„Der Geist, das Geld und die Welt“ - Festvortrag zu „40 Jahre EDG“ in Kiel

Wolfgang Huber

Die Vergleiche sind gewaltig: an die Weltwirtschaftskrise von 1929  haben manche angesichts der Entwicklungen der vergangenen Woche erinnert. Ob man aus den damaligen Erschütterungen genug gelernt hat, ist ungewiss. Auf falsche Anreizsysteme wird verwiesen, als sei es nicht der Mensch, der handelt und sein Handeln zu verantworten hat. Michael Hüther, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, sagt beispielsweise, wie die Süddeutsche Zeitung heute meldet: „Der Finanzmarkt ist nicht aus Gier in Probleme geraten, die Gier ist lediglich auf falsche Anreizstrukturen getroffen.“ Der Maßlosigkeit der Gier entspricht die Maßlosigkeit des Schadens. 700 Milliarden Dollar sollen den Absturz auffangen; sogar in diesem Raum wage ich die Frage, wer sich solche Dimensionen wirklich vorzustellen vermag. Wo finden wir Menschen Halt und Mitte? Was hilft uns zur Einsicht in die eigenen Grenzen?

Mitten in den Turbulenzen des Bankgewerbes, die auch bis in den Bereich der Kirchenbanken ausstrahlen, halten wir inne und fragen nach klarer Orientierung in einer Zeit des Umbruchs. Geist, Geld und Welt – diese drei Eckpfeiler bestimmen meinen Beitrag zum Jubiläum der Evangelischen Darlehensgenossenschaft – je turbulenter die Zeiten, desto nachdrücklicher sind die guten Wünsche. Geist, Geld und Welt – mit diesen drei Begriffen markiere ich das Feld, das ich am heutigen Nachmittag abschreiten will. Dabei kennzeichnen alle drei Begriffe einen Grundzug unserer Gegenwart.

Die Menschen fragen wieder nach dem Geist, der sie bestimmt. Sie spüren die Kraft, die Macht und den Reiz des Geldes. Und sie merken, dass sich die Verantwortung für die Gestaltung der Welt nicht einfach an politische, wirtschaftliche oder andere gesellschaftliche Akteure delegieren lässt, sondern dass jede Bürgerin und jeder Bürger hier selbst gefordert ist.

I. Der Geist

Die Menschen fragen wieder nach dem Geist, der sie bestimmt. Sie interessieren sich wieder für die Wurzeln ihres Daseins. Sie suchen nach einer Antwort auf das, was im Leben trägt. Diejenigen unter uns, die sich für Glauben und Religion interessieren, spüren das unter anderem auch daran, dass Fragen der Religion wieder eine gewichtigere Rolle spielen. Prognosen der letzten Jahrzehnte zur Rolle der Religion haben sich als falsch erwiesen. In der als besonders säkular geltenden Stadt Berlin hat gestern ein Volksbegehren „Pro Reli“ begonnen, das dem Religionsunterricht einen ordentlichen Platz an Berlins Schulen erobern will – das hätte noch vor kurzem niemand für möglich gehalten. Der säkulare Glaubenssatz, dass Glaube und Religion ihre Zeit gehabt hätten, erweist sich als unzutreffend. Die Abgesänge auf das Christentum und auf die Religionen insgesamt erweisen sich als brüchig.

Denn wir merken: Für die geistigen und kulturellen Grundlagen des persönlichen Lebens wie unserer Gesellschaft bleibt das Christentum in der Verantwortung. Wir sind in eine multireligiöse Welt eingetreten; im Unterschied zu früheren Zeiten haben die verschiedenen Religionen nicht nur in verschiedenen Weltgegenden ihre Schwerpunkte, sondern treffen sich an ein und demselben Ort. Doch das mindert nicht die Relevanz der gegenwärtigen Verantwortung für die Prägekraft des christlichen Glaubens. Und auch die These, dass wir durch eine Epoche der Säkularisierung hindurchgegangen sind, mindert nicht die Aufgabe zu klären, was denn die Aufgabe gelebten und verantworteten Glaubens nach einer solchen Phase ist – die man übrigens nur dann wirklich zureichend beschreibt, wenn man ihre heilsamen Folgen festhält; zu ihnen gehört insbesondere die Säkularisierung der rechtlichen und staatlichen Ordnung, die Gewährleistung persönlicher Freiheit und der Aufbruch zu freier Forschung und Wissenschaft.

An solchen Errungenschaften und damit an der durch die Reformation errungenen Freiheit des Gewissens und an der durch die Aufklärung bekräftigten Freiheit der Vernunft halten wir gerade als evangelische Kirche bewusst fest. In der Richtung des Islam haben wir gerade heute deutlich zu machen, dass wir an dem säkularen Charakter der rechtlichen und staatlichen Ordnung nichts ändern wollen und nichts ändern lassen. Aber die Aussage des von mir ansonsten hoch geschätzten Jürgen Habermas, wir seien heute in ein postsäkulares Zeitalter eingetreten, ruft bei mir wie bei anderen die Gegenfrage auf, ob denn säkulares Zeitalter bedeutet, dass in den zurückliegenden zweihundert Jahren Glaube und Religion in unserer Gesellschaft vollständig verschwunden gewesen wären. Das ist nicht der Fall; sie waren präsent, und sie sind Gott sei Dank heute präsent und sehen sich neu gefragt. Neu gefragt auch hinsichtlich einer konstruktiven Verbindung zwischen Glauben und Vernunft.

Die neue Sensibilität für Religion ist keineswegs nur ein Ergebnis einer vermeintlichen Schwäche anderer Deutungsmuster der Moderne. Auch die Rolle der Kirchen selbst hat sich in Europa während der vergangenen zweihundert Jahre tiefgreifend gewandelt. Sie sind nicht mehr im selben Sinn eine staatlich gestützte geistliche Bestimmungsmacht. Sie sind darauf angewiesen, stärker darauf zu achten, was eigentlich der geistige und geistliche Gehalt dessen ist, was sie anderen Menschen weiterzugeben haben. Doch die Wirkungsgeschichte des Evangeliums dauert an, die Botschaft von Gottes Gnade wird verkündet, Menschen gründen ihr Leben im Glauben und lassen sich zu Taten der Liebe anstiften. Der Gedanke der christlichen Freiheit wirkt auch dort fort, wo ein Hinweis auf seine Wurzeln fehlt. Viele Gewächse der Moderne gedeihen auf einem jüdisch-christlichen Nährboden, ohne dass das allgemein bewusst ist. Dass Egoismus und Eigensucht nicht das letzte Wort haben, dass Solidarität, Zuwendung zum Nächsten oder Empathie mit den Leidenden Werte sind, ohne die eine Gesellschaft nicht leben kann, kurz gesagt, dass das Gleichnis vom barmherzigen Samariter Weltgeschichte geschrieben hat, das wird uns heute immer wieder bewusst. Der Gedanke der Menschenrechte, die Ausgestaltung des demokratischen Staates, die Orientierung gesellschaftlichen Handelns an Gerechtigkeit und Solidarität oder die Idee eines Europas der Versöhnung und des Friedens verdanken sich entscheidenden Impulsen des christlichen Glaubens und mit ihm der jüdischen Tradition. Auch deswegen gehört übrigens die Vorstellung, dass sich der Glaube in die Privatsphäre abschieben lasse und dass gesellschaftliches Zusammenleben ohne die öffentliche Erkennbarkeit von Religion und Glaube möglich sei, der Vergangenheit an.

II. Das Geld

Die Menschen spüren in besonderer Weise die Kraft und die Macht des Geldes. Über lange Zeit hat die Vorstellung von einer Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft das Denken geprägt. Das hat sich geändert. Damit, dass die Globalisierung die Wirtschaft wesentlich bestimmt, sind auch die Grundfragen ethischer Orientierung wieder verstärkt in den Vordergrund getreten; damit verbindet sich eine neue Aufmerksamkeit für die durchaus zwiespältige Wirkung, die vom Geld und der Verfügbarkeit des Geldes ausgeht.

Mit besonderer Dramatik tritt uns dies in der Krise der Bankwirtschaft entgegen. Bedauerlicherweise verschärft sich durch sie ein Vertrauensverlust, der die Wirtschaft insgesamt betrifft. Die Menschen ahnen, dass nicht nur das eigene Geld, sondern auch die eigene Lebensperspektive in Mitleidenschaft gezogen wird. Oder mit den Worten von STRIZZ in der heutigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Sie glauben, das habe mit uns nichts zu tun? Haha, Irrtum! One world, one Dollar, one Euro, one Spanplatte! Der Niedergang wird auch uns ... „ Auch in einer solchen Situation zeigt sich: Das Vertrauen der Menschen ist das entscheidende Kapital wirtschaftlichen Handelns. Langfristig wird es für jedes Unternehmen von Gewinn sein, wenn es als verlässlich und vertrauenswürdig gilt.

Banken unterliegen aufgrund ihrer Schlüsselstellung in den Finanzströmen einer besonderen Verantwortungspflicht. Die Denkschrift des Rates der EKD „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ vom Sommer dieses Jahres formuliert deshalb: „Vorwiegend an kurzfristiger Renditemaximierung orientierte[s] Verhalten der Marktteilnehmer widerspricht deutlich dem Prinzip nachhaltigen unternehmerischen Handelns. Banken haben sich ... aus ihrer Verantwortung gegenüber Einlegern und Kreditnehmern sowie aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung für die Stabilität des Finanzsystems gelöst. Anstelle einer besseren gesamtwirtschaftlichen Risikoverteilung haben sich die Verluste letztendlich bei den Banken konzentriert. Angesichts ihrer großen Bedeutung für die Unternehmensfinanzierung sind davon gravierende realwirtschaftliche Auswirkungen zu erwarten“ (S. 84). Es ist die vordringliche Aufgabe, Vertrauen in die Finanzmärkte wiederherzustellen.

Geld besitzt eine große Gestaltungskraft auf der einen, eine große Verführungsmacht auf der anderen Seite. Und es erweist sich geradezu als eine der schwierigsten Aufgaben in der gegenwärtigen Diskussion, beide Aspekte im Umgang mit dem Geld beieinander zu halten. Auf die Gestaltungskraft möchte niemand verzichten; die Verführungskraft aber zeigt sich unter anderem darin, dass Korruption, Betrug, hinterlistiger Umgang mit Geld, und inzwischen, zu unserem Entsetzen, das Ausspähen von Menschen keineswegs nur im Zusammenhang staatlicher Sicherheitspolitik, sondern ebenso im Auftrag eines Wirtschaftsunternehmens zur Realität in Deutschland gehören.

Die Spannungen zwischen den Erfordernissen der Globalisierung und dem Bemühen um eine neue Wertorientierung sind offenkundig. Offenkundig geworden sind sie insbesondere durch die Tatsache, dass die Globalisierung in einer wachsenden Eigenständigkeit durch Finanzmärkte und das Kreisen großer Finanzströme um die Welt geprägt wird. Geld gewinnt eine neue Funktion und Bedeutung. Mit diesem Aspekt der Globalisierung stellen sich neue wirtschaftliche, soziale und auch ethische Fragen, die mutige Entscheidungen erfordern.

Technologische Entwicklungen haben Zeit und Raum in nie gekannter Weise schrumpfen lassen. Wir leben nicht länger in geschlossenen Häusern, in denen wir unseren Geschäften nachgehen könnten. Fenster und Türen stehen offen, und der Wind weht herein. Entscheidungen, die irgendwo am anderen Ende der Welt getroffen werden, beeinflussen nachhaltig unser Leben. In der global vernetzten Wirtschaft konkurrieren die Länder und Regionen um die Ansiedlung von Unternehmen, um die Stärkung der eigenen Märkte wie um die Steigerung von Exportchancen, um ihren Anteil an den weltweiten Finanzströmen. Es gibt nicht mehr den großen Gegensatz zwischen der freien Marktwirtschaft und den Planwirtschaften, sondern es gibt nun eine Vielfalt von unterschiedlichen Kapitalismen und damit verbundenen wirtschafts- und sozialpolitischen Pfaden in die Zukunft. Es gibt eine neue Art von Benchmarking: Welcher Weg in Europa – der skandinavische, der angelsächsische, der südeuropäische oder der mitteleuropäische und deutsche Weg – erreicht einen hohen und gut verteilten Wohlstand für alle? Welcher Weg sichert den inneren Frieden und bietet Chancen auf Teilhabe von möglichst vielen seiner Bürger? Darüber gehen die Diskussionen – und zwar unter der Maßgabe einer ganz offenkundig dramatisch angewachsenen Macht des Geldes. Und diese Macht wird nicht nur unter den Gesichtspunkten der Gestaltungskraft und der Verführungskraft, sondern zugleich auch unter den Gesichtspunkten des Mangels erfahren. Die jüngst vorgestellten Zahlen des dritten Armutsberichts der Bundesregierung sprechen eine dramatische Sprache. 13% der Bundesbürger gelten als arm, 13% werden durch Leistungen wie Kinder- oder Arbeitslosengeld vor dem Abrutschen in die Armut bewahrt. Reist man durch Afrika, wie ich das in den letzten zwei Wochen getan habe, betrifft diese Armut nicht ein Siebtel, sondern die Hälfte der Bevölkerung – oder mehr. Und zwar auch dort mit wachsender Tendenz.

Neben anderen Faktoren bestimmen also auch die Auswirkungen der Globalisierung und die Situation wachsender Armut die Art und Weise, in der wir heute die Kraft und die Macht des Geldes erleben. Wir gewinnen deshalb ein neues Gespür dafür, dass ein komplett diesseitiges, rein wirtschaftstaumeliges und radikal konsumzentriertes Leben zu banal, zu äußerlich und zu oberflächlich ist. Je unerbittlicher die europäische Welt auf die globalisierte Wirtschaft ausgerichtet wird, je strikter Markt- und Finanzkraft, Lohnnebenkosten und Konkurrenzkampf das Leben aller bestimmen sollen, je fassungsloser wir vor den Berg- und Talfahrten der internationalen Finanzmärkte stehen, desto stärker wird nach Gegenkräften gefragt. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht.

III. Die Welt

Die Welt wird in der Moderne nicht nur als etwas erlebt, das uns vorgegeben ist und worin wir uns vorfinden, sondern die Welt wird neuzeitlich auch als Projekt erlebt, als Gestaltungsaufgabe. Der ursprüngliche Sinn des biblischen Schöpfungsverständnisses gewinnt dadurch eine aktuelle Bedeutung. Der Mensch ist, so sagt es die zweite der biblischen Schöpfungserzählungen, durch Gottes schöpferisches Handeln an einen Ort gestellt, den er „bebauen“ und „bewahren“ soll. Dieser Gedanke ist in der ersten Schöpfungserzählung sogar zu der Vorstellung gesteigert, es gebe so etwas wie eine Herrschaft des Menschen über die Natur. Der Gedanke wurde in der Neuzeit in das Selbstbewusstsein der Naturwissenschaften aufgenommen. Immer deutlicher spüren wir, dass hier nicht allein eine Möglichkeit des Herrschens, des Durchdringens, des In-Anspruch-Nehmens eröffnet ist, sondern dass sich damit die Aufgabe des Verantwortens und des Bewahrens verbindet. Wir spüren immer deutlicher, dass die Verantwortung für die Gestaltung der Welt nicht einfach an politische, wirtschaftliche oder andere gesellschaftliche Akteure delegiert werden kann, sondern dass jede und jeder an ihrem und seinem Ort dazu Beiträge zu leisten hat.

Dabei verändert sich der Zeithorizont dieser Verantwortung. Im Umgang mit der uns zugänglichen und verfügbaren Welt tragen wir Verantwortung nicht nur im Blick auf das eigene Leben und das Leben der eigenen Generation, sondern auch für die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen. In verschiedenen Wellen ist dieses Bewusstsein gewachsen.

Vor einer Generation geschah dies aus Anlass des ersten Berichts des Club of Rome. Damals wurde der Gesichtspunkt der Endlichkeit der Ressourcen betont, aus der sich die Verpflichtung zu einem schonenden und sparsamen Umgang mit diesen Ressourcen ergibt. Heute tritt ein ganz anderer Gesichtspunkt hinzu. Wir registrieren eine globale, durch menschliches Handeln verursachte Veränderung der Bedingungen in unserer Welt, für die der Klimawandel der entscheidende Indikator geworden ist. Die Zukunftsbedeutung unseres heutigen Handelns gewinnt an Bedeutung. Damit tritt das Kriterium der Nachhaltigkeit wieder in den Vordergrund, das in den Traditionen der Landwirtschaft und der Forstwirtschaft fest verankert ist. Das Wort Nachhaltigkeit ist keineswegs neu; es ist vielmehr in einem forstwirtschaftlichen Nachschlagewerk des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal nachgewiesen. Die Vorstellung eines Generationenvertrags ist hier verankert, demzufolge wirtschaftlich effektives Handeln sich nicht nur am eigenen Vorteil, sondern auch am Nutzen für die nächste Generation ausrichtet. Heute fangen wir an, die Weisheit einer solchen Tradition neu zu begreifen.

Die Bedingungen des Lebens auf der Erde sind nicht sicher, sie sind vielmehr stets und immer wieder auf neue Weise durch katastrophale Veränderungen bedroht. Das gehört zu den grundlegenden Erfahrungen der Menschheit. Aber die Menschen haben immer wieder das Vertrauen gefasst, dass solche sintflutartigen Erfahrungen der Vergangenheit angehören und dass künftig nicht mehr aufhören sollen Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Doch jetzt stellt uns der Klimawandel vor große Fragen; vor Fragen, die sich jedenfalls dem aufdrängen, der diesen Wandel in drei Feststellungen zusammenzufassen bereit ist. Die erste heißt: Wir müssen ernsthaft mit einer Klimakatastrophe rechnen; die zweite: Wir müssen anerkennen, dass sie in erheblichem Umfang durch menschliches Handeln ausgelöst ist; und die dritte: Um die globale Erwärmung zu begrenzen, müssen wir zu schnellen und entschlossenen Maßnahmen bereit sein. Das verändert den Horizont, in dem wir Verantwortung für unsere Welt wahrzunehmen haben.

IV. Wirtschaft gestalten im Horizont von Geist, Geld und Welt

Jede Besinnung auf die ethische Regulierung von Wirtschaft muss von der Einsicht ausgehen, dass das Marktmodell zur Regelung wirtschaftlicher Abläufe durch kein anderes Modell zu ersetzen ist. In dieser Hinsicht sind alle ethischen Forderungen auch unter dem Gesichtspunkt zu überprüfen, ob sie wirtschaftsverträglich sind, oder ob sie darauf zielen, den Marktmechanismus auszuhebeln. Zugleich aber geht jede Überlegung zur Gestaltung der Wirtschaft aus evangelischer Perspektive davon aus, dass sie kein Wert ist, der über allem zu stehen kommt. Evangelische Wirtschaftsethik liefert sich der These von der Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft nicht aus.

Von einer Respektierung des Marktmechanismus ist eine Tendenz zu unterscheiden, die alles und jedes nach Marktprinzipien regeln will und wirtschaftliche Effizienz zum bestimmenden Prinzip für die Gestaltung aller Lebensbereiche macht. Will man sich dieser Tendenz entziehen, so muss man unterscheiden zwischen Vorgängen, bei denen es sich wirklich um wirtschaftliche Abläufe handelt, die wirtschaftlicher Effizienzsteigerung zugänglich sind, und Gütern, die sich einer vollständigen Ökonomisierung widersetzen. Insbesondere muss man auch auf die Frage achten, mit welchem Zeithorizont wirtschaftliche Effizienzfragen verbunden werden. Insofern heißt heute eine der ethischen Schlüsselfragen für Wirtschaft wie Politik, an welchen Stellen der Ökonomisierung Grenzen zu setzen sind. Aus der Sicht des christlichen Glaubens heißt die Frage, ob wir auf dem Weg zu einer Vergötzung der Ökonomie sind oder ob wir sie als ein Mittel mit begrenzter Reichweite betrachten. Aus dieser Sicht stellt sich die Frage so, ob der Umgang mit Wirtschaft und Geld unter dem Leitgedanken geschieht, dass Gott allein die Ehre gegeben und die gleiche Würde jedes Menschen geachtet wird.

Vier Beispiele haben mir das in letzter Zeit besonders anschaulich gemacht. Diese drei Beispiele heißen: Familie, Bildung, Gesundheit und Zeit.

Familie. Wir beobachten heute eine neue Wertschätzung der Familie. Jungen Menschen ist heutzutage der Zusammenhalt in der Familie und unter Freunden genauso wichtig wie ein vertrautes Umfeld, in dem sie sich geborgen und geschützt fühlen. In diesem Zusammenhang ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in besonderer Weise hervorzuheben. Sowohl im Blick auf die Berufstätigkeit von Frauen als auch im Blick auf die wachsende Teilhabe von Männern an der Familienarbeit sollte diese Vereinbarkeit zu einem vorrangigen Kriterium für die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen gemacht werden. Daraus ergeben sich nicht nur Forderungen an die Politik im Blick auf familienunterstützende Maßnahmen; vielmehr verbinden sich damit auch Erwartungen an die Wirtschaft – und ebenso auch an alle öffentlichen und kirchlichen Arbeitgeber. Im Übrigen gilt die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur für Eltern mit Blick auf ihre Kinder; sondern ebenso für erwachsene Kinder mit Blick auf ihre alt gewordenen Eltern. Auch die Frage, wie mit älteren Arbeitnehmern umgegangen wird, wird in solchen Zusammenhängen diskutiert. Gelingen kann eine neue Wertschätzung der Familie nur, wenn sie Förderung erfährt – und zwar auch über das hinaus, was sich für ein Unternehmen unmittelbar und kurzfristig rechnet. Auch eine Familienpolitik verdient ihren Namen erst dann, wenn sie sich nicht nur an ökonomischen Zielen ausrichtet, sondern Familie als einen Wert in sich selbst begreift.

Bildung. Gewiss ist es notwendig, auch Bildungssysteme ökonomisch zu untersuchen und die Frage zu stellen, ob die Mittel, die unser Land für Bildung zur Verfügung stellt, eigentlich effizient verwendet werden. Es ist auch legitim, das Bildungssystem unter dem Gesichtspunkt zu überprüfen, ob es eigentlich die Begabungsreserven hebt, die genutzt werden müssen, wenn wir einem sich abzeichnenden Fachkräftemangel rechtzeitig begegnen wollen. Aber es ist ethisch nicht legitim, Kinder und Jugendliche nur unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass sie künftige Arbeitskräfte sind. Vielmehr ist die Würde des Menschen von Anfang an wahrzunehmen. Befähigungsgerechtigkeit als Kriterium für Bildungssysteme ist nicht nur vom jeweiligen gesellschaftlichen Bedarf abhängig zu machen. Im Bildungsangebot muss der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit geachtet werden. Deshalb ist der Vermittlung von Orientierungswissen derselbe Rang einzuräumen wie der Vermittlung von Verfügungswissen. Auch Universitäten sind übrigens unter diesem Gesichtspunkt als Stätten der Bildung ernst zu nehmen. Die Frage, ob für die allgemeine Bildung und die Entwicklung der Persönlichkeit an unseren Universitäten Spielraum bleibt, muss gestellt werden. Wird Exzellenz eigentlich ganzheitlich gedacht oder einfach am Volumen der Drittmittel abgelesen? Wird die Elite, die man fördern möchte, als Wirtschaftselite oder als Verantwortungselite verstanden? Das sind Fragen, die sich in den vor uns liegenden Jahren verstärkt stellen werden. Eine ethische Reflexion kann dabei helfen, die Proportionen zu wahren. Maß, also der Sinn für Proportion, wird bereits in der Tugendlehre der Antike als eine der vier Kardinaltugenden hervorgehoben. Mein Eindruck ist, dass wir diese Tugend neu zu entdecken haben.

Gesundheit. Erneut trete ich persönlich dafür ein, dass Gesundheitsökonomie eine außerordentlich sinnvolle und notwendige Disziplin ist. Wenn es stimmen sollte, dass mindestens 20% unserer Gesundheitsausgaben sich schon dadurch einsparen ließen, dass man unnötige Doppeluntersuchungen, die unnötige Verschreibung von Medikamenten oder den unnötigen Verzicht auf das Verschreiben von Generika verhindert, dann zeigt sich darin ein Rationalisierungspotential, ein Potential für Effektivität und Effizienz, das genutzt werden muss, um in einer alternden Gesellschaft Gesundheitsvorsorge und Krankenbetreuung finanzierbar zu halten. Aber genauso wichtig ist ein Gesichtspunkt, der die rein wirtschaftliche Betrachtungsweise übersteigt. Er hat damit zu tun, dass Gesundheit nicht nur ein Wirtschaftsgut ist und dass der Zugang zur Gesundheitsvorsorge nicht von der individuellen Zahlungsfähigkeit abhängig gemacht werden darf. Deshalb ist der Patient immer mehr als nur ein Kunde. Neben der medizinisch-pflegerischen Qualität, der Nutzung des wissenschaftlichen Fortschritts und der wirtschaftlichen Effizienz muss deshalb auch die Gerechtigkeit als Maßstab für die Gestaltung des Gesundheitswesens berücksichtigt werden. Auch Gerechtigkeit gehört übrigens zu den vier Kardinaltugenden, die wieder verstärkt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Den Kirchen liegt dieser Gesichtspunkt besonders nah. Die Tradition des kirchlichen Hospizwesens, die eine wichtige Wurzel des modernen Krankenhauswesens bildet, richtete sich ursprünglich darauf, armen Menschen, die nicht selbst für ihren Schutz gegen Krankheit und die Pflege bei Krankheit aufkommen konnten, Zuflucht und Hilfe zu gewähren. Das war ein Signal dafür, dass hilfsbedürftige Menschen auch Hilfe finden müssen, unabhängig von dem Maß, in dem sie selbst für diese Hilfe aufkommen können.

Zeit. Erst neuerdings wurde die Zeit als Thema der Politik entdeckt. Inzwischen hat der Begriff der Zeitpolitik einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Auch die Zeit darf nicht vollständig ökonomisiert werden. In der jüdisch-christlichen Tradition steht der wöchentliche Ruhetag stellvertretend für diese Grenze, die der Ökonomisierung der Zeit gezogen ist. Die gegenwärtige Debatte um den Sonntagsschutz – bis hin zu der Verfassungsbeschwerde der Kirchen gegen die Ladenöffnungsregelung in Berlin – zeigt die Zuspitzung, die die Debatte über Zeitpolitik gegenwärtig erfährt. Der Widerspruch richtet sich dagegen, dass in einigen Bundesländern die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage über das Maß des Notwendigen hinaus erweitert wird und dabei – das wird in Berlin mit besonderer Konsequenz betrieben – auch die Adventssonntage einbezogen werden. Damit wird der besondere Schutz des Sonntags in sein Gegenteil verkehrt. Den Sonntag bezeichnet unser Grundgesetz als „Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“. Beide Aspekte sind wichtig: die kollektive, gemeinsame Arbeitsunterbrechung an einem gemeinsamen freien Tag und die Schaffung eines Freiraums von den Verwertungszwängen der Ökonomie. Denn das wird mit dem Begriff der seelischen Erhebung signalisiert. Eine solche, über die ökonomische Verwertung hinausgehende Perspektive trifft auf eine wachsende Resonanz. Menschen sind interessiert an einer Neuausrichtung ihres Lebens, nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Effizienz und Nützlichkeit. Ich rate deshalb sehr dazu, die soziale Institution des arbeitsfreien Sonntags zu erhalten und mit ihr pfleglich umzugehen. Und den Christen rate ich, dadurch einen deutlichen Beitrag zur Sonntagskultur zu leisten, dass sie zeigen, was das Gebot bedeutet, „Du sollst den Feiertag heiligen“.

Geist, Geld, Welt – die Grenzen der Ökonomisierung sind für mich besonders wichtig hinsichtlich der Folgerungen für die Gestaltung der Ökonomie. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung dafür, der Ethik und Wirtschaft gerade heute nicht weiter auseinanderdriften, sondern zusammengehalten werden. Denn wenn wir einer jungen Generation eine neue Wertorientierung anempfehlen wollen, können wir nicht diejenigen Bereiche aussparen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben maßgeblich prägen. Denn das ist die Wirtschaft; wenn man neben ihr einen anderen Bereich überhaupt eigenständig nennen will (der aber selbst in wachsendem Maß wirtschaftlich verfasst ist), dann handelt es sich außerdem noch um die Medien. Wenn diese Bereiche unausgesetzt Beispiele vor allem dafür bieten würden, dass es auch ohne Ethik, ohne Wertorientierung geht, dann wäre die Substanz des gesellschaftlichen Zusammenhalts gefährdet. Ich glaube, das will niemand. Deswegen ist das Bemühen darum, Ethik und Wirtschaft zusammen zu halten, gerade heute angezeigt. Wir sollten alle miteinander – und mit diesem Ausblick will ich schließen – auch die Zuversicht entwickeln, dass man nicht nur darüber zu diskutieren braucht, sondern dass sich dies auch in die Tat umsetzen lässt.