„Die Bedeutung von Spiritualität und Riten für die Zukunft des Christentums“ - Festvortrag bei der Cartellversammlung 2008 des Cartells Rupert Mayer, Berlin, Französische Friedrichstadtkirche

Wolfgang Huber

Zum Beginn: Rupert Mayer und Dietrich Bonhoeffer

Was kann der Name von Pater Rupert Mayer für einen evangelischen Christen bedeuten? Dieser Zeuge des christlichen Widerstands gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft war nach seiner Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen, nicht weit von Berlin, von 1940 bis 1941 unter strengen Auflagen der Gestapo im oberbayerischen Kloster Ettal „konfiniert“. Dort fand auch Dietrich Bonhoeffer im Winter 1940/41 Zuflucht – einerseits um an seiner „Ethik“ zu arbeiten, andererseits um Spielraum für seine konspirativen Tätigkeiten zu haben. Dietrich Bonhoeffers Freund und Biograph Eberhard Bethge bezeugt, dass Rupert Mayer und Dietrich Bonhoeffer sich in dieser Zeit intensiv ausgetauscht haben, einmal jedenfalls auch in Bethges Anwesenheit.

Die Erfahrung des gemeinsamen Lebens im Benediktinerkloser Ettal hat in Bonhoeffer die Frage nach der gemeinsamen christlichen Spiritualität in einer besonderen Weise wieder wach gerufen, die ihn schon Jahre vorher bei seinem Aufenthalt in Rom auf besondere Weise angerührt hatte. Am 16. November 1940 schreibt Bonhoeffer an Eberhard Bethge: „Noch ein Wort zur katholischen Frage: Wie sind wir Lutheraner mit den Reformierten zusammengekommen? Eigentlich ganz untheologisch...; nämlich durch zweierlei: durch ‚Führung’ Gottes (Union, BK) und durch die Anerkennung des im Sakrament objektiv Gegebenen: Christus wichtiger als unsere Gedanken über ihn und seine Gegenwart. Beides theologisch fragwürdige Grundlagen, und doch entschied die Kirche im Glauben sich für Abendmahl- , d.h. Kirchengemeinschaft. Sie ... entschied sich dafür, ihre Gedanken bzw. Lehre über Christus hinter die Objektivität der Gegenwart Christi (auch im reformierten Abendmahl) zurückzustellen. ... Wäre dieses beides nicht auch möglich im Verhältnis zur katholischen Kirche: Anerkennung der ‚Führung’ Gottes in den letzten Jahren, Anerkennung der Objektivität der Gegenwart Christi ... . Es scheint mir als einigten sich Kirchen nicht primär theologisch, sondern durch glaubende Entscheidung im genannten Sinne! Das ist ein sehr gefährlicher Satz, gewiss! Man kann alles damit machen. ... Ich meine ja auch nicht, dass das morgen oder übermorgen geschehen könnte, aber ich möchte mir die Augen in dieser Richtung offen halten!“

Die Begegnung zwischen Dietrich Bonhoeffer und Rupert Mayer führt dazu, dass ich einen „theologisch gefährlichen“ Satz an den Beginn meiner heutigen Überlegungen stelle: Gottes Führung und die Objektivität der Gegenwart Christi im Sakrament sind entscheidende Bezugspunkte für ökumenische Fortschritte in unserer Zeit. Gewiss müssen sie von theologischer Rechenschaft begleitet sein, damit man mit ihnen nicht „alles machen“ kann, wie Bonhoeffer warnend hinzufügt. Aber wenn wir uns nicht auf die Führung Gottes einlassen und der Gegenwart Christi – insbesondere seiner Gegenwart im Sakrament des Altars – anvertrauen, dann sind unsere theologischen Unterscheidungen offenkundig zu nichts nutze.

Welcher Art aber sind die Vollzüge, in denen wir der Führung Gottes und der Gegenwart Christi gewiss werden. Dies sind Vollzüge der Spiritualität. Der Dialog zwischen Rupert Mayer und Dietrich Bonhoeffer, von dem wir 68 Jahre später einen Zipfel zu erhaschen suchen, führt uns mit einer inneren Notwendigkeit auf das Thema, das Sie mir gestellt haben: die Bedeutung von Spiritualität und Ritus für die Zukunft der Christenheit.

Ich will mich diesem Thema so anhähern, dass ich zunächst die Wiederkehr der Spiritualität im öffentlichen wie im kirchlichen Bewusstsein beschreibe, dass ich dann nach Kennzeichen christlicher Spiritualität und christlicher Ritualisierung frage, um schließlich einen Blick auf die Bedeutung einer spirituellen Erneuerung unseres Glaubens für den Einzelnen wie für die Gesellschaft zu werfen.

II. Wiederkehr der Spiritualität

Spiritualität ist heute ein Wort mit wachsender Resonanz, ein aufsteigender Stern. Es hat eine Aura, an die sich Hoffnung knüpft. Die Aufmerksamkeit für Spiritualität bildet ein wichtiges Gegengewicht gegen den verbreiteten Materialismus unserer Zeit. Sie ist Ausdruck des Protests gegen die Kommerzialisierung von allem und jedem, die dem Menschen zugemessene Lebenszeit eingeschlossen. In ihr meldet sich der Widerspruch gegen einen umfassenden Herrschaftsanspruch der Ökonomie, der auch vor der Ökonomisierung der Seele nicht Halt macht – es sei denn, wir gebieten ihm Einhalt.

Spiritualität gehört zu den wichtigen Quellen, aus denen heraus wir auf die neue Aufmerksamkeit für Religion, die unsere Zeit bestimmt, eine angemessene Antwort finden können. Denn zu den Kräften, die wir in dieser Zeit brauchen, gehört ein starker, persönlicher, inniger Glaube.

Im evangelischen Raum wurde diese Dimension lange Zeit vernachlässigt, weil der Glaube einseitig mit dem Handeln verknüpft wurde. Bestärkt wurde dies durch die öffentliche Meinung: Diakonische Werke finden mehr Anklang als Gottesdienste, soziales Engagement ist beliebter als Beten. Diese Verengung haben viele verinnerlicht; sie haben deshalb angenommen, dass sich am Handeln die „Glaubwürdigkeit“ der Gottesbeziehung ablesen lasse. Darüber wurde bisweilen verlernt, in Gott zu ruhen, sich in seiner Liebe zu bergen und seine Gegenwart zu erahnen.

Nun aber fangen viele wieder an, dem Einkehren in Gottes Licht, dem Heimkehren in seinen Geist, dem Staunen vor seinem Geheimnis Raum zu geben.  Angesichts eines solchen Wandels kommt es darauf an, dieser neuen Spiritualität eine klare biblische Orientierung zu geben und christliche Existenz in ihrer Ganzheit zu sehen: in der Einheit von Beten und Tun des Gerechten, wie Dietrich Bonhoeffer auf unüberholte Weise gesagt hat.

Bonhoeffer knüpfte damit an eine alte Tradition an – nämlich an die Einheit von Aktion und Kontemplation, von Arbeiten und Beten. Diese Tradition hat – bis hin zu kommunitären Lebensformen – auch in der evangelischen Kirche Heimatrecht. Die reformatorische Frage nach dem guten Baum, der allein gute Früchte bringt, gewinnt neue Aktualität.

Bei einem guten Baum, so sollte diese Frage deutlich machen, sind zuerst nicht die Früchte des Handelns und Tuns gefragt, sondern die Wurzeln des Hörens, des Einfindens, des Schweigens, Betens, Staunens und Singens. Nach meiner Überzeugung ist es an der Zeit, das Innenleben des Glaubens, die spirituelle Landschaft im Herzen, die mit ganzer Seele gelebte Gottesbeziehung zu vernachlässigen. Denn gerade aus geistiger und geistlicher Tiefe heraus lassen sich auch Maßstäbe für das Handeln entwickeln. Aus dem Miteinander von theologischer Klarheit und spiritueller Dichte heraus werden wir auch in unseren Taten, in unserem Sagen und in unserem Trösten Gewissheit finden und Überzeugungskraft entwickeln.

Denn dazu ist es notwendig zu erkennen, dass unser eigenes, vermeintlich großes Ich nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Nur wenn wir Gott im Zentrum sehen, können wir all den bedrängten, weinenden, verzweifelten Menschen, die unsere Welt trotz aller sozialen und diakonischen Anstrengung weiter kennen wird, zusagen und verheißen, dass der Glanz Gottes dem Kummer, dem Dunkeln, dem Abgründigen und Bösen nicht das letzte Wort lässt. Sollen denn die Bedrängten, Vernachlässigten, Einsamen und Gequälten nicht nur in dieser Welt verlieren, wie es ja leider oft genug geschieht, sondern auch noch in jener Welt, aus der wir kommen, zu der wir gehen, und deren Frieden die Herzen trösten kann?

Ich bin davon überzeugt, dass neben kritischer Aufklärung und dialogischer Toleranz, neben sozialem Engagement und diakonischem Tun auch eine gereifte Innerlichkeit, auch eine an Bibel und Bekenntnis orientierte Sehnsucht nach einem Ankommen bei Gott eines der kräftigsten Widerstandsnester gegen allen religiösen Terrorismus und Fundamentalismus bildet. Deshalb freue ich mich über die Wiederkehr der Spiritualität und will gern an ihr Anteil haben.

Vagabundierende Spiritualität. Ohne Zweifel beobachten wir bei der Suche nach Spiritualität mancherlei Vagabundieren. Auch aus Enttäuschung über einen in den etablierten Kirchen verspürten Mangel an lebendiger Spiritualität sind viele Menschen auf der Suche nach neuen Wegen. Vor Umwegen oder Irrwegen werden sie dabei nicht bewahrt.

Die neue Spiritualität, von der die nötige Widerstandskraft gegen die Verzweckung unseres Lebens und gegen die Instrumentalisierung unserer Seele erhofft wird, gerät selbst in den Sog des Konsumismus. Menschen auf der Suche nach Spiritualität werden als Kunden entdeckt. Ihre Zahlungsfähigkeit verführt dazu, Spiritualität als Ware anzubieten. Die Frage nach der Wahrheit wird dabei ausgeblendet; richtig ist, was nützt – und was sich verkauft.

Spiritualität vermischt sich mit Wellness und Kommerz. Es werden Tropfen heiligen Wassers aus der Quelle zu Lourdes verschickt, eingetrocknet auf Postkarten, damit man sich Flaschen davon bestellen möge. Oder es werden spirituelle Haarschnitte angeboten. Vermeintliche Experten bestimmen in Kirchen die Punkte, an denen sich Energieströme verstärken. „Entschleunigungstrainer“ bieten ihre Dienste an; Fastenseminare sind bisweilen teurer als eine opulente Vollpension. Fernöstliche Meditationstechniken werden angeboten. Eine vagabundierende Spiritualität verbreitet sich über das Land, verspricht berufliche Erfolge, Gesundheit, Kräfte zur Lebensbewältigung und Gotteserfahrungen.

Aber auch noch diese vagabundierende Spiritualität enthält Hinweise auf eine Sehnsucht, die Menschen ohne kirchliche Bindung mit solchen verbindet, die kirchlich engagiert sind. Sie suchen nach Erfahrungen, die stärker sind als die verwirrenden und kräftezehrenden Eindrücke des Alltags; sie suchen nach einer Mitte für ihre Lebenspraxis, die zu klarer Orientierung verhilft. Sie halten Ausschau nach Hinweisen dafür, dass das Leben „mehr als alles“ ist. Jede Spiritualität bezieht sich auf einen „Höchstwert“, auf etwas Absolutes, auf die Gottheit oder ihre Offenbarung, auf das Nichts oder die Leere, auf das, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Spiritualität als Sinn für Transzendenz. Auch in der Gestaltung der Spiritualität besteht die Gefahr, in die „Diesseitsfalle“ zu tappen, die zu den großen Gefährdungen unserer Zeit gehört.  Die Reduktion der Wirklichkeit auf das Messbare wird zwar von vielen Menschen in Frage gestellt. Andererseits lässt die Lebensgestaltung zwischen beruflichen Anforderungen und selbst erhobenen Ansprüchen im Freizeitbereich für ein „Jenseits“ kaum Raum.

Zudem gibt es manche Formen von Religiosität, die ohne den Bezug auf eine Transzendenz auskommen. Der Arzt Klaus Dörner spricht in diesem Zusammenhang von der „Diesseitsfalle, in der der Mensch vor lauter Entlastung vom Anderen, Fremden, Äußeren im Saft der reinen Immanenz schmort.“ Prägnant gibt Woody Allen die ambivalente Haltung vieler Zeitgenossen wieder: „Natürlich gibt es eine jenseitige Welt. Die Frage ist nur: Wie weit ist sie von der Innenstadt entfernt, und wie lange hat sie geöffnet?“

Ob die verfügbare Wirklichkeit als geschlossenes System verstanden wird oder ob sie in eine umfassendere Wirklichkeit eingebettet ist, der sie sich verdankt und vor der wir verantwortlich sind, ob die Welt ihrer eigenen Logik überlassen bleibt oder ob die Horizonte des Universums offen sind, das bestimmt das Lebensgefühl der Menschen grundlegend. Davon hängt ab, wie sie ihr Leben wahrnehmen und gestalten, wie sie ihren Ort im Kosmos finden, wie sie mit der Endlichkeit des eigenen Lebens umgehen.

Die Möglichkeit dazu, einen solchen Ort in der Wirklichkeit zu finden, wird in den Erzählungen des Glaubens erschlossen. Damit sie wirken können, müssen sie immer wieder erinnert, meditiert und  neu gedeutet werden. Sie verbinden sich mit den Personen, mit denen zusammen wir uns an sie erinnern. Sie wollen nicht nur gewusst werden, sie wollen Teil der persönlichen Spiritualität werden. Der Zugang dazu, unseren Ort in dieser größeren, von Gott bestimmten Wirklichkeit zu finden, erschließt sich in der Feier des Glaubens. Aus ihr lebt auch die persönliche Spiritualität. Aber diese Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes will verleiblicht werden und in unserem Alltag einen festen Ort erhalten. Deshalb brauchen wir eine Übung der Spiritualität, feste Formen der Frömmigkeit, die uns in guten wie in schweren Tagen tragen und zum Schwarzbrot unseres Glaubens werden können. Dass biblische Texte in unserem Leben einen festen Ort haben, ist dafür genauso wichtig wie der Raum für Zeiten der Stille, die Praxis der Meditation und die Übung des Gebets.

Christliche Spiritualität.

Spiritualität ist kein spezifisch christliches Phänomen. Es gibt selbstverständlich eine muslimische Spiritualität, es gibt die Spiritualität buddhistischer Mönche oder indianischer Riten und vieles andere mehr.

Man sucht in fernöstlichen Traditionen, in esoterischen Praktiken, aber durchaus auch in christlichen Kirchen. Manchmal hat die Spiritualität unserer Tage weniger ein spirituelles Gegenüber im Auge als vielmehr die Methoden, die Zugang zu einem Absoluten versprechen. Atemübungen oder Phantasiereisen, Kerzen oder Klangschalen, Steinmeditationen oder Stilleübungen mögen Hilfen auf einem Weg sein, aber das Ziel sind sie nicht. Andererseits verbinden sich mit den gewählten Methoden auch unerkannte Inhalte, die dem Suchenden verborgen bleiben und ihn, weil nicht reflektiert, ungeprüft besetzen können.

Trotz der vielfältigen Gestalten, in denen Spiritualität heute begegnet, ist festzuhalten: Der Begriff „Spiritualität“ ist christlichen Ursprungs. Er leitet sich vom Spiritus Sanctus, dem Heiligen Geist, her. Wo der Heilige Geist Fühlen, Denken und Handeln eines Menschen bestimmt, ist sein Leben spirituell. Frömmigkeitspraxis, Lebensgestaltung und Glaube sind in dem Wort „Spiritualität“ zusammengefasst. „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten“, schreibt Martin Luther in seiner Erklärung zum Dritten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Das Thema dieser Erklärung nennen wir heute „Spiritualität“.

Nehmen wir die Herkunft des Wortes ernst, dann bezeichnet Spiritualität ein Beziehungsgeschehen. Gottes Geist wirkt auf den Menschen ein; der Mensch nimmt diese Wirkung wahr, er nimmt sie auf und setzt sie in sein Leben um. Das Gegenüber, auf das Christinnen und Christen sich beziehen, ist nicht die Leere oder ein anonymes Absolutes, sondern der Gott, den Jesus Christus gezeigt und auf den hin er gelebt hat. Insofern ist christliche Spiritualität exklusiv. Aber weil dieser Gott lebendig und unverfügbar ist, ist sie nicht eng. Wie jede Beziehung gestaltet sie sich gemäß der persönlichen Lebenssituation der Beteiligten, sie bleibt ein Prozess.

Christliche Spiritualität meint also nicht nur einen Sektor des Lebens, sondern das Leben im Ganzen. Sie ist eine Frömmigkeitskultur, die authentisch gelebt wird; sie kennzeichnet einen christlichen Lebensstil. Sie ist Wahrnehmung Gottes im Glück der Menschen, in der Schönheit der Natur und im Gelingen des Lebens. Sie ist aber ebenso die Wahrnehmung der Augen Christi in den Augen eines hungernden Kindes (Elisabeth von Thüringen), die Erfahrung seiner Nacktheit in einem nackten Bettler (Martin von Tours). Christliche Spiritualität ist eine Spiritualität der Umkehr. Sie folgt dem großen Finger Johannes des Täufers auf Grünewalds Isenheimer Altar: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Johannes 3,30).

In der Spiritualität geht es nicht um meinen Geist, sondern um den Geist Gottes. Christliche Spiritualität ist deshalb nicht Vergeistigung, sondern Verleiblichung des Glaubens im gelebten Leben. Spirituelle Glaubenszugänge gründen auf der Zusage des Heiligen Geistes. Um dieser Zusage willen geben sie dem Zweifel Raum und halten der Anfechtung stand. Gelebte Spiritualität schafft dem Glauben eine Heimat.

Rituale des Sonntags und des Alltags. Gewiss braucht man für diese gelebte Spiritualität außerordentliche Möglichkeiten. Der Rückzug in ein Kloster hat auch für evangelische Christen eine neue Anziehungskraft entwickelt. Für einige Tage am verlässlichen Tagesrhythmus einer Kommunität teilzunehmen, mit festen Gebetszeiten am Morgen, am Mittag und am Abend, mit Zeiten des Schweigens und mit gemeinsamen Mahlzeiten, die nach einer festen Ordnung verlaufen – all das tut der Seele wohl und tröstet über die Unruhe hinweg, die einen schon bald wieder ergreifen wird. Doch irgendetwas davon brauchen wir auch für unseren Alltag, für den Rhythmus des Tages und der Woche.

Die Behauptung, der moderne Mensch lasse sich die Ritualisierung seines Lebens vom Fernsehen vorgeben, kann nicht das letzte Wort behalten. Schon deshalb geht das nicht, weil mit der digitalisierten Vervielfältigung von Fernseh-, Rundfunk- und Internetangeboten jeder Mensch ein eigenes Tagesgerüst und ein starkes persönliches Rückgrat braucht, wenn er nicht in der Flut umkommen will, mit der die elektronischen Medien ihn umspülen.

Ich maße mir kein Urteil über die Spiritualität in anderen christlichen Kirchen an. Ich bin nur davon überzeugt, dass Spiritualität der Bereich ist, in dem wir ökumenisch am allermeisten voneinander lernen können. Ich habe deshalb vorgeschlagen, die gemeinsame Spiritualität als ökumenisches Kernthema zu entdecken und zu gestalten. Damit hängt auch mein Vorschlag zusammen, ein ökumenisches Repertorium, ja vielleicht sogar einen ökumenischen Kanon spiritueller Schlüsseltexte zu erarbeiten.

Im Blick auf meine eigene Kirche muss ich allerdings eine pointierte Bemerkung hinzufügen. Die Behauptung, der Protestantismus habe nichts mit den Ritualen im Sinn, darf nicht das letzte Wort behalten.  Gewiss hat die Reformation den äußeren Ritualen alle Heilsbedeutung abgesprochen. Sie hat auch die Wahl der Rituale freigegeben und dadurch eine Pluralität ermöglicht, die einen vollauf berechtigten Freiheitsgewinn mit sich brachte, in der aber auch die Gefahr der Überforderung schlummerte. Die Reformatoren sahen freilich zugleich, dass die Freiheit im Umgang mit dem Ritus die Gefahr von Formlosigkeit und Beliebigkeit in sich trug. Sie wirkten dem mit konkreten Vorschlägen zur Gestaltung des persönlichen Gebets, der Andacht in der Familie und des Gottesdienstes in der Gemeinde entgegen.

Trotzdem verbinden viele bis zum heutigen Tag die protestantische Tradition mit der Vorstellung, das Wesentliche des Glaubens spiele sich im Innern des Menschen ab. Innerlichkeit gilt als protestantische Errungenschaft wie als protestantische Gefahr. Es trifft zu, dass das Ritual in der Entwicklung evangelischer Frömmigkeit phasenweise sogar unter „Korruptionsverdacht“ gestellt wurde.  Das war eine Übertreibung, die der evangelischen Frömmigkeit zum Schaden gereichte. Formlosigkeit im liturgischen Handeln wie im persönlichen Auftreten mancher Pfarrerinnen und Pfarrer, Ratlosigkeit im Blick auf das persönliche wie das familiäre Gebet, Sprachlosigkeit im Blick auf die Rechenschaft vom eigenen Glauben sind verbreitete Folgen. Eine Kurskorrektur ist überfällig.

Dass es beim Glauben nicht auf die äußere Form, sondern auf die innere Aneignung ankommt, wird durch eine solche Kurskorrektur nicht in Frage gestellt. Auch eine erneuerte Aufmerksamkeit für die Disziplin liturgischer Gestaltung wird nichts daran ändern, dass die Predigt im Zentrum des evangelischen Gottesdienstes steht. Gleichwohl gilt es, der Einsicht Rechnung zu tragen, dass der Mensch nicht nur von innen nach außen, sondern auch von außen nach innen lebt. Allen Glaubensgemeinschaften ist das vertraut. Wenn das Verhältnis zu Gott, zur Welt und zu sich selbst, das sie vermitteln, als „Religion“ bezeichnet wird, dann bestimmt dieses Leben von außen nach innen sogar die Wahl dieses Begriffs. Denn das Wort „Religion“ leitet sich von dem lateinischen Verbum „religere“ ab. Es bedeutet „wieder lesen“ oder allgemeiner: etwas regelmäßig tun, etwas beständig wiederholen. Religion hat es mit der regelmäßigen Einübung der Gottesbeziehung zu tun. Sie ist dadurch geprägt, dass insbesondere das Gebet einen regelmäßigen Ort und eine regelmäßige Zeit, aber auch eine regelmäßige Form, ja sogar einen regelmäßigen Inhalt hat.

Im Blick auf den gemeinsamen Gottesdienst ist uns das vertraut. Die ersten Christen entschlossen sich sehr früh dazu, den Tag der Auferstehung Christi, also den Sonntag, zu ihrem Gottesdiensttag zu machen. Sie wählten dafür auch eine feste Zeit, nämlich die Zeit des Sonnenaufgangs, also den frühen Morgen. Kaiser Konstantin der Große erklärte im Jahr 321 eben diesen Sonntag – den „verehrungswürdigen Tag der Sonne“, wie er in Anspielung an den zu seiner Zeit noch geläufigen Kult des Sonnengottes sagte – zum arbeitsfreien Tag für  die Richter, die Stadtbevölkerung und alle Erwerbstätigen außer den Bauern. Daraus entwickelte sich im weiteren Verlauf des 4. Jahrhunderts eine Verbindung zwischen dem christlichen Gottesdiensttag und dem Tag der Arbeitsruhe.

Auch wenn die Pflicht, die Arbeitsruhe einzuhalten, erst mit der modernen Arbeitsgesetzgebung zum Allgemeingut wurde, war doch die Verbindung zwischen der „Auszeit“ für die arbeitende Bevölkerung und dem gemeinsamen Gottesdiensttag schon lange zuvor von kulturprägender Bedeutung. Es war folgerichtig, dass die Christen das Gebot, den Sabbat zu heiligen, auf den Sonntag übertrugen; schließlich anerkannte auch der Staat den Auftrag, die Sonn- und Feiertage als „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ (so das deutsche Grundgesetz im Anschluss an die Weimarer Reichsverfassung von 1919) unter seinen besonderen Schutz zu stellen.

In der ebenso pluralen wie mobilen Gesellschaft, in der wir leben, wird auch die Sonntagskultur plural und mobil. Dennoch bleibt der gemeinsame und verlässliche Gottesdiensttag für die religiöse Praxis wie für die Sozialkultur ein Gut von hohem Rang. Doch was für den gemeinsamen Gottesdienst, auf dessen Zeit und dessen Ort Verlass ist, gilt, das gilt ebenso für den Rhythmus der persönlichen Frömmigkeit.

 Insbesondere im Zusammenleben mit Kindern zeigt sich die große Bedeutung fester Rituale. Die bergende Bedeutung des Abendgebets behält jeder im Herzen, der ein solches Abendgebet erlebt hat. Wer mit Paul Gerhardt einschlafen durfte, vergisst das ein Leben lang nicht, mitsamt den Rätseln, die dessen Abendlied aufgibt: „Breit aus die Flügel beide / o Jesu, meine Freude, / und nimm dein Küchlein ein. / Will Satan mich verschlingen, / so lass die Englein singen: / ‚Dies Kind soll unverletzet sein.’“

Wie das Lied oder das Gebet zum Abend einen festen Ort und eine feste Zeit haben, so ist es mit den wiederkehrenden Elementen der persönlichen Spiritualität. Für jeden Glaubenden – aber auch für jeden, der auf der Suche nach einer eigenen Glaubensgewissheit ist, also auch für jeden Zweifelnden – ist es eine Hilfe, wenn er für die eigene Spiritualität ein klares Vorhaben hat. Es mögen die zwei biblischen Sätze aus dem Alten und dem Neuen Testament sein, die das Herrnhuter Losungsbüchlein jedem einzelnen Tag beigesellt; oder es mag ein längerer biblischer Text sein, wie er dem Kirchenjahr zugeordnet ist oder sich aus einer fortlaufenden Bibellese ergibt. Es mag die Sprache der Psalmen oder der großen Kirchenlieder sein, in der wir uns bergen. Es mag ein Gebet aus der Geschichte christlicher Frömmigkeit oder ein persönlicher Gebetswunsch sein. Was auch immer es sei – die Spiritualität des Alltags enthält viele Möglichkeiten. Es kommt nur darauf an, nicht vor der möglichen Vielfalt zu kapitulieren, sondern etwas Bestimmtes zu ergreifen. Das ist keine Festlegung für alle Zeit; auch die eigene Glaubenspraxis kann sich wandeln. Aber jeweils auf Zeit braucht jeder etwas, woran er sich hält. Die eigene oder die gemeinsame Zeit für Hören und Beten darf nicht jedem Angriff des Kalenders oder eines unerwarteten familiären Ereignisses schutzlos ausgeliefert sein.

Das Vaterunser. Die „Einübung im Christentum“ braucht feste Rituale. Ihr Kern ist gewiss das Gebet, das die Christenheit Jesus Christus selbst verdankt, das Vaterunser. In der Zahl seiner Bitten folgt es der Siebenzahl, die für die christliche Frömmigkeit insgesamt eine so außerordentliche Bedeutung hat: sieben Gaben des Geistes, sieben Werke der Barmherzigkeit, sieben Bitten des Vaterunser.

Der Alltag wird in ihm genauso ins Gebet genommen – „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – wie die kühnsten Hoffnungen des Glaubens: „Dein Reich komme“. Die Anfechtung durch das Böse kommt genauso zur Sprache wie die Kraft der Vergebung. Der Trost wird laut, der sich einstellt, wenn wir Himmel wie Erde dem Willen Gottes anvertrauen; denn es ist ein Wille zum Guten. Doch gerahmt sind diese sieben Bitten durch einen Lobpreis der Erhabenheit Gottes am Ende und durch die zärtlich-nahe Anrede Gottes als Vater, zu der Glaubende in Jesu Namen den Mut fassen können. Deshalb ist das Vaterunser der Grundtext christlicher Spiritualität, eine Einübung im Christentum schlechthin.

 Ein Leben mit den Grundvollzügen und den Grundtexten christlicher Frömmigkeit stiftet Heimat. Mit ängstlicher Enge ist das nicht zu verwechseln. Vielmehr erwächst aus einer solchen Beheimatung ein weitherziger, weltoffener Glaube, der dem Dialog mit anderen Überzeugungen und Glaubensweisen zugetan ist und auch aus deren Traditionen zu lernen vermag.

Persönliche und öffentliche Dimensionen von Spiritualität.

Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts stand im Mittelpunkt der Wahrnehmung zumindest in der Evangelischen Kirche die politische und soziale Verantwortung. Dass die Kirche sich seelsorgerlich um die Sorgen und Probleme der Einzelnen kümmert, dass sie durch diakonische Initiativen darauf reagiert und dass sie die Zeichen der Zeit auch in ihrer Verkündigung deutet – das war der vorrangige Aufgabenkatalog der Kirche.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die Prioritäten verschoben. Nun werden geistliche Kommunikationsmöglichkeiten  gesucht. Ausdrücklich wird die Erwartung geäußert, dass die Kirche Raum für Gebet, Stille und innere Zwiesprache bietet; so soll sie Wege zur Begegnung mit dem Heiligen schaffen. Solcher geistlichen Kommunikation sollen Verkündigung, Gottesdienst und Seelsorge dienen. Die Kirche wird dafür in Anspruch genommen, durch Übergangsrituale biographische Umbruchsituationen zu deuten und zu gestalten. Großes Gewicht hat die Pflicht der Kirche, Menschen in Krisen beizustehen und ihnen Wege aus äußerer wie innerer Not zu zeigen.

Die Verschiebung ist evident. Die politisch-soziale Aktion ist nicht in den Hintergrund getreten; aber es ist sichtbar geworden, dass sie eine Basis braucht. Diese wurde vernachlässigt; man lebte von der Substanz.

Die Verschiebung der Wahrnehmung und der Bedürfnisse spiegelt sich nicht nur in der Suche von Menschen, denen die gewohnte kirchliche Frömmigkeit unvertraut ist. Sondern neue Suchbewegungen zeigen sich auch im Kernbereich der christlichen Gemeinden und in der kirchlichen Mitarbeiterschaft. Man sucht nach Gestaltungsmöglichkeiten im zerrissenen, oft fremdbestimmten Tageslauf, man meldet sich in den entsprechenden Häusern zu Zeiten der Meditation und Stille an, vor allem aber erhofft man eine heilende Wirkung der persönlichen Spiritualität auf das berufliche und private Leben. Es geht um „Futter für die Seele“, um die Zufuhr geistlicher Energie, die ebenso nötig ist wie die täglichen Mahlzeiten.

„Gott, lass dein Heil uns schauen, / auf nichts Vergänglichs trauen, / nicht Eitelkeit uns freun; / lass uns einfältig werden / und vor dir hier auf Erden / wie Kinder fromm und fröhlich sein.“ Matthias Claudius hat Quelle und Perspektive evangelischer Spiritualität unnachahmlich beschrieben. Bischöfin Maria Jepsen zitiert diese Strophe und erinnert, gut protestantisch, daran, dass die Sorge für „den kranken Nachbarn“ zur christlichen Spiritualität dazugehöre; mit ihm beendet Matthias Claudius sein Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“, aus dem ich gerade zitierte: „Verschon uns, Gott, mit Strafen / und lass uns ruhig schlafen. / Und unsern kranken Nachbarn auch!“

Zu den Neuanfängen christlicher Spiritualität wird es gehören, von denen zu lernen, die mit den Formen christlicher Frömmigkeit vertraut geblieben sind. Das einfache Alphabet der Frömmigkeit lernen wir am leichtesten, indem wir uns den Erfahrungen derer anschließen, die in diesem Alphabet geübt sind. Fulbert Steffensky sagt dazu: „Es ist tröstlich zu wissen, dass das eigene Haus Schätze der Weisheit birgt und dass wir nicht völlig angewiesen sind auf die Spiritualitätskonzeptionen aus anderen religiösen Gegenden. Es ist schön, wenn man über den eigenen Tellerrand schauen kann und die Schätze der anderen nicht verachten und sich selber als einzigartig erklären muss. Komisch aber wirkt man, wenn man nur in den Vorgärten der Fremden grast und der eigenen Tradition nichts zutraut. Wenn man weiß, was die eigenen Schätze sind, dann kann man sich in Freiheit und Gelassenheit den fremden zuwenden.“

Erwachsen werden und Kind bleiben. Besorgte Kultursoziologen stellen fest: Es gibt in unserer Gesellschaft eine Weigerung, erwachsen zu werden. Das zeigt sich an dem Wunsch, so lange wie möglich in der elterlichen Wohnung zu bleiben; es zeigt sich an langen Ausbildungszeiten, an der Ausweitung der Jugendkultur bis in das dritte Lebensjahrzehnt und an der späten, oft zu späten Bereitschaft, sich auf eigene Kinder einzulassen. Oder auch an der lebenslangen Erwartung, andere hätten für das Gelingen des Lebens zu sorgen, vor allem der Staat; der Staat als Vater oder Mutter, die man gelegentlich hintergeht, gegen die man pubertär rebelliert und von denen man doch alles erwartet. Erfüllt der Staat diese Erwartungen nicht, wendet man sich enttäuscht ab und resigniert.

So sehr man solche Haltungen kritisieren mag: Kind zu sein, sich anzuvertrauen, sich fallen zu lassen, andere in der Verantwortung zu wissen, bleibt eine tiefe Sehnsucht auch im Leben von Erwachsenen. Sie hat ihr Recht. Sie ist ein Kontrapunkt zu den Herausforderungen des Lebens, auf die man mit selbstständigen Entscheidungen und der Übernahme von Verantwortung für sich und für andere reagieren muss.

Die offene Frage heißt: Wo bin ich Kind, wo Erwachsener? Christliche Spiritualität ist eine Antwort: Versteh dich als Kind Gottes. Lass ihm die letzte Verantwortung. Versteh dich ihm gegenüber als der Nehmende. Von ihm empfängst du Impulse und Kraft für die andere Seite deines Seins, für das Erwachsensein.

Ein vergleichbares Phänomen wie die Flucht aus dem Erwachsensein ist die verbreitete Neigung, Öffentlichkeit zu suchen, nach Möglichkeit Fernsehöffentlichkeit. Man will gesehen werden. Manche sind süchtig danach.

Dass jemand mich wahrnimmt, sich zu mir verhält, sei es anerkennend, sei es kritisch, ist für mein Selbstverständnis und für mein Selbstbewusstsein wichtig. Wenn niemand mich sieht, wer bin ich dann? Das galt immer schon, das ist ein Aspekt des Menschen als „politisches Tier“, als soziales Wesen. Doch was schützt mich davor, von dieser Sehnsucht nach Anerkennung und deshalb auch von der Öffentlichkeit abhängig zu werden?

Es gibt einen solchen Schutz: das Bewusstsein, dass Gott mich sieht, mich ernst nimmt, sich zu mir verhält. Deshalb ist die Geborgenheit in Gott eine Bedingung gelebter Freiheit. Wer diesen Zusammenhang in sein Innerstes aufgenommen hat, für den wird der Glaube zum Teil der eigenen Vernunft, der eigenen Sinne, der eigenen Leiblichkeit, des eigenen Verhaltens. Er hat eine spirituelle Heimat gefunden.

Demgegenüber ist die Verweigerung des Erwachsenseins Ausdruck einer spirituellen Heimatlosigkeit. In der Sucht nach Öffentlichkeit drückt sich das Fehlen einer Anerkennungserfahrung in der Tiefe aus.  Spiritualität dagegen ist zugelassenes Kindsein, das aus der Quelle des Lebens schöpft. Weil sie erwachsen werden lässt, kann sie das gesellschaftliche Leben prägen und öffentliche Bedeutung erhalten. Sie kann dabei helfen, in Gesellschaft und Öffentlichkeit Verantwortung zu übernehmen, ohne sich dabei von der Frage beherrschen zu lassen, ob man dabei selbst gut zur Geltung kommt.

Einatmen und Ausatmen. Der fromme Württemberger Christoph Blumhardt d.Ä. (1805-1880) sagte einmal: „Der Mensch muss sich zweimal bekehren, einmal vom natürlichen zum geistlichen Menschen und dann vom geistlichen zum natürlichen Menschen.“ Christliche Spiritualität hat es mit diesem Doppelschritt zu tun, mit diesem Einatmen und Ausatmen, mit dieser Zuwendung zur Mitte wie der Rückkehr zur Weite des Lebens. Sie verhilft uns dazu, in der Wirklichkeit Gottes Einkehr zu halten und dadurch in der Wirklichkeit unserer Welt anzukommen. Diese Spiritualität erfüllt sich nicht darin, dass wir uns selbst wohlfühlen, indem wir unserer religiösen Wellness einen Dienst tun. Sie ist nicht der Spiegel eines selbstverliebten Individualismus. Denn der Glaube, der uns mit Gott verbindet, weist uns auch aneinander. Für christliche Spiritualität ist es kein Selbstzweck, sich fremde religiöse Formen auszuborgen. Sondern sie achtet die Schätze, die ihr im christlichen Glauben anvertraut sind, und gewinnt daraus die Weite, auch die Schätze anderer zu würdigen.

Worum es in christlicher Spiritualität geht, lässt sich an einer Aussage des Apostels Paulus ablesen, die das Verhältnis zwischen Gottes Geist und unserem Geist zum Thema hat. „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. ... Desgleichen hilft der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen“ (Römer 8,14-16.26).

Nicht um unseren Geist geht es also in evangelischer Spiritualität, sondern um den Geist Gottes.

Die Gemeinde und die Grenzen der vertrauten Sprache. Keine Gemeinde wirkt nur nach innen; jede Gemeinde wirkt auch nach außen. Es gibt Situationen, bei denen das besonders offenkundig wird. Beerdigungen gehören dazu, die herausgehobenen Anlässe des Jahreslaufs – Erntedank oder Weihnachten – ebenso. Öffentlich aufwühlende Ereignisse nötigen Gemeinden dazu, über ihre Grenzen hinaus zu sprechen und zu beten. Menschen leihen sich in solchen Situationen die Sprache des Glaubens. Sie legen sich, wie Fulbert Steffensky das genannt hat, „für eine Stunde Masken des Glaubens an im Beten der Psalmen und des Vaterunser“.  So schwer die Anlässe auch sein mögen, aus denen das geschieht, sie bieten Grund zur Dankbarkeit für die Sprache, die den Glaubenden anvertraut ist und die andere sich aus solchen Anlässen borgen. Denn jeder Mensch braucht für die Trauer eine Sprache, die er nicht selbst erfinden muss; mit schweren Ereignissen können wir Menschen nur umgehen, wenn wir die Hilfe des Ritus annehmen.

Aber anderen borgen können wir nur, wenn wir selbst etwas haben. Frühere Generationen standen in der Gefahr, den Glauben und die religiöse Sprache als einen selbstverständlichen Besitz anzusehen. Unsere heutige Gefahr ist die Flucht aus dem, was uns anvertraut ist. Oder noch einmal mit Fulbert Steffensky gesagt: „Es gibt einen neuen Feind: dass wir uns selber nicht mehr deutlich sind und dass wir unsere eigene Deutlichkeit weder wollen noch schätzen.“ Es ist wohlfeil geworden zu behaupten, die alte Sprache des Glaubens trage nicht mehr. Trotz gegenteiliger Erfahrungen halten viele an dieser Behauptung fest. Das geschieht aber nicht in dem Bemühen, die überlieferte Sprache mit der Situation der Gegenwart zusammenzusprechen. Sondern es geschieht eher in einer Fluchtbewegung, in einer Flucht vor sich selbst. Sie aber ist eine Form des Unglaubens.

Damit, dass Menschen sich die Sprache des Glaubens leihen, haben sie sich diese Sprache noch nicht zu Eigen gemacht. Für die allermeisten Christen gilt freilich, dass sie dieser Sprache und auch dem Ort, an dem sie gesprochen wird, in verschiedenen Phasen ihres Lebens unterschiedlich nahe sind. Aber das große Glück eines Lebens als Christ besteht in der Gewissheit, dass in dieser Sprache und in der Wirklichkeit des gnädigen Gottes, auf die sie hinweist, der wahre und einzige Trost im Leben und im Sterben liegt.  Deshalb kann sich eine christliche Gemeinde nicht damit zufrieden geben, dass andere sich diese Sprache auf Zeit leihen. Und es muss sie erst recht beunruhigen, dass es Menschen gibt, denen diese Sprache und die Wirklichkeit Gottes vollständig fremd bleiben. Keine Gemeinde kann sich deshalb der missionarischen Aufgabe entziehen, vor der sie steht. So unterschiedlich die Bedingungen auch sind, unter denen christliche Gemeinden heute ihren Aufgaben nachkommen: der missionarische Auftrag ist ihnen gemeinsam.

Dieser Auftrag muss auf die jeweils aktuelle Situation bezogen werden. In vielen Teilen Deutschlands – keineswegs nur im Osten – ist diese Situation unter anderem dadurch bestimmt, dass die Menschen die Kirche zwar massenhaft verlassen haben, aber nur als einzelne zurückzugewinnen sind. Freiheit aus Glauben bedeutet auch, dass zum Glauben nur in Freiheit gefunden werden kann. Deshalb trägt zeitgemäße Mission die Form des Dialogs, der offenen Kommunikation, des einladenden Gesprächs. Von einem missionarischen Impuls muss das normale gemeindliche Leben ebenso geprägt sein wie die Gruppe derjenigen Veranstaltungen, mit denen die Kirche sich in einer größeren Öffentlichkeit als eine offene und öffentliche Kirche bemerkbar macht. Entscheidend ist, dass eine Spiritualität zu spüren und wahrzunehmen ist, die Menschen einlädt und gewinnt.

Auch die Kirchenräume sind nicht nur Versammlungsorte derer, denen die christliche Botschaft vertraut ist. Ihnen eignet vielmehr eine spirituelle Ausstrahlung besonderer Art. Sie sind „Zeichen in der Zeit“. Sie sind – ganz im Sinn des mittelalterlichen „Gottesfriedens“ – dem Frieden verpflichtete Räume, die dem Dauerkampf des Alltags Oasen des Friedens entgegensetzen und eine andere Dimension des Lebens gegenwärtig machen.

Kirchen sind eine Heimat für alle Seelen. Sie sind Räume der Ewigkeit, nicht nur, weil das Wort Gottes hier gesprochen wird, sondern auch, weil durch Gebet und Gesang, durch Dank und Fürbitte, durch Taufe, Trauung und Beerdigung Menschen ihre Seelen vor Gott öffnen und so diesen Raum mit einer unsichtbaren Patina des Glaubens überziehen. Kirchenräume haben eine starke spirituelle Kraft, sie legen einen heilenden Verband um die Seele des Menschen, damit sie sich erholen kann. Sie verhelfen zur Stille, damit die Stimme des barmherzigen Gottes deutlich zu hören ist. Sie sind die herausgehobenen Orte, an denen sich der Dialog zwischen Kirche und Kultur, zwischen dem Glauben und der Kunst vollzieht. Dieser Dialog ist unentbehrlich, damit der Glaube sprachfähig bleibt. Dieser Dialog trägt zugleich den Charakter einer „indirekten Mission“; denn er eröffnet Menschen, die in anderen Sprachwelten zu Hause sind, den Zugang zur Botschaft des Evangeliums. Es gehört zu den verheißungsvollen Entwicklungen im Protestantismus, dass diese Bedeutung von Kirchenräumen neu erkannt und wahrgenommen wird.

V. Zum Schluss: Spiritualität und Mystik

„Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein.“ Dieses Wort Karl Rahners steht über den Überlegungen des heutigen Tages. Rahners Überlegungen zu diesem Thema sind nicht von jenem Begriff der Mystik geleitet, den Ernst Troeltsch zu Grunde legte, als er zwischen Kirche, Sekte und Mystik als den drei grundlegenden Sozialformen des Christentums unterschied. Rahner ging es nicht darum, jene Sozialform auszuzeichnen, die den Christen ganz auf seine Individualität, auf sein Einzelner-Sein festlegte. Vielmehr fragte Rahner, was die Mystik für „uns“ bedeutet, „die wir uns nicht Mystiker zu nennen wagen und die wir vielleicht aus den verschiedensten Gründen kein persönliches Verhältnis zu den enthusiastischen Bewegungen und Praxen finden können“.

Was meint Karl Rahner dann mit Mystik – und wie verhält sie sich zu dem, was wir jetzt unter dem Stichwort der Spiritualität besprochen haben? Ich sehe Rahners stärkste Aussagen in dem, was er zur „Mystik des Alltags“ sagt. Mystik, so sagt er, ereignet sich „immer schon mitten im Alltag ..., verborgen und unbenannt“, und ist „die Bedingung der Möglichkeit für die nüchternste und profane Alltagserfahrung“. Denn im Alltag erfahren wir uns als die Wesen, die wir sind, nämlich als selbsttranszendente Wesen. Wir Menschen sind, indem wir unseren Alltag zu meistern suchen, schon immer dabei, uns selbst zu transzendieren. Mystik in seinem Verständnist ist also das Innewerden der Selbsttranszendenz des Menschen.

Erkenntnis und Freiheit hebt Rahner als die beiden Momente hervor, in denen die unbegrenzte Weite unseres Geistes in allen Alltagsvollzügen schon immer mitgegeben ist. Deshalb besteht auch für den Christen, der ein „greifbares, kirchliches Leben führt“ , „das Letzte und Eigentümliche des christlichen Daseins darin ..., dass der Christ sich in das Mysterium hinein fallen lässt, das wir Gott nennen. ... Und insofern ist der Christ eben doch der Mensch schlechthin, der auch weiß, dass dieses Leben, das er vollzieht und von dessen Vollzug er weiß, sich auch dort ereignen kann, wo einer nicht explizit Christ ist und als solcher sich reflex erkennt.“

Heute freilich wird es nicht nur darauf ankommen, dass wir auch in demjenigen, der nicht Christ ist und sich nicht als solcher weiß, den Menschen als selbsttranszendentes Wesen wahrnehmen. Mindestens ebenso wichtig ist, dass Christen die Kraft zu einem christlichen Leben entwickeln und dadurch auch für andere als Christen erkennbar werden. Dafür ist aber eine gereifte Spiritualität und ein Leben im Rhythmus des Glaubens von großer, kaum zu überschätzender Bedeutung.