Grußwort zur Enthüllung der Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus Adolf von Harnacks in der Berliner Fasanenstraße

Wolfgang Huber

Heute freuen wir uns darüber, dass an Adolf von Harnacks ehemaligem Wohnhaus eine Gedenktafel angebracht wird. Aber ehrlich währt am längsten. Deshalb das Eingeständnis vorneweg: Als Harnack 1888, damals siebenunddreißigjährig, nach Berlin berufen werden sollte, wurde er von der Evangelischen Kirche jener Zeit keineswegs enthusiastisch begrüßt. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Der Evangelische Oberkirchenrat machte schwerwiegende Bedenken gegen die Berufung geltend. Zu einer positiven Entscheidung kam es gleichwohl. Wilhelm II. wird in diesem Zusammenhang die Bemerkung zugeschrieben: „Ich will keine Mucker“. Und Otto von Bismarck trug diese Entscheidung wenig später die theologische Ehrendoktorwürde der Universität Gießen ein.
 
Freilich nicht nur der Oberkirchenrat hatte schwerste Bedenken gegen Harnacks Theologie. Sein eigener Vater bemerkte, er müsste Christus verleugnen, wenn er die Theologie des Sohnes anerkennen solle - und das könne nicht einmal der eigene Sohn von ihm verlangen.

Kaum war Harnack einige Jahre in Berlin, war er auch schon in eine der lebhaftesten kirchlichen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit verwickelt, in den Streit um die Geltung und die gottesdienstliche Verwendung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Das führte zur zur Errichtung einer zusätzlichen Professur an der Theologischen Fakultät, einer “Strafprofessur”, mit der freilich die Vertreter der Systematischen Theologie weit stärker bestraft wurden als der Kirchenhistoriker Harnack. Heute, Herr Präsident, wäre die theologische Fakultät vielleicht froh, wenigstens auf diese Weise zu einer weiteren Professur zu kommen. Doch damit rechnet heutzutage niemand mehr.

Harnack selbst ist freilich auch durch solche Konflikte nicht daran irre geworden, dass er mit seiner theologischen Forschung und Lehre der Kirche dienen wollte. Schon bald nach seinem Amtsantritt in Berlin hielt er fest: “Über die Bedeutung der theologischen Wissenschaft für die christliche Frömmigkeit kann man ... nicht bescheiden genug denken; aber nicht hoch genug kann man ihre Bedeutung veranschlagen in bezug auf den Ausbau der evangelischen Kirche, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Anbahnung jener besseren Zukunft, in welcher, wie einst im zweiten Jahrhundert, der christliche Glaube wieder der Trost der Schwachen und die Stärke der Starken sein wird.” Ich gebe zu: Diese Beschreibung einer besseren Zukunft für die Kirche gefällt mir - und deshalb ehre ich Adolf von Harnack gern, ja von Herzen.

Auch das muss man in Erinnerung behalten: Harnack trug in unvergleichlicher Weise zur kulturellen Präsenz der evangelischen Kirche in seiner Zeit bei. Und er setzte ein eindrucksvolles Beispiel für praktisches und praktiziertes Christentum. Von seiner Gründung im Jahr 1890 an prägte er den Evangelisch-Sozialen Kongress, dessen Präsident er in den Jahren 1903 bis 1911 war. Das waren Blütejahre des Kongresses, der in seiner Zeit das wichtigste Organ eines sozial engagierten Protestantismus gewesen ist. Er war darüber hinaus ein Diagnostiker seiner Zeit von erstaunlicher Klarsicht. Besonders bemerkenswert ist, wie er den Herrschenden während des Ersten Weltkriegs und danach die Leviten gelesen hat. So wählte er die Berliner Philharmonie als den Ort, an dem er am 1. August 1916, zwei Jahre nach Kriegsbeginn, die Profitgier der Kriegsindustrie anprangerte. Feige war er nicht. Von Zivilcourage verstand er etwas - selbst auf die Gefahr hin, dass sich die kaiserliche Gunst für einige Zeit von ihm abwandte.

Faszinierend ist, dass Harnack darüber hinaus beides zugleich war: ein herausragender Wissenschaftler und ein einzigartiger Wissenschaftsorganisator. Zeitdisziplin: so heißt die Antwort auf die Frage, wie er beides miteinander verbinden konnte. Er zeigt uns noch heute, wie es gelingen kann, Wissenschaft in größtmöglicher Unabhängigkeit zu treiben und mit Freimut zu verantworten.

Die Serie seiner großen wissenschaftlichen Leistungen wie seiner allgemeinverständlichen Schriften erspare ich Ihnen. Dass seine Vorlesungen über das „Wesen des Christentums“ zu seinen Lebzeiten in vierzehn Auflagen erschienen, spricht für sich selbst. Sein Wirken als Direktor der Staatsbibliothek wie als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der späteren Max-Planck-Gesellschaft, ist unvergessen.

Hier in der Fasanenstraße lebte mit Adolf von Harnack eine Persönlichkeit, die nicht gerade mit Scheu auf neue Herausforderungen reagierte. Als er jedoch 1921 das Angebot bekam, die Weimarer Republik als Botschafter in Washington zu vertreten, lehnte der inzwischen siebzigjährige Harnack dennoch ab. Von seiner Familie heißt es, dass sie in der Fasanenstraße zwanzig glückliche Jahre verlebte. Auch insofern befindet sich die Tafel am rechten Ort. Sie erinnert uns daran, wie glücklich wir sein können, dass Adolf von Harnack in dieser Stadt gewirkt und gelebt hat.