„Von der gemeinsamen Sicherheit zum gerechten Frieden - Die Friedensethik der EKD in den letzten 25 Jahren“ – Vortrag anlässlich der 12. Dietrich-Bonhoeffer-Vorlesung in Münster

Wolfgang Huber

Im Jahr 1981 erschien unter dem Titel „Frieden wahren, fördern und erneuern“ die für lange Zeit maßgebliche Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Ein Vierteljahrhundert später, im Jahr 2007, erschien die zweite, explizit als „Friedensdenkschrift“ gekennzeichnete Schrift des Rates der EKD. Sie trägt den Titel: “Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“. Obwohl Eva Senghaas-Knobloch und Hans-Richard Reuter an der Erarbeitung dieser Denkschrift unmittelbar und maßgeblich beteiligt waren, ist mir aus diesem Anlass die Aufgabe gestellt worden, die Entwicklung der Friedensethik der EKD in diesem Vierteljahrhundert nachzuzeichnen. Die Überschrift des Vortrags „Von der gemeinsamen Sicherheit zum gerechten Frieden“ rückt die Begriffe des Friedens und der Sicherheit ins Zentrum der Analyse.

Wer die friedensethische Entwicklung in der EKD in dem genannten Zeitraum rekonstruieren will, muss einerseits die gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen und geschichtlichen Zäsuren in den Blick nehmen, die sich seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ergeben haben. Er muss sich zugleich auf „Zwischenstationen“ beziehen können, an denen der Fortgang der kirchlichen Diskussion zwischen den beiden Denkschriften von 1981 und 2007 verdeutlicht werden kann. Dafür bieten sich in diesem Fall die beiden profilierten und umfangreichen Ausarbeitungen der Kammer für Öffentliche Verantwortung aus den Jahren 1994 und 2001 an, die unter dem Titel „Schritte auf dem Weg des Friedens: Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik“ (1994)  sowie „Friedensethik in der Bewährung: Eine Zwischenbilanz zu Schritte auf dem Weg des Friedens...́“ (2001) erschienen sind.

Zunächst werde ich deshalb die friedensethischen Grundlinien der Denkschrift aus dem Jahr 1981 nachzeichnen. Sodann sind die Grundgedanken von „Schritte auf dem Weg des Friedens“ und „Friedensethik in der Bewährung“ zu skizzieren. Anschließend ist die aktuelle Denkschrift aus dem Jahr 2007 vorzustellen. In einem abschließenden Teil dieses Vortrags werde ich erörtern, wo die evangelische Friedensethik heute steht.

„Frieden wahren, fördern und erneuern“ (1981)

Stellte die sogenannte „Ost-Denkschrift“ von 1965 das Präludium zur Entspannungs- und Versöhnungspolitik der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dar, so war die Denkschrift „Frieden wahren und fördern und erneuern“ ohne Zweifel ihr Postludium. Sie entstand nämlich vor dem Hintergrund einer tiefen Krise der Entspannungspolitik in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren.

Im Dezember 1979 hatte die NATO auf Anregung des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD) den sogenannten „NATO-Doppelbeschluss“ gefasst.  Er sah vor, falls Verhandlungen mit der Sowjetunion über den Abbau der neuen auf Westeuropa gerichteten Mittelstreckenraketen SS-20 scheitern würden, seitens der NATO eigene atomare Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Europa zu stationieren. Fast zeitgleich, um die Jahreswende 1979/80, marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein. Die Bevölkerung in Westdeutschland hatte das Gefühl, am Abgrund eines Krieges zu stehen. Angst und Unsicherheit führten dazu, dass sich in beiden deutschen Staaten der Protest – freilich unterschiedlicher verfasster und unterschiedlich breiter – Friedensbewegungen entwickelte. Die beiden großen Kirchen, insbesondere aber die evangelische Kirche, erwiesen sich als Nährboden dieser Friedensbewegung und des von ihr artikulierten Protests gegen den NATO-Doppelbeschluss.

In jenen Jahren wurde der Deutsche Evangelische Kirchentag zu einem öffentlichkeitswirksamen friedenspolitischen Forum. Auch formierten sich diesseits und jenseits der Berliner Mauer unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ zumeist christlich motivierte Friedensgruppen. Der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung nahm seinen Anfang.

In dem von Angst und Unsicherheit geprägten Wechsel von den siebziger zu den achtziger Jahren beauftragte der Rat der EKD die Kammer für Öffentliche Verantwortung unter Vorsitz des Münchner Sozialethikers Trutz Rendtorff mit einer grundsätzlichen Ausarbeitung zur Friedensfrage, die auf den aktuellen Problemkreis der Beendigung des Wettrüstens eingehen sollte. Die Denkschrift von 1981, an deren Entstehen ich selbst beteiligt war, war knapp gehalten, von systematischer Klarheit und gut lesbar. Sie erinnerte zunächst daran, dass die Christenheit dazu berufen ist, den Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern. Die Schrift machte deutlich, dass das Gebet für den Frieden und die vorrangig, aber nicht nur im Gottesdienst sich ereignende „Bildung für den Frieden“ grundlegende Aufgaben der Kirche sind. Sie betonte, dass aus der generellen Friedensverantwortung der Kirche auch eine politische Verantwortung für die Friedenssicherung abzuleiten ist. In der Zielrichtung aller christlichen Ethik liege der Friede, niemals aber der Krieg.  Krieg müsse vielmehr als das Scheitern von Politik betrachtet werden, und das Drohen mit Krieg sei keine verantwortbare Politik. Die EKD positionierte sich in der Denkschrift auch zur fortdauernden Geltung der sog. „Heidelberger Thesen“ aus dem Jahr 1959, in denen der Versuch, durch atomare Rüstung und durch Abschreckung einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine „heute noch mögliche christliche Handlungsweise“ anerkannt wurde. In diesem Sinne stehe auch die Formel des Kirchentags in Hannover 1967 vom „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ auch zu Beginn der achtziger Jahre noch in Geltung.

In Anknüpfung an Erkenntnisse der neueren Friedensforschung wird Frieden in der Denkschrift nicht als bloße Abwesenheit von Krieg, sondern als ein mehrdimensionaler Prozess verstanden. Dieser Prozess umfasst den Verzicht auf die gewaltsame Lösung zwischenstaatlicher Konflikte, die Beseitigung von Not und Elend, die Gewährleistung von Freiheit und Selbstbestimmung für die Völker, die Aufhebung rassischer oder sozialer Unterdrückung und Diskriminierung, die Gewährleistung der Menschenrechte sowie den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.

Liest man diese Ausführungen aus heutiger Perspektive, so ist zunächst einmal bemerkenswert, wie der wenige Jahre später sich etablierende „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“ in dieser Definition des Friedens im Kern bereits vorgeprägt ist. Vor allem fällt auf, dass die skizzierte prozessuale Konzeption des Friedens in der neuen Denkschrift des Rates der EKD aus dem Jahr 2007 in fast unveränderter Weise wieder auftaucht. Denn Frieden wird in der aktuellen Denkschrift definiert als ein Prozess, der „auf die Vermeidung von Gewaltanwendung, die Förderung von Freiheit und kultureller Vielfalt sowie auf den Abbau von Not gerichtet“ ist. Lediglich der Gedanke der kulturellen Vielfalt als ein besonderer Aspekt der multikulturell globalisierten Welt kommt in der Definition von 1981 noch nicht ausdrücklich vor. Die anderen genannten Dimensionen des prozessualen Friedensbegriffs aus beiden Definitionen entsprechen einander hingegen völlig. Kurz gesagt: Der irdische Friede wird in beiden Dokumenten fast identisch definiert.

Ein weiterer Gesichtspunkt, der schon die Denkschrift von 1981 kennzeichnet, ist die an Immanuel Kants Friedensschrift von 1795 anknüpfende Vorstellung, dass eine nachhaltige Friedensordnung nur als eine internationale Rechtsordnung etabliert werden kann. Frieden bedeutet nämlich, so die Denkschrift, die Übertragung rechts- und sozialstaatlicher Grundgedanken auf die internationale Ebene und den „Versuch, unvermeidliche Konflikte aufgrund international vereinbarter Regeln auszutragen“.

Wörtlich ist sodann die Rede von einem „gemeinsamen Konzept von Sicherheit“. Das ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Zum einen wird dem Begriff der Sicherheit in einer als politisch höchst unsicher erlebten Situation eine zentrale Bedeutung zugewiesen;  zum andern wird dieser Begriff durch die Beifügung des Adjektivs „gemeinsam“ profiliert. Allerdings spricht die Denkschrift noch nicht von „gemeinsamer Sicherheit“, sondern nur von einem „gemeinsamen Konzept von Sicherheit“. Aber die begriffliche und sachliche Nähe ist unübersehbar.

Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit als eine spezifisch europäische Weiterentwicklung des Konzepts der kollektiven Sicherheit wurde 1982, ein Jahr nach der Veröffentlichung der EKD-Denkschrift, im Bericht der Palme-Kommission über „Human Security“ zum ersten Mal vorgetragen. Vorausgegangen waren wichtige Anregungen von Egon Bahr, die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt aufgegriffen wurden.

Der Begriff der gemeinsamen Sicherheit (und der nicht nur verwandte, sondern nahezu synonyme Begriff der „Sicherheitspartnerschaft“) trug in den achtziger Jahren dazu bei, die krisenhaft erschütterte Entspannungspolitik zu erneuern und wieder zu stabilisieren. Entscheidend war, dass ab 1985 der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow dieses Konzept politisch aufnahm. Die achtziger Jahre standen somit insgesamt im Zeichen der „gemeinsamen Sicherheit“. Man wird insgesamt sagen können, dass schon die EKD-Friedensdenkschrift von 1981 auf diesen Begriff hinauslief und in ihm ihren konzeptionellen Zielpunkt hatte.

Nicht nur darin aber blieb sie wegweisend für die Zukunft, sondern auch im Stil ihrer Argumentation. Die EKD setzte in einer Situation, die von Konfrontation bestimmt war, auf die Überzeugungskraft der Argumente. Sie setzte auf die Bereitschaft zum Kompromiss und hoffte, es möge ihr gelingen, den „Sinn für Näherungslösungen“ zu stärken. Absolute, bekenntnishafte Äußerungen wie die Forderung des Moderamens des Reformierten Bundes im Jahr 1982, in der gegenwärtigen atomaren Bedrohungssituation müsse der „status confessionis“ ausgerufen werden, wurden von der EKD nicht vertreten.

„Frieden wahren, fördern und erneuern“ erwies sich darin als klassische Denkschrift, dass sie versuchte, zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens in der Friedensfrage beizutragen. Ob es allerdings gelungen ist, mit dieser Denkschrift zur inneren Befriedung der Gesellschaft (oder auch nur der evangelischen Kirche) beizutragen, kann man bezweifeln. Die heftigen Proteste und Auseinandersetzungen um die Nachrüstungsfrage bis Mitte der achtziger Jahre weisen eher in eine andere Richtung. Etwas anderes war auch kaum zu erwarten. Denn auch im Hintergrund der Denkschrift selbst blieb eine Hauptdifferenz bestehen. Sie betraf die Frage nach den zentralen Ursachen für die Gefährdung des Friedens. Kurz nach der Veröffentlichung der Denkschrift beschrieb ich selbst 1982 bei einer Tagung des Internationalen Bonhoeffer Komitees zum Friedensthema diese Hauptdifferenz folgendermaßen: „Die einen sagen: die Entstehung von Ungleichgewichten gefährdet den Frieden. Die anderen entgegnen: die Fortsetzung des Wettrüstens bildet die entscheidende Friedens- und Überlebensgefährdung. Mit diesen unterschiedlichen Situationswahrnehmungen verbinden sich unterschiedliche Handlungsoptionen: die einen folgen der herrschenden Praxis, nämlich der Herstellung von ‚Gleichgewicht’ durch Wettrüsten mit flankierenden rüstungskontrollpolitischen Maßnahmen (kooperative Rüstungssteuerung ...); die anderen fordern den Einstieg in eine effektive Abrüstung durch kalkulierte einseitige Schritte, verbunden mit einer defensiven Umrüstung und vor allem: verbunden mit einer neuen Entspannungspolitik.“

Trotz dieser fortbestehenden Differenz gewann der Begriff der „gemeinsamen Sicherheit“ zentrale  Bedeutung. In der von Hans-Richard Reuter und mir im Jahr 1990 veröffentlichten „Friedensethik“, in der wir den Ertrag der friedenspolitischen Diskussionen der Achtzigerjahre zu bündeln versuchten, erscheint das Konzept der gemeinsamen Sicherheit als eine mögliche realpolitische Alternative zur Logik der Aufrüstung allgemein und der atomaren Aufrüstung speziell.

„Schritte auf dem Weg des Friedens“ (1994)

1989/90 kam es zu einer weltpolitisch einmaligen historischen Zäsur. Der Kalte Krieg endete, der Ostblock und sein Kernland, die Sowjetunion, lösten sich auf und in Deutschland fiel die Berliner Mauer. Aus zwei deutschen Staaten wurde ein Staat. Die Zeitgeschichtlerin Katharina Kunter hat diesen Umbruch im Blick auf die evangelischen Kirchen in Deutschland unter der Überschrift „Erfüllte Hoffnungen und zerbrochene Träume“ ebenso genau wie einfühlsam nachgezeichnet. Für eine Mehrheit der Menschen in Deutschland realisierten sich nämlich 1990 lange gehegte Hoffnungen, die auf Freiheit und Selbstbestimmung bezogen waren. Für eine Minderheit zerbrachen dagegen wichtige Träume, indem die Hoffnung auf einen reformfähigen und menschenfreundlichen Sozialismus verschwand.

Vor diesem Hintergrund und somit wiederum als Reaktion auf eine weltgeschichtliche Veränderung ist die Entstehung des EKD-Textes „Schritte auf dem Weg des Friedens: Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik“ zu verstehen. Aus heutiger Sicht wäre es vielleicht kirchenpolitisch klug gewesen, diesen Text als „Denkschrift“ zu bezeichnen, weil es dann nicht in den späten neunziger Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends immer wieder zu Nachfragen gekommen wäre, warum die EKD denn auf die neue weltpolitische Situation seit 1989 noch immer nicht mit einer neuen Denkschrift reagiert habe. Sie hat dies faktisch getan; allerdings hat sie der ebenso grundsätzlichen wie umfassenden Ausarbeitung des Jahres 1994 nicht den Titel „Denkschrift“ verliehen. Vielleicht spielte dabei die Überlegung eine Rolle, man könne in der im Fluss begriffenen weltpolitischen Situation, für deren Unsicherheit die Entwicklungen auf dem Balkan ein besonders deutliches Indiz waren, noch nichts Gültiges (oder gar Endgültiges) zum Friedensthema sagen.

Wenn man die Liste der Mitglieder der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Jahre 1981 und 1994 vergleicht, so fällt einerseits ein erhebliches Maß an personeller Kontinuität auf. Der Kammervorsitzende hieß auch 1994 noch immer Trutz Rendtorff. Auch ich selbst war an der Entstehung des neuen Textes – gerade eben noch – als Mitglied der Kammer beteiligt. Andererseits wirkten seit Anfang der neunziger Jahre in der Kammer für Öffentliche Verantwortung natürlich auch ostdeutsche Protestanten mit. Eine besondere Rolle spielten Martin Kramer aus Magdeburg, der das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden bekleidete, sowie Heino Falcke aus Erfurt. Aber auch die Namen Reinhard Höppner (Magdeburg), Walter Romberg (Berlin), Christine Lieberknecht (Erfurt) und Christine Weiske (Zepernick) sind zu nennen. Die Integration der Vertreter der ostdeutschen Kirchen in der bundesrepublikanisch geprägten Kammer für Öffentliche Verantwortung stellte eine besondere Herausforderung dar, vor allem in friedensethischer Hinsicht. In der Aufgabe, das Zusammenwachsen von Kirche wie Staat im vereinigten Deutschland zu fördern, liegt der eigentliche „Sitz im Leben“ der friedensethischen und friedenspolitischen Orientierungspunkte des Rates. Auch den Bezug auf die gerade in jenen Jahren außerordentlich lebendige Debatte über die Zukunft der Militärseelsorge muss man in diesem Zusammenhang nennen.

Trutz Rendtorff bezeichnete es daher als wichtige Absicht der Schrift, sie wolle: „einen Beitrag der Kirche leisten zur inneren Vereinigung Deutschlands“. Sie ist daher vor allem ein kontextgebundener Beitrag zur Lehre vom gerechten Frieden im Zeitalter der Globalisierung.

Der Begriff des gerechten Friedens taucht in der Schrift bereits ausdrücklich auf, und zwar in bewusster Anknüpfung an die Traditionen der DDR-Kirchen: „In der Friedensdenkschrift von 1981 heißt es programmatisch: ‚Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg.’ Dem entspricht es, wenn die Kirchen in der DDR auf der ökumenischen Versammlung von 1988 in Abkehr vom Gedanken des ‚gerechten Krieges’ die Entwicklung einer ‚Lehre vom gerechten Frieden’ angemahnt haben. Die grundsätzliche Ächtung des Krieges als Form zwischenstaatlichen Konfliktaustrags und als Mittel zur Durchsetzung partikularer politischer Ziele, wie sie völkerrechtlichem Standard entspricht, ist ein fester Bestandteil evangelischer Friedensethik.“

Mit diesen Worten wird eine Entsprechung zwischen der Friedensethik der EKD und der Friedensethik des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR behauptet. In der Tat gab es damals bedeutende friedensethische Gemeinsamkeiten; aber man darf auch die Unterschiede nicht übersehen. Denn die DDR-Kirchen standen aufgrund ihrer besonderen Situation dem Staat als Friedensakteur sehr viel kritischer gegenüber als die Kirchen im Bereich der Bundesrepublik Deutschland. Und ohne Zweifel standen die DDR-Kirchen auch dem christlichen Pazifismus näher als ihr westlicher Partner. Mit dem Entsprechungspostulat verbindet sich aber – und das ist das Entscheidende – die Absicht, als Leitbegriff künftiger evangelischer Friedensethik die Formel vom „gerechten Frieden“ zu verwenden. Spätestens seit 1994 steht für die EKD fest: Eine künftige evangelische Friedensethik wird vom Begriff des gerechten Friedens ausgehen müssen.

Folgerichtig grenzte sich die Schrift von 1994 deutlich vom Konzept des gerechten Krieges ab. Denn wer den gerechten Frieden will, kann den gerechten Krieg nicht mehr als Leitbegriff gelten lassen. Jedoch verleugnete die EKD nicht, dass die christliche Friedensethik durch das Konzept des gerechten Krieges, vor allem in kriteriologischer Hinsicht, wesentliche Anstöße erhalten hat. In der Summe bleibt das Urteil der EKD jedoch klar: „Führen die skizzierten Grundlinien einer evangelischen Friedensethik geradenwegs zur Wiederbelebung der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg? Dies ist keineswegs der Fall.“

Bereits in dieser Schrift von 1994 wird die Frage der „humanitären Intervention“ ausführlich erörtert. Den Hintergrund bilden die bereits Anfang der neunziger Jahre gewaltsam ausgetragenen Konflikte auf dem Balkan, aber auch Spannungen, Krisen und Kriege in anderen Erdteilen, vor allem in Afrika. Srebenica (1995) allerdings hat noch nicht stattgefunden; und auch der Kosovokrieg (1999) liegt noch in der Zukunft. Die Schrift erörtert Kriterien für eine mögliche Legitimät „humanitärer Interventionen“, verbindet das aber bereits mit einer, freilich moderaten Infragestellung der humanitären Rhetorik. Aber erst 2001 sollte die EKD den Begriff der „humanitären Intervention“ selbst aufgrund der Erfahrungen mit dem Kosovo-Krieg grundsätzlich befragen und sich damit von der Konzeption des Jahres 1994 deutlich distanzieren.

Im Vordergrund aber steht der Ausbau von Wegen und Instrumenten der zivilen Konfliktbearbeitung. Christlich inspirierte zivile Friedens- und Entwicklungsdienste haben für die Praxis des Friedens eine Schlüsselbedeutung. Dabei sind sie zumindest als Ergänzung der militärischen Friedenssicherung zu denken; aus pazifistischer Sicht gelten sie als Alternative dazu.

Neu ist dieser Ansatz nicht. Bereits in der Thesenreihe „Der Friedensdienst der Christen“ (1969) wurde der „Ausbau der Friedensdienste“ gefordert. Und in „Frieden wahren, fördern und erneuern“ (1981) wurden als Beispiele christlichen Friedensengagements „Ohne Rüstung leben“ und „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ porträtiert. Aber so klar, so ausführlich und so konkret wie 1994 hatte die EKD sich zuvor noch nicht zur Thematik der zivilen Friedensdienste geäußert.

Diese Initiative der EKD blieb nicht ohne politische Resonanz: Denn die von den Kirchen und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren gesetzten Impulse auf dem Feld der zivilen Konfliktbearbeitung wurden nach zähen Vorbereitungskämpfen während der Regierung Kohl seit dem Regierungswechsel von 1998 aufgenommen und in ein gezieltes Förderprogramm umgesetzt. Im Jahr 2004 wurde dann der Aktionsplan der Bundesregierung „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ vorgestellt. Die EKD-Schrift von 1994 hat für diese Entwicklungen aus meiner Sicht ebenso gefördert wie die Aktivitäten aus einzelnen Landeskirchen oder die Arbeit des Forums Ziviler Friedensdienst.

„Friedensethik in der Bewährung“ (2001)

Wie eng die friedensethischen und friedenspolitischen Grundsatzäußerungen der EKD mit der zeitgeschichtlichen Situation, in der sie jeweils entstehen, verwoben sind und wie schnell solche Äußerungen durch aktuelle Ereignisse in Frage gestellt oder sogar obsolet werden können, zeigt die Veröffentlichung des Jahres 2001, nämlich der knappe Text: “Friedensethik in der Bewährung“. Dieser Text wurde in den Jahren 2000/01 von der Kammer für Öffentliche Verantwortung unter ihrem neuen Vorsitzenden Wilfried Härle erarbeitet. In Auftrag gegeben hatte ihn der Rat der EKD nach einigem Drängen der EKD-Synode, die im Gefolge des Kosovo-Krieges 1999 eine Aktualisierung der evangelischen Friedensethik, am besten in Form einer umfassenden Denkschrift, wünschte. Schon damals verband sich das mit der Frage, ob der Rat und andere kirchliche Sprecher eigentlich konsistent auf den Ausbruch des Kosovokriegs reagiert hatten. Entweder, so wurde argumentiert, hatte man nicht konsequent von den Kriterien des Jahres 1994 Gebrauch gemacht. Oder die Position des Textes „Schritte auf dem Weg des Friedens“ reichte nicht zu.

Der Rat der EKD setzte zu dieser Zeit jedoch andere inhaltliche Schwerpunkte. Vor allem die bioethische Debatte bewegte ihn; die embryonale Stammzellenforschung, die Frage der Präimplantationsdiagnostik oder das Thema der Patientenverfügungen waren hoch umstritten. Entsprechend war die Kammer für Öffentliche Verantwortung vom Rat der EKD 1998 besetzt und auch instruiert worden. Sie sollte medizin- und bioethische Fragen bearbeiten;   die Friedensethik schien mit „Schritte auf dem Weg des Friedens“ einen hinreichend leistungsfähigen Bezugstext zu haben.

Um auf das wiederholt geäußerte Anliegen der Synode einzugehen, kam  das neue Arbeitsvorhaben in Gang. Schon dessen Titel „“Friedensethik in der Bewährung: Eine Zwischenbilanz zu Schritte auf dem Weg des Friedens...’˝ zeigt an, dass es sich um keine eigenständige Veröffentlichung handeln sollte, sondern lediglich um eine Art „Anhang“ zu dem Text von 1994. Sieht man diesen nicht als eine eigenständige Denkschrift, so muss man „Friedensethik in der Bewährung“ konsequenter Weise als einen Text dritter Ordnung werten, da er eine Kommentierung zu einem EKD-Text darstellt, der seinerseits auf einem friedensethischen Grundsatztext, nämlich der Denkschrift von 1981, beruht und auf ihm argumentativ aufbaut.

In der Tat kennzeichnet eine große Kontinuität die gedankliche Entwicklung dieser drei Texte. Immer wichtiger wird von Mal zu Mal dabei der Begriff des „gerechten Friedens“. Dass er im Titel der Schrift von 2001 wiederum nicht auftaucht, mag darin seinen Grund haben, dass die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz ein Jahr vorher ihr friedensethisches Hirtenwort unter der Überschrift „Gerechter Friede“ veröffentlicht und diesen Begriff für sich belegt hatte. Allerdings wird der gerechte Frieden in „Friedensethik in der Bewährung“ ausdrücklich als „Leitbegriff christlicher Friedensethik“ bezeichnet.  Und der verheißungsvolle Schlusssatz der Zwischenbilanz lautet: „Der Leitbegriff des gerechten Friedens dient dabei als Wegweiser für alle künftigen Schritte auf dem Weg des Friedens.“

Der Aufbau der kurzen Schrift ist sehr klar: In einem ersten Teil werden wichtige Veränderungen in der friedenspolitischen Lage und der friedensethischen Diskussion seit 1994 skizziert. Der zweite Hauptteil enthält „Unterstreichungen und Verdeutlichungen“. In ihm werden für die Kontinuität der evangelischen Friedensethik folgende Grundelemente genannt: der Begriff des gerechten Friedens, die These vom Vorrang nicht-militärischer Instrumente bei der Friedenssicherung, das Postulat des Ausbaus von Wegen der zivilen Konfliktbearbeitung, die Notwendigkeit der Stärkung der internationalen Friedensordnung als einer Rechtsordnung und der Gedanke, militärische Gewalt komme nur als „ultima ratio“ in Betracht, wobei dieser Begriff nicht zeitlich, sondern qualitativ zu deuten sei. „Ultima ratio“ bedeute somit: das äußerste Mittel; das müsse nicht in jedem Fall das zeitlich letzte Mittel sein.

In einem dritten Hauptteil wird verdeutlicht, an welchen Stellen die friedensethischen und friedenspolitischen Äußerungen früherer Jahre korrigiert oder jedenfalls auf einen aktuellen Stand gebracht werden müssen. So wird zum Beispiel massive Kritik an Begriffen wie „humanitäre Intervention“ oder „Kollateralschaden“ geübt, deren Semantik in höchstem Maße irreführend und problematisch sei. Sachlich werden die Kriterien für den Einsatz von militärischer Gewalt zur Durchsetzung des Rechts weiterentwickelt. So muss für die ethische Beurteilung von militärischen Nothilfemaßnahmen im internationalen Kontext immer auch „... geprüft werden, ob solche Maßnahmen letztendlich den Aufbau und die Weiterentwicklung einer internationalen Rechtsordnung eher stärken oder schwächen.“

Auch der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Gewaltanwendung wird neu zur Geltung gebracht; er stand ja bereits im Zentrum der klassischen Lehre vom gerechten Krieg. Ferner werden die Probleme verdeutlicht, die mit der bereits in den neunziger Jahren begonnenen Umorientierung der Bundeswehr, die heute als „Transformation“ bezeichnet wird, im Blick auf die grundgesetzlichen (verfassungsmäßigen) Grundlagen der Wehrpflicht und auch im Blick auf die Gewissenssituation der Soldatinnen und Soldaten verbunden sind.

Noch einmal wird die Situation der zivilen christlichen Friedensdienste in den Blick genommen, die sich durch die Programme der Bundesregierung seit 1998 zwar etwas verbessert hat, aber noch lange nicht optimal ist. Schließlich wird in einem Ausblick bekräftigt, dass der Einsatz militärischer Gewaltmittel allenfalls sehr eingeschränkte Erfolgsaussichten hat und dass die nachhaltige Sicherung und Förderung des Friedens von diesen Mitteln nicht zu erwarten ist. Die Schrift endet mit offenen Fragen, aber auch mit dem Hinweis auf die Leitperspektive des gerechten Friedens. Damit ist die Aufgabe künftiger Bemühungen implizit schon formuliert.

„Friedensethik in der Bewährung“ wurde vom Rat der EKD am 7./8. September zur Veröffentlichung freigegeben. Nur wenige Tage später, am 11. September 2001, ereigneten sich die Terrorangriffe in New York und Washington. Zwar behielt der vorgelegte Text auch nach den Terroranschlägen durchaus seinen Wert, so die Einschätzung des damaligen Ratsvorsitzenden Manfred Kock. Denn die Gefährdungen des Friedens seien auch künftig weder ausschließlich noch auch nur vorrangig terroristischer Natur. Dennoch enthielt der Text natürlich keine Ausführungen zum Phänomen des modernen internationalen Terrorismus; der Text wies also schon zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung erhebliche Lücken auf.

So wurde sehr rasch deutlich, dass es künftig für die EKD nicht mehr ausreichen würde, mit einem „Zwischenbescheid“ oder einem Text dritter Ordnung zu arbeiten. Die kirchliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit erwartete von der EKD vielmehr eine neue, grundsätzliche und umfassende Denkschrift zur Frage des Friedens.

Die Schrift von 2001 plädierte für einen erweiterten Sicherheits- und Friedensbegriff, der in der Trias von Konfliktprävention, Konfliktlösung und Konfliktnachsorge deutlich wurde. Es ging sowohl um die politische Bearbeitung tiefliegender Konflikte mit dem Ziel eines dauerhaften Friedens als auch um die Verhinderung krisenhaft gewaltträchtiger Zuspitzungen von konkreten Konfliktlagen.

Man kann den erweiterten Sicherheitsbegriff durchaus positiv interpretieren, etwa als Plädoyer für die zivilen Aspekte der Friedenssicherung oder als Grundlage für den Einsatz für eine gerechtere und bessere Welt, in der Armut und Not präventiv und programmatisch bekämpft werden sollen, damit der Friede wachsen kann. Andere Töne stimmt freilich das „Neue Strategische Konzept“ der NATO von 1999 an, in dem unter dem Stichwort „erweiterter Sicherheitsbegriff“ auch der Umgang mit Phänomenen wie Terrorismus, Sabotage und organisiertes Verbrechen sowie mit „der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“ verstanden wird. Soll das heißen: Wenn ein Staat der NATO den Zugriff auf seine Ölreserven verweigert, dann ist sie um ihrer Bündnissicherheit willen berechtigt, diesem Staat auch militärisch entgegen zu treten und gegebenenfalls den „Bündnisfall“ auszurufen? Der sogenannte „erweiterte Sicherheitsbegriff“ hat also seine Tücken. Wohl auch deshalb spielt er in der jüngsten Friedensdenkschrift keine Rolle mehr.

„Aus Gottes Frieden leben für gerechten Frieden sorgen“ (2007)

Im Herbst 2007 erschien nach dreijähriger Erarbeitung in der Kammer für Öffentliche Verantwortung die aktuelle Friedensdenkschrift des Rates der EKD. Die mir wichtigsten Grundlinien will ich knapp skizzieren.

Schon der Titel der Denkschrift zeigt, dass die Friedensthematik in einer doppelten Perspektive betrachtet wird. Die Formel „Aus Gottes Frieden leben“ verweist auf den unverfügbaren, transzendenten Grund des Friedenshandelns der Christenheit. Die Formel „Für gerechten Frieden sorgen“ nennt die innerweltliche, immanente Aufgabe des Friedenshandelns beim Namen. Beide Dimensionen werden in der Denkschrift als unauflösliche Einheit gedacht: Weil Christen aus Gottes Frieden leben, treten sie für den Frieden in der Welt ein.  Das Kapitel „Der Friedensbeitrag der Christen und der Kirche“ enthält nicht nur eine fundierte biblisch-theologische Begründung für das Friedensengagement der Christenheit, sondern macht von einer Phänomenologie des christlichen Gottesdienstes aus deutlich, wie der Einsatz für den Frieden in der Welt bereits in den Grundvollzügen der christlichen Existenz angelegt ist.

Der Begriff des „gerechten Friedens“ wird in der Denkschrift als Leitbegriff und als Zielperspektive der christlichen Friedensethik bezeichnet. Damit befindet sich die Denkschrift nicht nur in erfreulicher ökumenischer Übereinstimmung mit der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz; sondern sie steht vor allem in der Kontinuität ihres eigenen theologischen Ansatzes, wie der Rückblick auf die EKD-Texte der Jahre 1994 und 2001 gezeigt hat. Schon in diesen beiden Veröffentlichungen hätte man den Begriff des „gerechten Friedens“ in den Titel stellen und als Leitbegriff entfalten können. Dass es für die EKD kein Zurück zur klassischen Lehre vom gerechten Krieg geben kann, wird mit klaren Gründen ausgeführt. Ich habe mich an anderer Stelle ausführlich zu diesen Gründen geäußert; das brauche ich hier nicht zu wiederholen.

In der Denkschrift werden Grundsätze und Maximen vertreten, die ebenso einfach wie überzeugend sind: Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten. Wer aus dem Frieden Gottes lebt, tritt für den Frieden in der Welt ein. Gerechter Friede in der globalisierten Welt setzt den Ausbau der internationalen Rechtsordnung voraus. Staatliche Sicherheits- und Friedenspolitik muss von den Konzepten der „menschlichen Sicherheit“ und der „menschlichen Entwicklung“ her gedacht werden. Diese klaren Leitgedanken verbinden sich mit konkreten Handlungsoptionen. So ist etwa mit der geforderten Rechtsförmigkeit einer internationalen Friedensordnung der Anspruch verknüpft, dass diese Rechtsordnung dem Vorrang der zivilen Konfliktbearbeitung verpflichtet ist und die Anwendung von Zwangsmitteln an strenge ethische und völkerrechtliche Kriterien bindet. Durchgängig wird in der Denkschrift die Notwendigkeit der Prävention hervorgehoben; gewaltfreien Methoden der Konfliktbearbeitung wird der Vorrang zuerkannt; den zivilen Friedens- und Entwicklungsdiensten wird für die Wiederherstellung, Bewahrung und Förderung eines nachhaltigen Friedens eine wichtige Rolle zugeschrieben.

Das Konzept der „menschlichen Sicherheit“ tritt in Anknüpfung an von der UNO seit den neunziger Jahren erarbeitete friedenspolitische Konzepte ─ an die Stelle des Begriffs der „erweiterten Sicherheit“, der seinerseits ja den Begriff der „gemeinsamen Sicherheit“ ersetzt hatte. Allen drei Konzepten ist gemeinsam, dass sie einem bloß national verengten Sicherheitsbegriff widerstreiten und der Falle des sogenannten „realistischen Paradigmas“ der Friedenspolitik entgehen wollen, das immer vom Szenario des schlimmsten Falls (dem worst-case-Szenario) ausgeht.

Ohne Zweifel spielt der Sicherheitsbegriff in seinen verschiedenen Aspekten und mit seinen unterschiedlichen Konnotationen in den aktuellen friedenspolitischen Debatten eine zentrale Rolle. Das gilt nicht erst seit dem 11. September 2001. Seit diesem Datum aber wird die Diskussion sehr stark auf Bedrohungen durch den modernen internationalen Terrorismus fokussiert, bisweilen auch verengt. Das Spezifikum des Konzepts der „menschlichen Sicherheit“ besteht demgegenüber darin, dass es konsequent auf die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen in ihrem Alltagsleben abhebt und dabei auf der Idee beruht, „dass es zu den Aufgaben der Staaten und der internationalen Gemeinschaft gehört, die einzelnen Menschen sowohl vor Gewalt als auch vor Not zu schützen“.

Als Desiderat wird in der Denkschrift auch genannt, dass es für die Zukunft darauf ankomme, ein „friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept“ zu entwickeln.  Ein solches sei derzeit nicht zu erkennen, werde aber dringend benötigt. Denn nur in einem solchen Gesamtkonzept wird, das kann man erläuternd hinzufügen, der Begriff der (menschlichen) Sicherheit in Beziehung zum Friedensbegriff selbst gesetzt. Und im Rahmen eines solchen Konzeptes wird deutlich werden, dass vom Leitbegriff des gerechten Friedens aus gedacht werden muss und dass von ihm aus gesehen Konzepte wie das der menschlichen Sicherheit zwar ihren Stellenwert haben, aber selbst nur Konzepte von mittlerer Reichweite darstellen.

Wo steht die evangelische Friedensethik heute?

Wohin hat die Entwicklung der evangelischen Friedensethik im letzten Vierteljahrhundert geführt und vor welchen Herausforderungen stehen wir heute? Ich will sieben knappe Hinweise geben.

1. Dabei beginne ich mit der Feststellung, dass im Feld der Friedensethik die evangelische und die römisch-katholische Theologie, die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz sehr nahe beieinander stehen. Nicht auf allen Themenfeldern ist das ökumenische Einvernehmen der beiden großen Kirchen so groß und so deutlich wie in der Friedensethik. Für beide Kirchen gilt heute aber: Der Begriff des gerechten Friedens ist der Leitbegriff unserer Friedensethik. Er bezeichnet auch ihre Zielperspektive. Die klassische Lehre vom gerechten Krieg ist dagegen zu verabschieden. Zu ihr führt kein Weg zurück. Diese friedensethische Gemeinsamkeit der beiden großen Kirchen – jedenfalls in Deutschland – ist ein wichtiges Gut. Es ist zu hoffen, dass die Kirchen, wenn sie zu diesem Thema mit einer Stimme sprechen, vielleicht auch etwas leichter politisches Gehör finden könnten. Vorausgesetzt ist dabei, dass sie auch in der Anwendung ihrer Kriterien auf die konkrete Situation zu gemeinsamen Ergebnissen kommen. Das war im Fall des Irak-Krieges gegeben. Deshalb spielt er in der kritischen Auswertung der kirchlichen Friedensethik eine weitaus geringere Rolle als der Kosovo-Krieg.

2. Die von mir beschriebene Entwicklung ist ferner durch eine Theologisierung der Friedensdiskussion gekennzeichnet. Das ist ein durchaus ambivalenter Vorgang. Es gibt eine Theologisierung des Friedens, die zu Fundamentalismus und zur Legitimation von Gewaltanwendung führt. Aber es gibt auch eine Theologisierung des Friedensthemas, die auf der Fähigkeit zur Unterscheidung beruht und die Kraft zur Selbstkritik freisetzt. Es kommt also nicht nur auf eine Theologisierung als solche an. Worauf es ankommt ist, einfach gesagt, gute Theologie.

In der Entwicklung der Friedensethik der EKD wird Frieden zunächst nicht als ein Projekt, sondern als eine Gabe, er wird nicht als ein politisches Vorhaben, sondern als eine von Gott gegebene Wirklichkeit angesehen. Das verpflichtet immer wieder dazu, den Begriff des Friedens ganzheitlich und umfassend zu verstehen. Zugleich wird dadurch alles Wirken für den Frieden als antwortendes Handeln erkannt. Wahrgenommen wird auch, dass dieses Wirken bruchstückhaft bleibt und immer wieder neuen Anfechtungen ausgesetzt ist. Geschichtstranszendierende Hoffnung und nüchterner Wirklichkeitssinn verbinden sich in einer solchen Friedensethik miteinander.

Vor allem aber schärft der Blick auf den verheißenen göttlichen Frieden die Aufmerksamkeit dafür, wie weit die Kirchen selbst hinter dieser Verheißung zurückgeblieben sind. Die aktuelle Kritik an einer neuen Verbindung zwischen Religion und Gewalt hat ihre allein tragfähige Grundlage in einer selbstkritischen Reflexion der eigenen Gewaltgeschichte. Gerade im Blick auf ihre Friedensverantwortung erkennt die Kirche, dass sie die Rechtfertigung des Sünders nicht nur verkündet, sondern dass sie auch selbst dieser Rechtfertigung bedarf. Vielleicht erweist sich diese Kraft zur Selbstkritik als ein besonders wichtiger theologischer Beitrag zur friedensethischen Diskussion. Sie bildet die entscheidende Voraussetzung für die Einsicht, dass und warum Religion kein Grund für die Legitimation von Gewalt und die Förderung von Kriegsmentalitäten oder gar der Vorstellung von einem „heiligen Krieg“ sein darf.

3. Wie tragfähig ist der Begriff des „gerechten Friedens“? Nachdem die kirchlichen Friedensäußerungen sich so stark auf diesen Begriff konzentrieren, muss man diese Frage stellen. Er führt keineswegs zwangsläufig zu einer Ausweitung des Friedensverständnisses ins Unermessliche. Sondern er verhilft zu einer Präzisierung des Friedensverständnisses dergestalt, dass die anzustrebende globale Friedensordnung konsequent als eine Ordnung des Rechts verstanden wird, als eine Ordnung, so könnte man mit Dietrich Bonhoeffer sagen, in der weder ein Zuwenig noch ein Zuviel an Recht und Frieden verwirklicht ist. Die jüngste Friedensdenkschrift der EKD hat mit den vier Elementen der kollektiven Friedenssicherung, der universalen und unteilbaren Menschenrechte, der transnationalen sozialen Gerechtigkeit und der Ermöglichung kultureller Vielfalt wichtige Dimensionen eines gerechten Friedens beschrieben, der als Rechtsordnung verstanden ist.

4. Die friedensethische Diskussion des letzten Vierteljahrhunderts in Deutschland hat zu dem klaren Ergebnis geführt, dass dieser Begriff des gerechten Friedens sich mit der Weiterführung einer Lehre vom gerechten Krieg nicht verträgt. Ist dieses Ergebnis überzeugend? Ist es plausibel, obwohl in anderen Regionen und anderen konfessionellen oder religiösen Kulturen der Begriff des gerechten Krieges durchaus weiter verwendet wird? Besondere Beachtung verdient es in diesem Zusammenhang, dass das in den USA entwickelte Konzept des „Just Peacemaking“ die beiden friedensethischen Positionen des Pazifismus und des Gerechten Krieges nicht in Frage stellt, sondern voraussetzt und bestehen lässt.

Die Lehre vom gerechten Krieg ist an der Vorstellung von einer Rechtfertigungsfähigkeit des Krieges an Hand naturrechtlicher Maßstäbe orientiert. Beide Teile dieser Vorstellung sind uns abhanden gekommen. Wir glauben nicht mehr, dass der Krieg sich rechtfertigen lässt. Und wir rechnen nicht mit einer allgemeinen Anerkennung naturrechtlicher Maßstäbe. Dass in der neuzeitlichen Entwicklung die Denkfigur eines von beiden Seiten gerechten Krieges entwickelt wurde, zeigt vollends die Ambivalenz dieser Denkfigur.

Von ihr Abschied zu nehmen, bedeutet freilich nicht, die Kriterien, die in dieser Lehre entwickelt wurden, für obsolet zu erklären. Doch die Aussage, dass man sich nach den Regeln des Rechts unter Umständen an kriegerischer Gewaltanwendung beteiligen darf, ist etwas anderes, als den Krieg zu rechtfertigen. Deshalb verträgt sich eine klare Absage an die Lehre vom gerechten Krieg mit der Aufnahme ihrer Kriterien für die Klärung der Frage, ob militärische Gewalt zur Erhaltung des Rechts eingesetzt werden darf und wo die Grenzen solcher rechtserhaltender Gewalt zu ziehen sind. An die Stelle einer Lehre vom gerechten Krieg tritt also – das hat die jüngste Friedensdenkschrift der EKD besonders klar herausgearbeitet – eine Ethik rechtserhaltender Gewalt. Es wäre viel geholfen, wenn diese Unterscheidung öffentlich rezipiert und verstanden würde.

5.  Der Begriff der Sicherheit ob er als gemeinsame, als erweiterte oder als menschliche Sicherheit näher bestimmt wird ist nicht der entscheidende friedenspolitische Grundbegriff, sondern ein prinzipiell nachrangiges friedenspolitisches Interpretament. Keinesfalls darf der Sicherheitsbegriff auf die national-egoistische Sicherheitsperspektive einzelner Staaten oder Staatengruppen verengt werden. „Es gibt keinen Frieden auf dem Weg der Sicherheit“ (Dietrich Bonhoeffer). Dies gilt nicht nur, weil es illusionär wäre, an eine absolute Sicherheit im Sinne der Unverwundbarkeit zu glauben; Verletzlichkeit und Verwundbarkeit gehören zum Menschsein vielmehr dazu. Die Utopie einer absoluten Sicherheit ist deshalb gefährlich und zwar sowohl in friedenspolitischer Hinsicht als auch im Blick auf die innere Sicherheit von Staaten.  Jeder ideologischen Absolutsetzung von Sicherheit werden die Kirchen widerstehen; dass Sicherheitspolitik nicht gefährden darf, was sie doch schützen soll – nämlich einen Frieden in Freiheit – , werden die Kirchen immer wieder einschärfen. Nur in diesem Rahmen werden und können sie auf Sicherheitsbedürfnisse eingehen und zur Überwindung der Angst um die eigene Sicherheit beitragen. Gewissheit und Sicherheit voneinander zu unterscheiden, bildet einen wichtigen theologischen Beitrag zum nüchternen Umgang mit Sicherheit, ihrer Gefährdung wie ihrer Gewährleistung.

6. Charakteristisch für die Entwicklung der evangelischen Friedensethik in den letzten 25 Jahren ist es, dass sie an dem Zusammenhang von Friedensethik und Friedenspolitik festhält. Mit einer Reduzierung der Friedensethik auf allgemeine Prinzipien und der Überantwortung der Friedenspolitik an die praktisch Verantwortlichen findet sie sich nicht ab. Ein Beispiel für beharrliche Einmischung ist das Thema der Abrüstung und der Rüstungsexporte. Seit 1997 legt die Gemeinsame Konferenz für Kirche und Entwicklung (GKKE) jährlich einen detaillierten Rüstungsexportbericht vor. Er zeigt das kontinuierliche Ansteigen bundesdeutscher Rüstungsexporte. Den Kirchen ist es gerade an diesem Beispiel aufgegeben, auf eine größere Kohärenz friedensethischer und friedenspolitischer Art zu drängen.

Ähnliche Deutlichkeit ist im Blick auf die Drohung mit Massenvernichtungswaffen anzustreben. Die EKD hat in ihrer Denkschrift von 2007 bewusst den Abschied von der VIII. These der Heidelberger Thesen von 1959 vollzogen. Sie kann das „noch“ der Heidelberger Thesen in der Frage der Tolerierbarkeit der nuklearen Abschreckung in der gegenwärtigen Situation nicht mehr akzeptieren: „Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“  Auch wenn aus dieser friedensethischen Position einstweilen noch unterschiedliche friedenspolitische Konsequenzen gezogen werden, ist es doch bereits ein wichtiger Schritt, dass die Überwindung der nuklearen Abschreckung als Ziel der Friedenspolitik anerkannt wird.

Ebenso bildet – das sei noch einmal unterstrichen – auch der kontinuierliche Aufbau und Ausbau der Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung eine klare friedenspolitische Priorität.

7. Wer die Verbindung zwischen Friedensethik und Friedenspolitik festhalten will, muss sich allerdings in kategorischen Urteilen zurückhalten. Gerade die Friedensethik war jedoch traditionell durch ein besonders hohes Maß an – einander widersprechenden – kategorischen Urteilen geprägt. Das Beispiel einer Ethik der rechtserhaltenden Gewalt zeigt jedoch exemplarisch, dass man in diesem Feld sehr oft über hypothetische ethische Urteile nicht hinauskommt. Denn die ethische Erwägung ist abhängig von der Einschätzung der politischen Lage, von der Frage nach der Handlungsfähigkeit der international autorisierten Instanzen, von der Abschätzung, ob nichtmilitärische Möglichkeiten ausreichend genutzt wurden, oder von dem Urteil darüber, ob der Einsatz rechtserhaltender Gewalt für die Vorbereitung einer neuen Friedensordnung Raum schaffen kann. Wer immer sich auf solche Fragen einlässt, bewegt sich im Bereich hypothetischer Urteile. Er nimmt eine Unsicherheit in Kauf, die zu den untrüglichen Signalen verantwortlichen Handelns gehört. Er bewegt sich im Bereich der Schuldübernahme (Dietrich Bonhoeffer).

Die Kirche ist gut beraten, in ihrer Friedensethik die Brücke zur Friedenspolitik begehbar zu halten, aber sich nicht unnötig weit in den Bereich solcher hypothetischer Urteile vorzuwagen. Vor allem aber soll sie nicht hypothetische mit kategorischen Urteilen verwechseln und sich einbilden, dort mit letzter Autorität urteilen zu können, wo unser Wissen bruchstückhaft und unsere Einschätzung zukünftiger Entwicklungen ungewiss ist. Die evangelische Friedensethik leistet gerade dann einen wichtigen Beitrag zur Orientierung, wenn sie die Fähigkeit vermittelt, mit solchen Ungewissheiten  umzugehen.

Dafür ist nichts so wichtig wie die Unterscheidung zwischen dem Frieden Gottes und der Arbeit für den irdischen Frieden. Diese Unterscheidung hat sich in den letzten 25 Jahren immer deutlicher als der Kern evangelischer Friedensethik erwiesen.