„Diakonat in der Kirche der Freiheit“ - Vortrag bei der Hauptversammlung des Verbands Evangelischer Diakonen-, Diakoninnen- und Diakonatsgemeinschaften in Deutschland (VEDD), Berlin

Wolfgang Huber

I.

„Im Jahre 2030 ist die Diakonie ein zentrales Handlungsfeld der sich auf ihre Stärken konzentrierenden evangelischen Kirche. Jede diakonische Aktivität hat ein deutlich wahrnehmbares evangelisches Profil. Die Verbindung zwischen verfasster Kirche und Diakonie ist besser verwirklicht. Das Eintreten der Kirche für Menschenwürde und Menschenrechte, für Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung, für Gewaltfreiheit und Frieden prägt die öffentliche Wirksamkeit der Kirche, ihrer Gemeinden und Initiativgruppen.“

Mit dieser Vision leitet das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ vom Sommer 2006 sein Nachdenken über Diakonie als Leuchtfeuer der Kirche ein. Dabei geht es davon aus, dass Diakonie schon heute ein „starkes Stück Kirche“ ist. Die vierte EKD-Erhebung über die Kirchenmitgliedschaft „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“ hat gerade auch die Fernstehenden in der diakonischen Hilfe und Beratung als einen Kernbereich kirchlichen Handelns identifiziert.  Indem die Kirche ihrem grundlegenden Auftrag zum diakonischen Handeln nachkommt, eröffnet sie zugleich Begegnungsfelder, in denen Menschen verschiedenster Herkunft und Milieus, Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und mit unterschiedlicher religiöser Prägung Kirche erleben können. Alte Menschen in unseren Einrichtungen der Altenhilfe, Patienten im Krankenhaus, Hilfesuchende an den Tafeln, aber auch Partner aus anderen gesellschaftlichen Gruppen, Staat und Kommunen, aber auch Sponsoren nehmen diakonische Einrichtungen und Dienste als Teil der Kirche, als ein „starkes Stück Kirche“ wahr.
Die Krise der sozialen Sicherungssysteme und der damit verbundene Paradigmenwechsel vom sozialen Wohlfahrtsstaat zum Sozialmarkt unter Einschluss gewerblicher Anbieter, die Krise und der Umbruch des öffentlichen Bildungssystems in Deutschland, die zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit auf der einen und  ein wachsendes gesellschaftliches Engagement auf der anderen Seite, die Auflösung traditioneller Milieus und die Erosion von Institutionen, Einbußen in den öffentlichen Finanzierungssystemen und auch im Bereich der Kirchen – dies sind nur einige Stichworte zu Veränderungen von denen auch Diakonie und Kirche betroffen sind. Beide suchen ihren Ort in einer Gesellschaft, die von wachsender Pluralität geprägt ist. Dabei entsteht bei Vielen der Eindruck: Die Kirche ist ein Anbieter spiritueller und kultureller Vergewisserung unter mehreren. Diakonie ist ein Anbieter sozialer Dienstleistungen neben anderen.

Die EKD und ihre Gliedkirchen beschäftigen sich deshalb mit der Profilierung kirchlicher Orte. Wir verstehen die Kirche neu als intermediäre Institution in ihrer jeweiligen Region. Wir versuchen, die Professionalität der Hauptberuflichen ebenso zu fördern wie das ehrenamtliche Engagement zu stärken. Kirche und Diakonie arbeiten zusammen in der Entwicklung neuer Führungskonzepte und Fortbildungsangebote. Aber auch das Verhältnis von Diakonie und Sozialwirtschaft, die Förderung eines kirchlichen Selbstverständnisses in den diakonischen Einrichtungen und andere, durchaus sensible Fragen im Verhältnis von Kirche und Diakonie stehen auf der Tagesordnung. Qualitätsentwicklung, Mission, Führen und Leiten – so heißen die drei Schwerpunkte, die wir als „Kirche im Aufbruch“ auf der Ebene der EKD derzeit in unserem Reformprozess setzen. Überschneidungsbereiche zwischen Kirche und Diakonie drängen sich geradezu auf.

II.

Die Gefahren sind nicht zu verkennen, die auch für die Diakonie mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüchen einhergehen. Da ist zum einen die Gefahr, dass Diakonie als ursprünglich treibende Kraft im modernen Wohlfahrtsstaat bis zur Unkenntlichkeit aufgeht; zum andern wird befürchtet, dass eine Fokussierung auf den betriebswirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen und Dienste das anwaltschaftliche Mandat schwächt. Die Überzeugung breitet sich aus, dass die diakonische Arbeit auf Gemeinden angewiesen ist, die nah bei den Menschen sind und ihre konkreten Notlagen wahrnehmen. Auch die Denkschrift der EKD „Gerechte Teilhabe“ – eine Denkschrift über Armut in Deutschland -  wie das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ im Jahr 2006 erschienen,  macht darauf aufmerksam, wie gefährlich es ist, wenn Gemeinden unter Milieuverengung leiden und die Lebenslangen von Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit gar nicht mehr wahrnehmen. Dass Diakonie eine Lebens- und Wesensäußerung der Kirche ist, muss wieder von beiden Seiten wahrgenommen werden: von Diakonie und Kirche, von den Gemeinden beziehungsweise kirchlichen Regionen ebenso wie von den diakonischen Einrichtungen und Diensten. Ich habe schon vor einigen Jahren in diesem Sinn von „Wichern III“ gesprochen. Ich wollte und ich will damit sagen: Das Wissen um den gemeinsamen Auftrag muss sich auch in einem deutlichen Schulterschluss zwischen Kirche und Diakonie zeigen. Bei der Suche nach einem bildkräftigen Symbol haben wir dafür inzwischen das „Nebeneinandem“ gefunden, ein Tandem, in dem keiner vorne oder hinten sitzt, weil beide nebeneinander fahren. Ich habe ein solches „Nebeneinandem“; Diakonieschüler haben es gebaut und mir geschenkt. Ganz leicht zu steuern ist ein solches Nebeneinandem nicht, das haben Klaus-Dieter Kottnik und ich ausprobiert, aber es geht.

Diakonische Anwaltschaft und kirchliche Stellungnahmen zur Gerechtigkeit sind auf ein gutes Miteinander von Gemeinden und professionellen Diensten der Diakonie angewiesen – genauso wie übrigens die Kirche darauf angewiesen ist, von den reichen Erfahrungen der Diakonie im Blick auf Leitung und Qualitätsmanagement zu profitieren. Darum hält das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ am Ende als ein Ziel fest: „Alle diakonischen Einrichtungen und Dienste stehen im Jahr 2030 in einer definierten Kooperations- bzw. Partnerschaftsbeziehung zu den Kirchengemeinden bzw. Kirchenbezirken ihrer Region.“

Das Evangelische Johannesstift in Berlin, das in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen feiern konnte und in dem wir miteinander zu Gast sind, hat mit einer eigenen Arbeitsgruppe versucht, diese Perspektive im Blick auf eine Zielvision 2020 der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz konkret zu beschreiben.  Darin heißt es:

„2020 gibt es in allen Regionen der EKBO ein dichtes Netzwerk diakonischen Handelns vom Besuchsdienstkreis der Gemeinde über die Diakonischen Werke der Regionen zu den diakonischen Unternehmen, in dem vor allem hilfebedürftige Menschen die Unterstützung finden, die sie benötigen. ... Durch Einrichtungen der institutionellen Diakonie geschieht umfassende Beratung und Unterstützung von diakonischen Aktivitäten der Gemeinden. ... Gemeinsame Internetauftritte von regionaler Diakonie und Kirchenkreisen sind selbstverständlich. Hilfesuchende finden hier ebenso wie potentielle Ehrenamtliche aktuelle Informationen und Kontaktadressen. Im diakonischen Wirken der Gemeinden und diakonischen Einrichtungen verdeutlicht und konkretisiert sich das Eintreten der Evangelischen Kirche für Gerechtigkeit und Frieden im gesellschaftlichen Zusammenleben und für die Würde des Menschen von Anfang bis zum Ende seines Lebens.“

„Die Liebe gehört mir wie der Glaube“ – so ist dieses Diskussionspapier überschrieben. Die Erinnerung an Johann Hinrich Wichern, den Gründer des Evangelischen Johannesstifts, die in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, ist mehr als eine Reverenz zum Jubiläumsjahr. Die Zusammengehörigkeit von Glauben und Liebe hat eine tiefere Bedeutung. Wo der religiöse Schlüssel vergessen wird, kann es leicht geschehen, dass die Tür zu einer lebendigen Sozialkultur ins Schloss fällt und sich am Ende nicht mehr öffnen lässt. Die Kultur des Helfens, die unser Land geprägt hat und weiter prägen soll, und das Ethos fürsorglicher Anteilnahme können auf diesen Schlüssel nicht verzichten.

Das so häufig zitierte Gleichnis Jesu vom Weltgericht (Matthäus 25) deutet den Einsatz für notleidende Schwestern und Brüder als Begegnung mit Christus und als Ausdruck der Christusbeziehung. Gottesbeziehung und Beauftragung zum Dienst sind aufeinander bezogen. Ethische Fragen am Anfang und am Ende des Lebens, aber auch bei krisenhaften Entscheidungen in Familien- oder Gesundheitsfragen, sozialethische Probleme einer Gesellschaft, in der sich ein Fünftel der Menschen trotz Sozialstaat vergessen und abgehängt fühlt, die Suche nach spirituellen Kraftquellen bei nachbarschaftlicher Hilfe und Pflege oder bei eigener Gebrechlichkeit, unterschiedliche Antworten der Religionen auf die Frage nach Tod und Leiden – das alles fordert praktisches Handeln und geistliche Klarheit zugleich. Gemeinden und Diakonie sind dadurch gleichermaßen herausgefordert. Diakonische Professionalität und theologische Kompetenz, Fachlichkeit und Spiritualität, Gemeinschaft in Gemeinden und Diensten sind nötig, um diesen Herausforderungen angemessen zu begegnen.

Die organisatorische Unterscheidung zwischen Kirche und Diakonie, die sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet und verfestigt hat, braucht nicht zwangsläufig zu einer institutionellen oder gar geistlichen Scheidung zu führen. Aus Prozessen, die einer organisatorischen Unterscheidung bedürfen, lässt sich nicht unmittelbar auch eine inhaltliche Unterscheidung ableiten. Wir können jedoch nicht leugnen, dass die Teilhabe von Kirche und Diakonie am Ausbau des Wohlfahrtsstaats auch eine Selbstsäkularisierung diakonischer wie kirchlicher Arbeit zur Folge hatte. Seit die Gemeindeschwestern Kaiserswerther Prägung nach und nach in ihre Mutterhäuser zurück und in den Feierabend gingen und von Pflegekräften in Diakonie- und Sozialstationen ersetzt wurden, seit die Fürsorgetätigkeit von Diakonissen, die alle Dienste von der Erziehung im Kindergarten bis zum Haushaltskurs, von der Pflege bis zur Altenhilfe abdeckten, einer professionellen Ausdifferenzierung wich, haben sich die Gemeinden mehr und mehr aus diesem Arbeitsfeld zurückgezogen und ihr diakonisches Handeln an professionelle Dienste delegiert. Noch immer aber erinnern sich viele (wenn auch im Wesentlichen von meiner Generation an aufwärts) an die Schwestern mit dem Häubchen – symbolisierten sie doch in ihrer Person die Brücke zwischen Gemeinde und Diakonie, die Verbindung zwischen sozialer Fachlichkeit und gelebtem Glauben, ja, den Diakonat der Kirche. Aber so idyllisch dieser Blick zurück auch ist, so wenig hat es Sinn, die Vergangenheit nostalgisch zu verklären und dies mit der Aussage zu verknüpfen, dass das Bekannte ohnehin verloren sei.

Die Verknüpfung von Spiritualität und diakonischer Praxis, von Gemeinschaft und sozialem Engagement, von Gemeinde und Gemeinwesen, für die die Mutterhäuser und auch die Bruderhäuser über Generationen standen, war eine anschauliche Darstellung des ganzheitlichen Zeugnisses der Kirche, war „Gottesdienst im Alltag der Welt“. Der Verlust dieser spezifisch kirchlichen Prägung von Pflege- und Erziehungsarbeit, von Gemeinwesendiakonie und Obdachlosenarbeit lässt eine Leerstelle zurück. Er wird schmerzhaft deutlich im Rückzug der Gemeinden aus der Trägerschaft und schließlich auch aus der Mitarbeit in Altenhilfeeinrichtungen und Pflegediensten, aber auch in der zunehmenden Ökonomisierung des Leitungshandelns von diakonischen Unternehmen. Wenn aber – und diese Gefahr muss man deutlich sehen - Wort und Tat auseinander treten, verliert die Tat ihr Profil und das Wort an Glaubwürdigkeit. Johann Hinrich Wichern hat deswegen immer wieder betont, dass er mit seinem sozialen Engagement ein zutiefst kirchliches Interesse verfolgte und dass es ihm darauf ankam, die Kirche zu einer diakonischen Kirche zu gestalten.

Für ihn war das untrennbar mit dem Schritt zu einer missionarischen Kirche verbunden. Dafür stehen exemplarisch seine zwölf „Thesen für die Innere Mission als Aufgabe der Kirche innerhalb der Christenheit“, die er 1857 beim Kirchentag in Stuttgart vortrug. In These 8 bekräftigte er die innere Zusammengehörigkeit von Kirche und Diakonie: „Anstalten und Stiftungen sind ebenso der Kirche verpflichtet als die Kirche ihnen. Die Erfüllung dieser Verpflichtung stärkt und bereichert, ihre Auflösung schwächt und verarmt beide.“ Wichern wusste, wovon er sprach. Schließlich kam er aus einer Zeit, in der die diakonische Arbeit in Stiften und Klöstern sich neben der Gemeinde entwickelt hatte, und auch ihm gelang es nur zum Teil, die Vereine und Anstalten der Liebesarbeit in der Inneren Mission so zu organisieren, dass sie nicht nur soziale Veränderungen, sondern auch einen Mentalitäts- und Strukturwandel in der Kirche bewirkten.

Keine Frage: die Personen, die den Diakonat der Kirche leben und ausfüllen, sind dabei entscheidende Brückenpfeiler. Ihr Glaube, ihre Qualifikation, ihr Fähigkeit, Brücken zwischen Kirche und Diakonie zu schlagen sind wesentliche Schlüssel für die Zusammenarbeit. Mit dem „Diakonissenamt“ haben Kirche und Diakonie Profil verloren, und mit dem Diakonen- und Diakoninnenamt muss sich dieses Profil erneut entwickeln. Der Streit, ob es sich dabei überhaupt um ein kirchliches Amt handelte, weil das einsegnende Handeln in der Regel von den Gemeinschaften vollzogen wurde, ist Gott sei Dank heute müßig. Gewichtiger ist da schon die Erinnerung, dass sich bei Wichern und Fliedner ein völlig unterschiedlicher Diakonatsbegriff findet, der dann auch die weitere Entwicklung des Diakonen- und des Diakonissenamtes bestimmt hat. Man kann das exemplarisch sehen an den Gutachten, die beide auf Bitte von Friedrich Wilhelm IV. 1856 für die Monbijou-Konferenz entwickelt wurden, – und das zeigt, dass die innere Unausgeglichenheit im Blick auf das Diakonissenamt mindestens 150 Jahre alt ist: Die jeweilige Zuordnung zur Gemeindeleitung wie zum Pfarramt, die damit verbundenen Fragen des Amtsverständnisses und der Ämterhierarchie, der Zusammenhang zwischen Gemeinschaft und Dienst, Beruf und Lebensstil wurden unterschiedlich verstanden. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Gemeinsam allerdings war der Gründergeneration des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung und Entwicklung eines eigenen diakonischen Dienstes in der Kirche mit einer ausgeprägten Aus- und Weiterbildung in fachlichen wie in theologischen Fragen und eine reflektierte kirchlich-diakonische Personal- und Organisationsentwicklung.

III.

Als der Graben zwischen Kirche und Diakonie sich Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wieder vertiefte, erinnerte die Diakonische Konferenz 1975 in Düsseldorf-Kaiserswerth in ihren Leitlinien zum Diakonat daran, dass Diakonie Präsenz der Gemeinde im sozialen Bezugsfeld ist. In der Tradition Theodor Fliedners halten die damaligen Leitlinien fest: „Um diese Präsenz dem Evangelium gemäß zu gestalten, bildet die Gemeinde den Diakonat“. Um dann in der Wichernschen Linie fortzufahren: „Der Diakonat braucht auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens (Gemeinde, Kirchenbezirk, Landeskirche) für seinen Dienst den notwendigen Entfaltungsraum.“ Das Evangelische Johannesstift in Berlin-Spandau hat dazu in der Zielperspektive 2020 folgende Konkretionen erarbeitet:

„Jede Gemeinde hat mindestens ein eigenes diakonisches Projekt, mit dem sie in der Region tätig ist und nach außen tritt.

An jedem Ort von Diakonie und Kirche ist beides da: Offenheit und Behutsamkeit, Beten und Tun des Gerechten und der Liebe. Menschen, die mit Kirche und Diakonie in Berührung kommen, erfahren hier wie dort die Zusammengehörigkeit von christlicher Botschaft und diakonischem Handeln. ....

‚Jede diakonische Aktivität hat ein deutlich wahrnehmbares evangelisches Profil.’  ... Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind kompetent und sprachfähig hinsichtlich des christlichen Auftrags, der das diakonische Handeln trägt. Nicht konfessionell gebundene Mitarbeitende werden dabei unterstützt, Grundlagen des christlichen Glaubens kennen und schätzen zu lernen. Sie erfahren Akzeptanz ihrer eigenen weltanschaulichen Position und zugleich ein freundliches Werben für ein Leben im Glauben.“

Diese Ausarbeitung ist ein wichtiger Beitrag zu unserem Reformprozess. Sie wirbt für gemeinsame Projekte mit Gemeinden. In jeder Gemeinde soll ein diakonischer Arbeitskreis und ein Diakoniebeauftragter installiert werden, in jeder diakonischen Einrichtung soll es umgekehrt einen Beauftragten für die Zusammenarbeit mit den Kirchengemeinden geben.

Gemeinsame Konvente und Konferenzen sollen für die geistliche Gemeinschaft und die fachliche Verzahnung sorgen. Schon auf Ausbildungsebene sollen die Begegnungsmöglichkeiten zwischen Pfarramt und diakonischen Berufen verstärkt werden, wie es übrigens jetzt im Kompetenzzentrum Diakonie der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel geschieht.

Nicht nur die Anstellungsverhältnisse sollen so gestaltet sein, dass der Wechsel zwischen Kirchenkreisen und diakonischen Unternehmen leicht möglich ist, installiert werden soll auch ein gemeinsames Aus- und Weiterbildungskonzept für kirchliche und diakonische Mitarbeitende sowie für Ehrenamtliche. Mit letzterem hat die Hannoversche Landeskirche gerade begonnen.

Grundsätzlich gilt: Der Diakonat ist Teil des gemeinsamen kirchlichen Dienstes. Wenn wir ihn weiter entwickeln wollen, muss es darum gehen, die grundlegenden persönlichen und funktionalen Kompetenzen des Dienstes – wie Sprachfähigkeit des Glaubens, Knüpfen, Gestalten und Aufrechterhalten von Beziehungen auch in Krisen, das Mitsein mit den Leidenden und allen Geschöpfen, die Hermeneutik der christlichen Quellen und Traditionen, ethisches Unterscheidungsvermögen und die Bereitschaft zum Vertrauen in Unsicherheiten – mit der Professionalität im jeweiligen Arbeitsfeld zu verbinden. Das gilt für die pädagogische Diakonie ebenso wie für die Pflege, für die Beratung ebenso wie für die Medizin. Das alles hat übrigens auch Bedeutung für die Professionalität und Spiritualität im Pfarramt und in den anderen gemeindlichen Diensten. Denn auch das Pfarrbild muss, wie das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ zeigt, neu ausgerichtet und beschrieben werden.

Das Nachdenken über den Diakonat der Kirche kann aber auch einen neuen Impuls für unser Verständnis von Theologie und Professionalität im Leitungshandeln von Kirche und Diakonie frei setzen. Verschiedene Impulse des DW EKD aus dem letzten Jahr zeigen, wie nötig es ist, die theologische und geistliche Kompetenz von Führungskräften und Aufsichtsräten in der Diakonie zu stärken. Umgekehrt können Erfahrungen und professionelle Kompetenzen aus der diakonischen Arbeit den Leitungsgremien in der Kirche neue Impulse geben. Das würde dazu beitragen, die Vielfalt der Dienste, von der in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 maßstabsetzend die Rede ist, lebendig erfahrbar zu machen.

Dialogorientierung muss freilich schon in der Ausbildung beginnen; das Zielpapier des Evangelischen Johannesstifts hat das deutlich gemacht. Die Aus- Fort- und Weiterbildung von Pfarrern und Pfarrerinnen, von Pädagogen und Pädagoginnen, von Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern sowie in diakonischen Berufen in der Kirche sind noch immer zu wenig verknüpft. Theologische Fakultäten und kirchliche Fachhochschulen sind, von Ausnahmen abgesehen, erst seit kurzer Zeit in einen diakoniewissenschaftlichen Dialog eingetreten. Die jeweiligen akademischen oder Fachhochschulabschlüsse der Theologen und Theologinnen, Sozial- und Pflegewissenschaftler, Juristen und Ökonomen in der Diakonie können heute im Kontext modularisierter Ausbildungsgänge noch stärker aufeinander bezogen werden. Das kann sogar in einem europäischen Zusammenhang geschehen; die Arbeit an einer Kompetenzmatrix im Kontext des Brügge-Kopenhagen-Prozesses und die gewachsene europäische Zusammenarbeit der diakonischen Gemeinschaften können dabei eine wichtige Hilfe sein.

Wir dürfen aber auch der Zukunftsfrage nicht ausweichen, welche Aus- und Weiterbildungsgänge die Kirche selbst vorhalten muss und wo sie Module anbieten kann, die helfen, sich auf dem Hintergrund von Kirche und Glauben mit der eigenen Berufsrolle auseinander zu setzen. Noch bietet die verfasste Kirche kirchliche Verwaltungslehrgänge an, während die Diakonie mit Betriebswirten arbeitet, denen in der Regel ein spezifisches Wissen über das kirchlich-diakonische Aufgabenfeld fehlt. Eine kirchlich-diakonische Zusatzqualifikation für Ökonomen und Verwaltungsfachwirte ist sicherlich ein unerlässliches Element für die Zukunft. Ebenso wichtig ist es, dass Ausbildungsgänge erhalten bleiben und weiterentwickelt werden, in denen sozialfachliches oder pflegefachliches Wissen mit ethischen oder gemeindepädagogischen Fragestellungen verbunden wird, in denen Professionalität und Spiritualität von vornherein aufeinander abgestimmt sind. Allerdings wäre es falsch, davon auszugehen, dass es genügen würde, einen durchgängig fachspezifisch konzipierten Ausbildungsgang lediglich mit einem einzigen Zusatzmodul auszustatten.

Aber nicht nur an der Spitze, sondern auch an der Basis ist ein abgestimmtes System von Basis- und Einführungslehrgängen nötig. Als Ergebnis einer Befragung, die Miriam Rappel im Jahr 2002/2003 durchgeführt hat, hält das Diakonische Werk der EKD deswegen fest: „Notwendig ist die Erstellung einer bundesweiten Übersicht über Kursangebote in der diakonischen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Curricula sollten miteinander verglichen, ins Gespräch gebracht und optimiert werden. Ein Ausbildungswegweiser für Diakoninnen und Diakone sollte im Internet leicht verfügbar sein.“

Aber nicht nur die Mitarbeitenden, auch schon die Schülerinnen und Schüler müssen uns am Herzen liegen. Ich denke an die Begleitung der verschiedenen Diakonie-Praktika in allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen. Der Stellenwert sozialen Lernens in allgemein- und berufsbildenden Schulen, aber auch Impulse zum bürgerschaftlichen Engagement in Schulen und Betrieben müssen deswegen auf unserer Agenda hoch angesiedelt bleiben. Es ist richtig, dass wir uns um die kostbare Gruppe derer sorgen, die ihren sozialen Dienst mit spiritueller Achtsamkeit und ethischem Bewusstsein tun wollen – sie brauchen Stärkung, Bildungsangebote, das Bewusstsein einer starken Gemeinschaft und eines kirchlichen Mandats. Genauso wichtig ist aber, dass wir die Zukunft sozialer und pflegerischer Arbeit insgesamt und damit die Zukunft des kirchlichen Engagements in diesem Feld im Blick haben. Diese Zukunft beginnt mit den heutigen Schülerinnen und Schülern. Mit Recht haben deswegen die Gemeinde- und Religionspädagogen daran erinnert, dass nicht nur über den Diakonat der Kirche, sondern auch über den Katechumenat, den durchgängigen Bildungs- und Erziehungsauftrag und die damit verbundenen Fragen des Verhältnisses von Vokation und Ordination zu reden sei. Man kann auch noch andere kirchliche Berufsgruppen, zum Beispiel die Kantoren, die genauso mit Recht sagen, dass ihr Ort im Gefüge der Kirche immer undeutlicher wird, in diese Überlegung einbeziehen. Die Debatte um den Diakonat ist in diesem Zusammenhang ein hilfreicher Impuls, die grundsätzliche Diskussion voran zu treiben.

IV.

Vor 152 Jahren war die Frage nach der Zukunft des Diakonats die entscheidende Frage der Kirchenreform. Wenn Sie heute nach der Bedeutung des Diakonats für die Kirche der Freiheit fragen, nehmen Sie dieses Thema wieder auf. Als der preußische König Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1856 Theologen und Beamte der staatlichen Verwaltung zu der legendären Konferenz nach Schloss Monbijou einlud, war er mit der Gründergeneration der Inneren Mission der Überzeugung, dass es zwei apostolische Ämter gebe, nämlich das der Wortverkündigung und das Diakonen- oder Diakonissenamt. Die inzwischen eingetretene Entwicklung zur „Pastorenkirche“, so meinte er, bedürfe angesichts der sozialen Herausforderungen dringend der Korrektur. Dazu schlug er eine neue Synodalordnung vor, in der neben den Pfarrern und Presbytern auch den Diakonissen und Diakonen kirchenpolitischer Einfluss zugebilligt werden sollte – genauso wie den Hausvätern als Vertretern der Familienverbände. Auf dem Hintergrund von Wicherns Dreiständelehre sollte damit neben der kirchlichen auch der freien und der bürgerlichen Diakonie Raum gegeben werden. Allerdings war die Ständeordnung der Diakone und Diakonissen, die „Dienerordnung“, wie es in der Vorlage hieß, damals schon umstritten. Während Theodor Fliedner aus Kaiserswerth das Diakonenamt nach reformierter Tradition als ein verantwortliches Laienamt im Leitungsgremium der einzelnen Kirchengemeinden sah, das die Arbeit der diakonischen Mitarbeiter steuerte, dachte der Lutheraner Wichern gesamtkirchlich und wollte im Gegenüber zu den öffentlichen Trägern die eigenständige Stellung des diakonischen Dienstes innerhalb der Kirche stärken. „Wir meinen, die Kirche, die einen lebendigen, geisterfüllten, einen der Kirche würdigen Diakonat will, muss in den Garten der freien Diakonie eintreten, der bereits bestellt ist, Blüten treibt, Früchte zeitigt. ... Und wo das ist, da ist Diakonie, wenn auch noch nicht Diakonat. Aus diesen Christenherzen ... aber kommt der Ruf nach dem Diakonat; in diesen Kreisen ist auch der Beruf zum Diakonat, in ihnen muss auch von der Kirche aus die Berufung zum Diakonat erfolgen“, schrieb Wichern. Mit seinem Plädoyer für ein eigenständiges diakonisches Amt auf allen Hierarchieebenen konnte Wichern sich jedoch nicht durchsetzen.

Dass die EKD-Synode 1993 in Osnabrück diesen Faden wieder aufnahm und der Kammer für Theologie den Auftrag gab, „im Zusammenwirken mit dem Diakonischen Werk der EKD ein Gutachten über Gestalt und Einführung des Diakonats als geordneten Amtes der Kirche zu erarbeiten“, hat wohl weniger mit den bis heute nicht abschließend geklärten Fragen der Gleich- oder Unterordnung des Diakonenamts unter das Predigtamt, sondern mehr mit der Pluralisierung der Gesellschaft und der Professionalisierung und Säkularisierung sozialer Arbeit zu tun. Denn in dem Gutachten der Kammer für Theologie, das der EKD-Synode 1996 vorgelegt wurde,  heißt es : „Solange die christliche Gemeinde sich ... identisch mit der bürgerlichen Gemeinde ansehen durfte, konnten diese Aufträge zur Linderung sozialer Not auch von der bürgerlichen Gemeinde vergeben und versehen werden. Diese Situation besteht heute nicht mehr. In einer pluralistischen Welt sieht sich die christliche Gemeinde herausgefordert, ihre Lebensäußerung und ihre Liebe gegenüber den Notleidenden gemäß Artikel VI der Confessio Augustana auch durch eine eigene, nach außen kenntliche Institution, das geordnete diakonische Amt, wahrzunehmen.“ Damit nimmt die Kammer die Herausforderung auf, in einer nachchristlichen – jedenfalls „nachchristentümlichen“ -, pluralistischen Welt den Zeugnischarakter des Dienstes von Christen deutlich zu machen. Der Diakonat als geordnetes Amt soll das kirchliche Mandat der handelnden Personen in Pflege und Fürsorge, Beratung und Seelsorge, Erziehung und Bildung klären. „Die im diakonischen Dienst stehenden Personen brauchen den Rückhalt im Auftrag der Kirche“, heißt es in der Stellungnahme, und das ist in meinen Augen der Kern dieser gesamten Bemühungen. Die öffentliche Mandatsübertragung könne diesen Rückhalt deutlich machen.

Damit aber kommt das Gutachten nicht umhin, die ungeklärten Fragen von Monbijou wieder aufzunehmen – ohne sie allerdings verfassungsrechtlich lösen zu können. Das dreigliedrige, gestufte Amtsverständnis wird ebenso abgelehnt wie der anglikanische Begriff des „ordainend ministry“, in dem Predigtamt und Diakonat zusammengefasst werden. Bezug genommen wird stattdessen auf die IV. These der Barmer Theologischen Erklärung: „Die verschiedenen Ämter der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und anbefohlenen Dienstes.“ Zwar gelang es in der Zeit der Bekennenden Kirche nicht, das hier dargelegte Verhältnis von Herrschaft und Dienst auch im Blick auf die Einrichtungen der Diakonie zu diskutieren, die sich damals in besonderer Weise mit ethischen Fragen, insbesondere mit der Menschenwürde auseinandersetzen mussten. Aber grundsätzlich kann man den Ansatz der IV. These von Barmen durchaus als einen Ausgangspunkt für eine umfassende Überlegung zu einer Theologie des kirchlichen und damit auch des diakonischen Amts ansehen.

Wer sich also mit der Frage nach dem Diakonat der Kirche auseinandersetzt, bekommt es mit einer langen und verwickelten Diskussion zu tun. Selbst in den diakonischen Gemeinschaften, die zu den Impulsgebern des Synodalbeschlusses von 1993 gehörten, musste ja zunächst einmal am unterschiedlichen Diakonatsverständnis der Schwestern- und Bruderschaften, der Pflegenden im Zehlendorfer Verband und den Berufsgruppen der Diakoninnen und Diakonen gearbeitet werden – von Ausbildungsstandards bis hin zur Verbindlichkeit der Gemeinschaft und zum Verständnis von Professionalität und Spiritualität. Ich bin dankbar dafür, dass diese Diskussion in Ihren Reihen aktiv und eigenständig geführt wurde und das sie schließlich zu einer gemeinsamen Stellungnahme gefunden haben. So weit ist die Kirchenkonferenz, wie Sie wissen, nicht gekommen. Bis heute gibt es keine gemeinsame Richtlinie für den Umgang der Landeskirchen mit dieser Frage.

Das Ringen um die „Ordination zum Diakonat“ hat vielmehr Konfliktlinien sichtbar gemacht, für die es derzeit keine Lösungen gibt. Neben den unterschiedlichen konfessionellen Positionen zur Ämterlehre schien es vor allem um die Bedeutung der verschiedenen Berufsgruppen und Arbeitsfelder im Zeichen knapper werdender finanzieller Ressourcen zu gehen. Ich verstehe die Enttäuschung, die Sie empfinden müssen, wenn die Frage nach dem Diakonat als kirchlichem Stand allzu schnell mit der Frage der Finanzierung eines Berufsfelds verbunden wird; ich kann auch den Ärger nachvollziehen, den Mitarbeitergruppen im diakonischen, pädagogischen oder kirchenmusikalischen Dienst empfinden, wenn die Schlüsselstellung des Pfarrberufs für Kirche und Kirchenreform betont wird, und man eine vergleichbar intensive Diskussion über den Ort anderer kirchlicher Berufsgruppen vermissen muss. Denn das ist nur dann gerechtfertigt, wenn in diesem Beruf Ordination wirklich als Auftrag zur Koordination verstanden wird, und wenn mit der Behandlung des Pfarrberufes als einer Schlüsselposition die Erwartung verbunden ist, dass das Verhältnis von beruflich und ehrenamtlich für die Kirche Tätigen neu geklärt wird.

Aus einer anderen Perspektive kommt man allerdings an dieser Koordinationsfrage gar nicht vorbei. Anders als zu Wicherns oder Fliedners Zeiten ist heute vollkommen unumstritten, dass Diakonie ein „starkes Stück Kirche“ ist. Und unsere Einrichtungen und Dienste haben eine so starke Position auf dem Sozialmarkt, dass dem Arbeitsplatzabbau in der Kirche ein Zuwachs in der Diakonie entspricht. Vielleicht berührt auch deshalb die Frage nach dem Diakonat als geordnetem Amt der Kirche die Mehrzahl der Mitarbeitenden in der Einrichtungsdiakonie kaum. Für sie hat diese Debatte um den Diakonat weder finanzielle Relevanz noch Konsequenzen für ihre beruflichen Perspektiven.

Die Idee des Diakonats als geordneten Amts der Kirche hat sich auch deshalb bisher noch kaum als Ferment zur Verknüpfung von Professionalität und Spiritualität in den relevanten diakonischen Berufen und Handlungsfeldern erwiesen. Das mag darin begründet sein, dass die Entwicklung diakonischer Unternehmen zu Dienstleistungsagenturen, die damit verbundene Aufgaben- und Leistungsorientierung auch der Berufsträger, aber auch die Erwartung an berufliche Flexibilität und Mobilität ein funktionales und zeitgebundenes Dienstverständnis nahe legen, das mit dem traditionellen kirchlichen Amtsverständnis nicht mehr kompatibel ist. Eine Befragung zum diakonischen Amt an der Fachhochschule in Darmstadt jedenfalls zeigte die Sorge vieler Studierender, durch eine besondere Betonung des Diakonats als geordneten Amts könnte eine kirchliche Hierarchie – möglicherweise sogar in Form des gegliederten Amtes – in die Diakonie der evangelischen Kirche Einzug halten, so dass die kirchliche Sozialwirtschaft zusätzlich hierarchisiert würde. Die moderne Differenzierung von privatisierter Religion und beruflicher Arbeit in der Diakonie hat eben das traditionelle Verständnis von Zeugnis- und Dienstgemeinschaft genauso in Frage gestellt wie den Zusammenhang der „Amts“-Kirche mit der „professionellen“ Diakonie.

V.

Es ist an der Zeit, daran zu erinnern, dass die Diakonatsdiskussion des 19.Jahrhunderts im Kontext des Kirchenreformprojekts der Inneren Mission stand und zugleich ein Ausdruck für einen neuen Brückenschlag zwischen Kirche und Gesellschaft war. Ich glaube, wir müssen diese Zielsetzung übernehmen, ohne uns an die damaligen Instrumente zu ketten. Es gelte, „in die Tiefen der Gottheit“ zurückzukehren, um in die Tiefen der Menschen, in ihre Nöte und in die Tiefen der ihnen gebotenen Hilfe einzudringen“, schreibt Wichern 1856 in seinem Gutachten. Das mag aus heutiger Sicht in einer fremden Sprache formuliert sein, in der Sache ist er uns auf neue Weise nah. Die Suche nach geistlichen Quellen korrespondiert mit der Suche nach angemessenen Antworten auf die prekären Lebenslagen der Menschen. Es ging um eine Bewegung, es ging um Veränderung. Diese Dynamik wird im eher statischen Amtsbegriff für unser heutiges Verstehen nicht deutlich; ja, der Begriff selbst ist im Kontext der Dienstleistungsgesellschaft missverständlich, auch wenn er theologisch gesehen den Dienst beschreibt. Auch die Zugehörigkeit zu einer diakonischen Gemeinschaft hat in den modernen diakonischen Unternehmen kaum noch Bedeutung für Ausbildung und Berufskarriere; umgekehrt spielt die Einsegnung in den Kirchen nur eine untergeordnete Rolle, wenn es um Kollegialität und Entscheidungsverfahren geht.

Das darf aber nicht den Blick darauf verstellen, dass diejenigen, die ihren Dienst in der Diakonie theologisch reflektieren wollen und über ihren Dienst hinaus spirituelle Gemeinschaft suchen, gerade in Zeiten der Ökonomisierung sozialer Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Profilierung der Diakonie leisten, und dass die Freiwilligen, die in der Diakonie Gemeinschaft suchen, zu einem Dienst bereit sind, der mehr ist als Dienstleistung – nämlich eine Entdeckungsreise zu sich selbst in der Begegnung mit Gott. Der Diakonat als Kirchenreformprojekt darf deswegen nicht nur als innerkirchlicher Streit um Ordinations- und Verteilungsfragen verstanden – und damit vorläufig ad acta gelegt werden. Mehr denn je brauchen wir eine kirchlich verankerte und spirituell verdichtete diakonische Professionalität, um innerhalb und außerhalb der Gemeinden und der diakonischen Dienste Lernprozesse anzuregen. Es geht darum, die spirituelle Dimension im sozialen Alltag wahrzunehmen, ethische Entscheidungen theologisch zu reflektieren, den Blick über den Augenblick hinaus auf Herkunft und Zukunft des Lebens zu richten und auch in Unsicherheiten standzuhalten. Es geht darum, wahrzunehmen, was geschieht, und nach Gottes Willen zu fragen. Es geht darum, Gemeinschaft anzubieten und aufrecht zu halten. Sicher geht es heute auch darum, den neuen Zeit- und Leistungsdruck sowie die Arbeitsverdichtung in professionellen Diensten kritisch zu reflektieren und die nötigen Widerstandspotenziale zu vermitteln. Es geht, um mit Wichern oder Fliedner zu sprechen, um nicht mehr und nicht weniger als die Gestaltwerdung des Reiches Gottes mitten in den Herausforderungen der Gegenwart.

Die Gemeinschaft, in der Gottes Wort gehört und sein Name angerufen wird, die Gemeinschaft, in der Brot und Wein geteilt werden, ist Quelle und Symbol diakonischen Handelns, Schnittpunkt und Fluchtpunkt des Ineinanders von Kirche und Diakonie. Die Glaubwürdigkeit der eucharistischen Gemeinschaft und damit der Kirche selbst steht deswegen auf dem Spiel, wo es in ihrem Wirkungsbereich an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fehlt. Aus dem Konflikt um den allgemeinen Diakonat der ganzen Gemeinde erwächst in der Ursprungsgeschichte des Diakonats (Apostelgeschichte 6) die Begründung des diakonischen Auftrags. Auch der Diakonat des 19. Jahrhunderts ist im Kontext weiter gefasster diakonischer Gemeinschaften entstanden. Brüderhäuser und Schwesternschaften verstanden Diakonie eben nicht nur als Ausdruck und Funktion des institutionellen Handelns der Kirche, sondern als Ausdruck einer Lebens-, Glaubens- und Dienstgemeinschaft – also als Ausdruck von Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden. Dabei zeigte sich das Kirchesein an der Verknüpfung von Aktion und Kontemplation, an der Gegenwart des Sakraments inmitten der alltäglichen Hingabe. Dieser Zusammenhang besteht nicht mehr in der überlieferten Form – genauso wie der von Beruf und Lebensgemeinschaft, von grundsätzlicher Berufung und einem bestimmten Beruf oder von Spiritualität und diakonischer Professionalität. Diese Verbindung muss heute neu geknüpft werden, in anderen Formen, als dies im 19. Jahrhundert auf eine für lange Zeit prägende Weise geschah. Die Diskussion über den Diakonat ist einer der Kristallisationspunkte für die neue Suche nach dieser Verbindung. Darin sehe ich die entscheidende Bedeutung dieser Diskussion.

Denn auch heute wächst Gemeinschaft, wo Menschen einander vor Gott begegnen – in Krisen, an Schwellen, im sakramentalen Handeln, in Erziehung und Sterbebegleitung. Gerade an diesem letzten Beispiel kann man sehen, wie die unterschiedlichen Berufsgruppen  alle in ihrem professionellen und mit ihrem geistlichen Handeln gefragt und beteiligt sind und wie mit den unterschiedlichen Bedürfnissen und Phasen des Sterbenden zugleich die Vielfalt der Begleiterinnen und Begleiter mit ihren unterschiedlichen Gaben und Aufgaben in den Blick tritt. Diakonische Gemeinschaften können daran erinnern, dass ein solches Beziehungsgefüge das Unverwechselbare der Einzelnen stärkt und allen Charismen Raum gibt. Das allgemeine Priestertum, das allgemeine Diakonat, die Vielfalt der Charismen ist es, was uns trägt. So allein werden wir auch in der Lage sein, dafür zu sorgen, dass wir in der Pluralität der modernen Gesellschaft die Antworten des Glaubens kommunizieren können - in unterschiedlichen Ämtern und Diensten, mit verschiedenen Kompetenzen und Lebenserfahrungen.

Für die Diskussion über den Diakonat wird deshalb die Öffnung für Mitarbeitende mit anderen Ausbildungen wie für einen stufenweisen, modularisierten Weg der Zertifizierung der Bildungsgänge genauso wesentlich sein wie die Entwicklung von begleitenden Angeboten für Mitarbeitende vom Mentorat bis zur geistlichen Begleitung. Dass Ihr Verband dies ins Gespräch mit den anderen diakonischen Verbänden einbringt, nehme ich dankbar wahr. Ich hoffe darauf, dass sich hieran ein fruchtbarer Anknüpfungspunkt für die kirchlich-diakonische Personalentwicklung insgesamt zeigen wird.

Denn die zu Grunde liegende Fragestellung geht alle an. Es geht um die wechselseitige Beziehung von Gottesdienst und Dienst im Alltag der Welt, um die Verbindung von Auftrag und Leben. Mit dem Begriff Diakonat wird die Einheit des Dienstes in aller organisatorischen und funktionalen Ausdifferenzierung festgehalten. Dazu gehören ohne Zweifel neben fachlicher und sozialer Kompetenz theologische Qualifikation, spirituelle Vertiefung und die Bereitschaft, sich in den Dienst der Kirche Jesu Christi zu stellen. Auf diese Bereitschaft antwortet die Kirche mit Zuspruch und Bestätigung. Dass dies immer öfter und gut abgestimmt geschehen kann, dafür will ich mich persönlich auch weiterhin einsetzen. Damit für jedermann erkennbar wird, wes Geistes Kind wir sind und um wessen Dienst es geht.