische Abgeordnetenhaus dem Vertrag mit Wichern ein Ende.

Doch das Johannesstift überlebt. Es verlässt vertraute Standorte und begibt sich auf die Wanderschaft: von Moabit über Plötzensee in den Spandauer Forst. Es wird ein eigenständiges soziales Gemeinwesen, eine Gemeinde besonderer Art. Es zeigt, was der Satz Wicherns über die christliche Kirche bedeutet: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“. Es praktiziert die Einheit von Glaube und Liebe: mit den Einrichtungen der Altenhilfe, der Behindertenhilfe, der Jugendhilfe, mit den Ausbildungsstätten von den Schulen bis zur Diakonenausbildung, mit seinen Dienstleistungen von der Gärtnerei bis zum Christophorushaus. Es praktiziert die Einheit von Glauben und Liebe auch in dem Mut, in dem es hinausgeht ins Land Brandenburg, um dort christliche Nächstenliebe erfahrbar zu machen: für drogenabhängige Jugendliche ebenso wie für Menschen, die Frieden suchen: Frieden am Abend ihres Lebens. Es wird beides zugleich: ein Gemeinwesen im Geist christlicher Liebe und ein diakonisches Unternehmen. Alles – das ist jedem Beteiligten bewusst – kommt darauf an, dass beides zusammen gehalten wird: der Geist christlicher Nächstenliebe und gute Haushalterschaft, die Zuwendung zu den Menschen und ökonomische Vernunft, das christliche Bekenntnis und professionelle Hilfe.

III.

Noch einmal ein Zitat: „Tritt das Verderben in den oberen oder sogenannten ‚guten’ Ständen auch minder grell ans Licht (als in den unteren Klassen des Volkes) und hält auch Sitte und Ehre noch den Ausbruch manches Argen zurück, so finden im Wesentlichen verwandte Zerrüttungen auch hier statt. Bei dem Scheine oder der Wahrheit einer gesteigerten intellektuellen Bildung ist der Mangel an solider christlicher Charakterbildung vielfach nur durch die Sitte und anmutige, oft bloß geschmeidige Form verdeckt. ... Ist nicht der Missbrauch des irdischen Besitzes in Geiz und Vergeudung, die Hartherzigkeit, das Jagen nach Geld und Ehre, der Schwindelgeist im Geschäftsleben, der Geschmack an raffinierten Genüssen aller Art, das Wohlgefallen an einer ungesalzenen, schlechten Literatur, das schwankende oder leichtfertige Urteil über die heiligsten, bürgerlichen und christlichen Lebensverhältnisse ... ein großer und tatsächlicher Beweis, dass ... in den obersten und mittleren Schichten der Gesellschaft dieselbe innere Fäulnis grassiert, dieselbe Streitsucht wie in den untersten Ständen mächtig wirksam ist? ... Nur durch eine sittliche Wiedergeburt des Volks mit seinen obern und untern Ständen kann eine befriedigende Ausgleichung zwischen den verschiedenen Besitzständen möglich werden, eine Ausgleichung, die, wenn sie gründlich und ausdauernd sein soll, im Innern, in den Gemütern beginnen muss.“

Natürlich ist auch dieses Zitat von Johann Hinrich Wichern. Es stammt aus seiner mitreißenden Denkschrift über die Innere Mission von 1849. In dieser Denkschrift hielt Wichern fest, was er in zwei großartigen Stegreifreden auf dem Kirchentag in Wittenberg im Jahr zuvor entwickelt hatte. Diese Denkschrift ist die Gründungsurkunde der Inneren Mission, der modernen Diakonie.

Einhundertundsechzig Jahre später ist eine andere Sprache üblich. Wir reden von einer neuen Werteerziehung, die notwendig sei für alle Schichten, für die Kinder aus Migrantenfamilien ebenso wie für Kinder der Mehrheitsgesellschaft. Dass keine Gruppe von der Verpflichtung ausgenommen ist, sich Rechenschaft abzulegen über die Gründe für „innere Fäulnis“ und „Streitsucht“, dass eine Änderung in der persönlichen Haltung, also „im Innern, in den Gemütern“ beginnen muss: darüber sind wir uns weitgehend einig, wenn auch nach wie vor der Konflikt darüber nicht beigelegt ist, in welchen Formen dieser Notwendigkeit – insbesondere in unseren Schulen – Rechnung getragen werden soll.

Uns steht heute vor Augen, wie schnell Freiheit mit Willkür verwechselt wird. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Einflussreichen die Hoffnungen und Träume ganzer Menschengruppen wie bei einem Roulettespiel vom Tisch wischen. Es ist ebenso wenig hinnehmbar, dass wir Tag für Tag zusehen, wie die Zukunft der nächsten Generationen verspielt wird. Diejenigen mit den starken Schultern haben keinen Grund, sich als etwas Besseres vorzukommen.

Ohne diesen Protest gegen alle Formen des Standesdünkels kann man Wichern nicht verstehen. Aber ohne den Protest gegen solchen Standesdünkel werden wir auch unserer heutigen Verantwortung nicht gerecht. Deshalb müssen wir fragen: Stehen diejenigen mit den starken Schultern zu ihrer Verantwortung?  Es scheint fast so, als hätten Teile unserer Eliten die Bürgergesellschaft bereits aufgegeben. Das Auseinanderdriften von Arm und Reich erzeugt Risse, die mitten durch unsere Gesellschaft gehen. Das lenkt allzu viel Wasser auf die Mühlen derjenigen Populisten, die so tun, als müsse man Geld nicht erwirtschaften, sondern könne es auch ausgeben, ohne zu fragen, woher es kommt. Der Rückzug der Starken ins Private hinterlässt Resignation, Verzweiflung und ein bedrohliches Vakuum, das nach neuer Füllung schreit.

IV.

Johann Hinrich Wichern war kein überragender Theologe. Dagegen stand nicht nur sein praktischer Sinn; dagegen standen auch die entbehrungsreichen Verhältnisse, unter denen er Theologe wurde. Aber Wichern hat für das christliche Denken unvergessliche Impulse gesetzt. Die Einheit von Glauben und Liebe gehört dazu. Dazu gehört aber auch die Einsicht, dass eine Kirche sich nur dann Volkskirche nennen darf, wenn sie eine Kirche für das Volk ist, nahe bei den Menschen, an der Zukunft des Lebens interessiert, Partei nehmend für die Schwachen.

Wichern, für manche vielleicht eine Art Don Quichote auf dem weiten Feld der Reformen, hat seiner eigenen Kirche ins Stammbuch geschrieben, dass es der Beruf der Kirche sei, sich der Sorgen der Menschen anzunehmen. Und zugleich hat er uns mit dem biblischer Wahlspruch auf seinem Grabstein den Kern seiner Zuversicht hinterlassen: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“

Den Menschen zu sehen und auch in seiner Hinfälligkeit Gottes Ebenbild wahrzunehmen: das ist der grundlegende Impuls der von Wichern geprägten Diakonie. Das ist auch die Verpflichtung, unter der das Evangelische Johannesstift steht.

Dem Berliner Johannesstift gratuliere ich heute sehr herzlich zu seinem hundertfünfzigjährigen Bestehen. Wer heute erlebt, wie das Evangelische Johannesstift Jahr für Jahr am Sonntag vor Erntedank mehr als vierzigtausend Gäste beim größten christlichen Volksfest in Berlin beherbergt, der wird sich mit mir wünschen, dass in fünfzig Jahren der zweihundertste Geburtstag dieser wunderbaren Einrichtung mit unverminderter Zuversicht gefeiert wird.

Mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie mit all den Menschen, denen der Dienst des Evangelischen Johannesstifts gilt, freue ich mich daran, dass der vor 150 Jahren gewählte Leitvers aus dem Johannesevangelium klar zum Ausdruck bringt, wofür das Evangelische Johannestift heute wie morgen steht: „Lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“