„Gottes Kinder – die Pflicht der Kirche“ Vortrag auf der Veranstaltung der Peter-Maffay-Stiftung in Tutzing

Wolfgang Huber

Gottes Kinder – die Pflicht der Kirche

Vor ein paar Monaten sah ich ein preisgekröntes internationales Pressefoto. Es zeigt ein kleines Mädchen, das im weißen Sonntagskleidchen beschwingt durch den Dreck eines afrikanischen Slums läuft, als gehöre es eigentlich in eine andere Welt. Das Bild erzählt von der Lebenskraft eines Kindes, von den Hoffnungen seiner Eltern, von der Schönheit des sonntäglichen Gottesdienstes, der den hässlichen Alltag unterbricht, von der Würde der Armen und davon, dass dieses kleine Mädchen noch tanzen kann, weil es auf eine Zukunft hofft, die es noch nicht sieht. Die Kinder dieser Erde bringen neue Ideen und neue Fragen in die Welt. Sie werden einmal die Lasten tragen, die wir in die Welt gebracht haben und die Geschichte weiter schreiben, die wir ihnen übergeben. Sie werden in einer Welt  leben, die wir noch nicht kennen und nicht mehr betreten werden.

Kinder kommen aus einer anderen Wirklichkeit und bringen etwas von dieser Wirklichkeit in die unsere. Jedes neue Leben zeigt das auf seine Weise. Kinder sind Gottes Herzen besonders nah. Ihre Engel im Himmel, sagt Jesus einmal, sehen allezeit das Angesicht meines Vaters. Kinder sind voller Zukunft und Hoffnung, verletzlich und ganz und gar angewiesen auf unsere Liebe. Wer eines von diesen Kleinen beschwert, sagt Jesus, der sollte mit einem Mühlstein um den Hals versenkt werden, wo das Meer am Tiefsten ist. Die Evangelien erzählen eindrücklich, wie er seine Begleiter anfährt, als sie die Kinder wegschicken wollen, weil sie stören. Und wie  er stattdessen die Kleinen zu sich kommen lässt, sie zärtlich auf den Arm nimmt, an sein Herz drückt und segnet.

Die Evangelien berichten auch von einer Szene, die mir als inneres Bild in den Sinn kommt, wenn ich über Schutzräume für Kinder nachdenke. Jesus wird  gefragt, wer bei Gott der Größte sei. Die ihn so fragten, werden wohl an mächtige Potentaten oder einflussreiche Lehrer gedacht haben. An alle, die das Land und die einzelnen voranbringen. An Leistungsträger und Propheten. Jesus aber ruft ein Kind und stellt es mitten in den Jüngerkreis. Da stehen die Großen und beugen sich hinunter – eine lebendige Schutzmauer. Die Kleinsten sind die Größten bei Jesus. Er stellt das Kind in den Mittelpunkt und gibt ihm eine besondere Würde, ja, er identifiziert sich mit den Kleinsten und Schwächsten, mit ihrer Offenheit, aber auch mit ihrem Leid. In Jesus wird Gott selbst ein Kind; noch als Erwachsener nennt er Gott in vertrauter und vertrauensvoller Anrede seinen Vater. Mit dem Blick auf die Kleinsten und Schutzlosen sagt er seinen Jüngern: „ Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“

Diese wunderbaren Texte der Bibel haben den Umgang mit Kindern in unserer Kultur geprägt. In unseren Kirchen wird die Geschichte von der Kindersegnung gelesen, wenn wir Kinder taufen. Lieder wie „ Weißt Du, wie viel Sternlein stehen“ erzählen davon, dass Gott jedes Kind liebt. „Kennt auch Dich und hat Dich lieb“ – das haben Sie vielleicht selbst als Kind gern gesungen. Als Friedrich Fröbel um das Jahr 1840 den „Kindergarten“ erfand – ein deutsches Wort, das weltweit Karriere machte – , da ging es ihm darum, dass jedes Kind beschützt heranwachsen und seine Gaben entfalten kann. Damals wurden Spielplätze gebaut, aber auch neue Kinderbücher, Kinderlieder und Kinderbibeln geschrieben. Und die Zusage, dass wir Jesus selbst begegnen, wenn wir Kindern Gastfreundschaft und Schutz bieten, stand über Generationen an den Häusern unserer Kinder und Jugendhilfe.

Eines der schönsten Kinderbücher ist für mich: „König Hänschen der Erste“. Sein Autor, der polnische Kinderarzt Janusz Korczak, leitete ein jüdisches Waisenhaus in Warschau und ging 1942 mit den Kindern, die ihm anvertraut waren, freiwillig in das Vernichtungslager Treblinka. Er liebte sie so, dass er sie auch in den schlimmsten Stunden nicht verlassen wollte. „Wie man ein Kind lieben soll“, heißt denn auch sein wichtigstes Buch für Erwachsene.

„Jedes Kind hat ein Recht auf Fehler, auf Achtung, auf Versagen und auf Erziehung“, schreibt Janusz Korczak. Er war davon überzeugt, dass alle Kinder das gleiche Recht auf Gesundheit und Erziehung, auf Spiel und Bildung haben, gleich in welche Familie sie geboren sind. Denn „Kinder haben es nicht in der Hand, in welche Lebensumstände sie geboren sind“, heißt es ja auch auf der Homepage der Peter Maffay-Stiftung.

Noch immer leben in unserem Land knapp drei Millionen Kinder in Armut – Kinder, die in unserem Land offiziell gemeldet sind, Kinder von Asylbewerbern und Flüchtlingen mit unterschiedlichem, oft ungewissem Rechtsstatus, Kinder ohne Aufenthaltsrecht, sogenannte „sans-papiers“. Damit können wir uns nicht abfinden. Erst recht aber muss uns die Lage von Kindern in Ländern ohne Sozialsystem und Schulpflicht, in Kriegs- und Krisengebieten beunruhigen. Kindersoldaten und Straßenkinder, Aidswaisen und Arbeitssklaven haben ihre Kindheit früh verloren. Ihnen fehlt es an allem, was sie brauchen, um das Leben zu meistern – an Geborgenheit und Respekt, an einer tragfähigen Gemeinschaft. Kinder, die in Armut aufwachsen, haben weltweit wenig Zugang zu Bildung und müssen häufig trotzdem schon früh für den Unterhalt der Familie sorgen, vor allem durch Betteln.

Dass alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen und nationalen Herkunft eine faire Chance erhalten, ihre Talente zu entdecken und zu entwickeln, bleibt unser Auftrag; die Pflicht aller Christinnen und Christinnen wie aller Menschen guten Willens. Deshalb sehe ich mit besonderer Freude auf das breite Bündnis, das Peter Maffay zusammengebracht hat – um Kindern in Not beizustehen, unabhängig davon, woher sie kommen und wo sie leben. Ich bringe in dieses Bündnis gern die Stimme der Kirche ein.

Eltern stützen – Kinder schützen; äußere und innere Armut; Kinder stark machen als der beste Schutz: das sind die drei Akzente, die ich setzen möchte.

Eltern stützen – Kinder schützen

Der erste Raum der Welteinwohnung für Kinder ist die Familie. So plural Lebensformen gegenwärtig auch sein mögen: Keine Gesellschaft kann ohne Familien leben. Kein Gemeinwesen kann die Solidarität ersetzen, die in Familien entsteht. Familien sind aber nicht nur Schonräume und Inseln der Seligen. Sie sind auch Trainingsräume zur Vorbereitung auf Angst und Kälte im Zusammenleben. Sie sind Erfahrungsräume des Glücks und Erschreckens. Beide Erfahrungen sind in der Familie zu Hause: Liebe und Geborgenheit ebenso wie Gewalt und Leid. Familie als Wattepackung ist eine Illusion. Wer das voraussetzt, verleugnet die erzieherische Funktion der Familie. Denn zu ihr gehört auch die unvermeidliche Konfrontation. Weil viele Eltern das Ziehen von Grenzen nicht als Aufgabe in der Familie wahrnehmen, geben sie aus Hilflosigkeit oder Angst ihre Erziehungsaufgabe preis und überlassen ihre Kinder sich selbst.

Aber auch Eltern, die viel Zeit und Kraft und natürlich auch finanzielle Ressourcen für Ihre Kinder einsetzen – und das können wir gar nicht hoch genug schätzen – auch solche Eltern brauchen zunehmend mehr Unterstützung. Familien brauchen Sicherungen gegen einen Absturz, wenn von zweien ein Ernährer ausfällt, wenn sich das Geld halbiert und mit jedem Kind die Kosten steigen. Und es bedarf einer verlässlichen Infrastruktur mit leicht erreichbaren Hilfsangeboten für diejenigen Familien, die ihren Kindern und deren Entwicklung aus eigener Kraft nicht gerecht werden können.

In den letzten Jahren hat sich die Atmosphäre in Deutschland in dieser Frage entscheidend verbessert. Ein Wandel hat eingesetzt. Die Einführung des Elterngelds hat Frauen geholfen, an einer Berufskarriere festzuhalten und sich trotzdem für ein Kind zu entscheiden. Das Elterngeld macht Vätern möglich, nicht nur der Erwerbsvater zu sein, sondern auch ein Erzieher. Das Kinderförderungsgesetz mit seiner Verstärkung der familienergänzenden Unterstützungssystemen und die Programme für die Erweiterung des Ganztagsschulangebots sind ein Anfang auch für  Alleinerziehende, auch wenn die Regelzeiten von Tageseinrichtungen und Schulen insgesamt noch besser abgestimmt werden müssten. Mehr als wir über lange Zeit wahrhaben wollten, sind Familienpolitik, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik verschränkt.  Und gute Kindertageseinrichtungen und Schulen können auch arbeitslosen Eltern einen beruflichen Wiedereinstieg ermöglichen.

Doch nach wie vor leben Familien in unserem Land unter prekären Bedingungen. Das gilt nicht nur dort, wo die Eltern von Arbeitslosigkeit bedroht oder von Hartz IV abhängig sind. Ein Vater hat mir seine Situation in der vergangenen Woche in einem Brief folgendermaßen beschrieben:

„Eigentlich geht es bei uns ganz normal zu. Ich bin selbständiger Versicherungsvertreter, meine Frau arbeitet als Sekretärin. Der Tag beginnt um 6.00 Uhr, meine Frau springt um kurz vor sieben in den Zug.  Ich wecke beide Kinder und bringe sie zur Schule – keine normale Schule, sondern eine Privatschule, die von 7.30 bis 17.00 Uhr die Kinder versorgt. Da wir nicht immer pünktlich daheim sind, gewährleistet eine Studentin die Abholung der Kinder. Wir haben eine Wohnung mit 120 qm, das ist schon ein bisschen Luxus. Leider sind die Mietpreise sehr hoch. Unsere Möbel sind eine Mischung aus Omas alten Prachtstücken und IKEA. Wir kaufen ein bei Norma und ALDI Lebensmittel, gerne auch mal auf dem Bauernmarkt. Wir fahren einen acht Jahre alten Wagen. Sämtliche Elektrik ist etwas veraltet, aber funktioniert. Klamotten für Mama oder den Papa im Büro gibt es im Schlussverkauf. Für die Kinder kauft Opa die Schuhe, auch sind gebrauchte Klamotten von Freunden willkommen. Unser letzter Urlaub waren 9 Tage in einer Jugendherberge an der Ostsee. Soweit irgendwie doch alles nett und schön, oder? Da wir uns gut verstehen, eigentlich ein ‚heiles Stück Deutschland’! Doch leider stehen wir wirtschaftlich am Abgrund, nicht weil wir maßlos konsumieren oder faul sind, sondern nur ein ganz normales Leben führen. Es darf nichts passieren, kein Defekt der Waschmaschine, kein besonderer Wusch zum Kindergeburtstag und kein Loch im Auspuff unseres Autos. Die Realität hat die Idylle zerstört. Der Kommentar eines Steuerberaters: „Hätten Sie keine Kinder, dann ginge es Ihnen ja gut!“ Meine Frau sitzt bei Frühstück und heult, weil sie Existenzängste hat. Eigentlich wollen wir nur arbeiten und unsere Ruhe, den Kindern eine vernünftige Ausbildung bieten und selber normal leben und alt werden. Das ist hier nicht mehr drin. Wie soll es weitergehen. Darauf hätten wir so gerne eine Antwort.“

Adressiert war dieser Brief mit: „Liebe evangelische Kirche“. Mir ist das zu Herzen gegangen; ich war angerührt durch das Vertrauen, das daraus sprach. Aber auch davon, dass Familien mitten in unserer Gesellschaft und mitten im Leben an den Rand ihrer Kräfte und ihrer Möglichkeiten geraten. Schon bei Familien mit zwei oder mehr Kindern reicht ein Durchschnittseinkommen (2007 waren das 30.000 Euro) trotz Kindergeld nicht, um oberhalb des steuerlichen Existenzminimums leben zu können. Je mehr Kinder, je niedriger der Bildungsstand, je instabiler die Familie, desto höher die Gefahr, dass Mütter und Väter auch mit Einkommen an die Armutsgrenze geraten. Vor allem Familien mit Migrationshintergrund trifft es – und dabei lebt ein Drittel der Kinder unter 6 Jahren inzwischen in diesen Familien. Zahlreiche Kinder und Erwerbslosigkeit sind in unserem Land die größten Risikofaktoren für Armut. Und genauso wie sich ein niedriger Bildungsstatus in Armut ausdrückt, so schlagen sich umgekehrt prekäre Verhältnisse im Bildungsstatus nieder.

Über 2,5 Millionen Kinder leben in Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind. Hinzu kommen die Kinder aus Flüchtlings- und Asylfamilien. Die Nationale Armutskonferenz spricht insgesamt von 3 Millionen Kindern in Armutsverhältnissen. Ihre Chancen auf einen guten Schulabschluss sind deutlich geringer als die von Kindern aus der Mittel- und Oberschicht. Warum schauen wir noch immer zu wenig auf die Potenziale dieser Kinder? Wem es nicht gelingt, sich möglichst früh gut zu qualifizieren, der kann unter heutigen Leistungsanforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht mithalten; der ist vor allem nicht in der Lage, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Rund 64 Prozent alle Sozialhilfeempfänger haben keinen Schulabschluss oder sind Hauptschulabgänger.

Äußere und innere Armut

Kinder, die in armen Familien aufwachsen, haben nicht nur weniger Zugang zu Bildung. Sie  leben in beengten Verhältnisse, in Wohnvierteln mit schlechter Infrastruktur, wo die Schwimmbäder geschlossen sind und Spritzen in den Parks herumliegen. Sie haben wenig Entfaltungsraum und  wenig soziale Kontakte zu Gleichaltrigen. Sie finden nur selten den Anschluss an Gruppen in Sportvereinen und Jugendverbänden. Solche Kinder sind oft durch Probleme in ihren Familien psychisch stark belastet und zugleich gesundheitlich schlecht versorgt. Ihre Eltern sind zumeist selbst so belastet, dass sie ihren Kindern wenig Unterstützung zur Bewältigung des Alltags und wenig Hilfe in Krisensituationen geben können. Nähe und Geborgenheit sind aber wichtige Voraussetzungen dafür, dass Selbstvertrauen wachsen kann. So wird äußere Armut zur inneren Armut. Ein geringeres Selbstbewusstsein, geringere Frustrationstoleranz, weniger Hoffnung, das Leben zu meistern, machen aus einer Niederlage ein Versagen. Wer immer wieder vor verschlossenen Türen steht, hört irgendwann auf, gegen die Wand zu laufen.

In unserer kirchlichen und diakonischen Arbeit begegnen wir diesen Realitäten auf vielfältige Weise. Die Erfahrungen, die wir dabei sammeln, führen zu der Folgerung: Wir brauchen eine eigenständige, verlässliche Grundsicherung für Kinder. Wir brauchen Regelsätze, in denen auch ein Ansatz für Bildung enthalten ist. Denn der Besuch einer Gesamtschule oder eines Gymnasiums ist heute oft mit Zusatzkosten verbunden – nicht nur für Bücher und Mittagessen, auch für Computer und Kinobesuche. Wer  als Hartz-IV-Empfänger seinem Kind Nachhilfe verschaffen will, wird ganz schnell an finanziellen Grenzen scheitern, es sei denn, er verfügt über zusätzliche Unterstützung von Großeltern oder Verwandten, die diese Aufgabe übernehmen. Die Initiative für ein Schulbedarfspaket und die wieder eingeführte Übernahme von Schulfahrten ist ein erster Schritt.

Im vorigen Jahr erschien das Buch “Arme Kinder – Reiches Land“, in dem Huberta von Voss über die Schicksale der Kinder berichtet, die heute besonderen Schutz brauchen. Sie erzählt, wie in Berlin-Hellersdorf einmal im Monat mit allen Kindern gefeiert wird, die Geburtstag hatten, weil ihre Eltern selbst das vergessen. Sie hat die Anlaufstellen der Tafeln besucht – 600 gibt es inzwischen in Deutschland, vor allem auch die Kindertafeln. Sie erzählt von Kindern, die bis mittags nichts zu essen haben, die ohne Unterwäsche in die Arche kommen und nicht zum Arzt gebracht werden, wenn ihnen der Eiter aus den Ohren läuft. Kinder, bei denen es am Nötigsten fehlt.

Eine  wachsende Zahl von Kindern musste in den letzten Jahren wegen des Verdachts auf Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch in die Obhut der Jugendämter genommen werden. Um sie zu schützen, entstehen nun neue gemeinwesenorientierte Frühwarnsysteme. Ärzte, Hebammen und Familienpflegerinnen sollen enger mit Krippen, Tageseinrichtungen oder Beratungsstellen zusammen arbeiten. Auch Kirche und Diakonie engagieren sich und bringen ihre Erfahrungen ein. Seit Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes im Jahr 1991 hat sich die überwiegend freiwillige Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen mehr als verdoppelt, und der Bedarf steigt – in Erziehungsberatungsstellen und Einzelfallhilfen.

Inobhutnahmestellen, Notschlafstellen und sogenannte Clearingeinrichtungen geben Schutz und Orientierung in akuten Situationen. Kinder- und Jugendheime und Pflegestellen können Heimat sein – auf Zeit oder bis zum Erwachsenwerden –, wo Kindern ein Leben in ihrer leiblichen Familie nicht möglich ist.

Die schwierige Arbeit der Erzieher und Erzieherinnen, Sozialpädagogen, Beraterinnen und Berater, die in diesen Stellen mit Eltern und Kindern arbeiten, verdient hohe Anerkennung. Angesichts mancher öffentlicher Debatten ist es wichtig,  zu betonen, dass sie in den allermeisten Fällen – oft unter schwierigen Umständen – gute und erfolgreiche Arbeit leisten. Dies trifft natürlich ebenso  für die Fachkräfte in den Jugend- und Sozialämtern zu.

In der Erinnerung an frühere Phasen der Kinder- und Jugendhilfe ist diese wichtige Aufgabe neuerdings ins Gerede gekommen. Ich sage sehr klar: Fehlentwicklungen, die es gab, sind ebenso klar wie fair aufzudecken. Aber zugleich verdient das wichtige Aufgabenfeld der Hilfe für Kinder und Jugendliche unsere Anerkennung und Wertschätzung. Wichtig ist es vor allem, den Fachkräften in diesem Feld einen möglichst klaren Rahmen für ihr verantwortliches Handeln zu geben und die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, möglichst positiv zu gestalten. Die jüngst unter dem Titel „Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe“ gesetzlich vorgenommenen Konkretisierungen haben wir im Bereich der evangelischen Kirche deshalb positiv aufgenommen und umgesetzt.

Kinder stark machen als der beste Schutz

Dass wir die Kindheit als einen Schutzraum verstehen, ist nicht neu. Über einen langen Zeitraum hat sich diese Überzeugung ausgebildet. Das Verbot der Kinderarbeit und der institutionalisierte Kinderschutz sind deutliche Signale dafür. Aber der „Schutzraum Kindheit“ scheint in unserer Gesellschaft  brüchig zu werden. Besonders deutlich zeigt sich das an der medialen Durchdringung der Kindheit, die sich mit der technischen Entwicklung andauernd beschleunigt. Die intensive medienpolitische Debatte um Computerspiele  und um Internetfilter für Kinderpornographie macht den grundlegenden Wandel der „Kindheit“ deutlich. Mit dieser Entwicklung wächst die Erziehungsverantwortung der Erwachsenen. Wir dürfen nicht vor der Aufgabe kapitulieren, Kinder und Jugendliche zu schützen, sie aber auch darin zu stärken, dass sie sich selbst vor Übergriffen und Gefahren  schützen. Wichtiger noch als Gesetze sind dabei Vorbilder, aber auch Geschichten, Bilder und Lieder vom Leben, die Lust auf Leben und Zukunft machen. Die Kirche als ein Raum, in dem innere Kraft vermittelt und äußere Geborgenheit gewährt wird, steht in ihren Gemeinden wie in den besonderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe vor einer großen Aufgabe, die sich aber nur gemeinsam mit anderen bewältigen kann.

„Die Jugend hat Heimweh nach der Zukunft“ hat Jean Paul Sartre einmal gesagt. Jedes Kind, jeder Jugendliche hat die tiefe Sehnsucht zu werden, wie er gemeint ist, die eigenen Gaben zu entfalten, eine eigene Aufgabe und einen Platz in der Welt zu finden. Jedes Kind hat ein Anrecht darauf, seine Gaben zu entwickeln und eigene Weichen für seine Lebensplanung zu stellen, vor allem aber: sich als wertvoll und nützlich zu erleben.

Deutschland ist Weltmeister im Aussortieren. „Die einen häufen Bildung an, die andern fallen raus“, sagt Eckart Klieme, einer der Autoren des Bildungsberichts. Einige sammeln Zeugnisse und Diplome, andere sammeln Niederlagen, schwänzen und verabschieden sich dauerhaft aus dem Klassenzimmer. Das ist eine Bankrotterklärung, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Denn wer andere verloren gibt, wird selbst zum Verlierer. Wer an den Kindern spart, wird in Zukunft verarmen. Jeder braucht das Recht auf einen Hauptschulabschluss. Und Schulen, deren Besuch bereits als so diskriminierend erlebt wird, dass er weitere Zugänge versperrt, müssen sich ändern. Viel zu oft landen Kinder von Einwanderern nur deshalb auf Sonderschulen, weil sie noch nicht genügend Deutsch sprechen; das darf jedoch kein Grund für eine abgebrochene Bildungskarriere sein. Aber neben den messbaren Lernfortschritten in Sprachen oder Mathematik sind Sport, kreative Fächer und die Vermittlung von Orientierungswissen in religiösen, ethischen und kulturellen Fragen ebenso wichtig.  Peter Maffay hat Recht, wenn er Musik und Reittherapie, Malen oder Theater in den Mittelpunkt seiner Kurse stellt. Zugleich müssen wir überprüfen, ob der „Schutzraum Kindheit“ Kindern noch den notwendigen Freiraum gibt, um selbstbestimmt zu lernen, eigene Begabungen und Fähigkeiten zu entwickeln.

In jüngster Zeit hat die Psychologie uns beigebracht, das Kind in uns selbst zu entdecken. Das verletzte Kind, aber auch das neugierige und spielerische Kind – das „inner child“ eben. Unsere Kindheit prägt uns ein Leben lang. Vernachlässigung in der Kindheit, Verletzungen und Traumatisierungen, frühe Trennungen können zu psychischen und körperlichen Erkrankungen im Erwachsenenalter führen, die wir oft gar nicht damit in Verbindung bringen – Suchterkrankungen und Depressionen zum Beispiel. Das innere Kind bleibt lebendig in uns – aber wir sind nicht ein Leben lang Kinder. Spätestens dann nicht mehr, wenn die eigenen Eltern gestorben sind. Und manche Kinder müssen das sehr früh erleben – zum Beispiel heute im südlichen Afrika. In manchen Familien unserer Gesellschaft ist  das Verhältnis von Eltern und Kindern schon lange vor dem endgültigen Abschied tief zerrüttet, wenn nicht abgebrochen.

„Mein Vater und meine Mutter verlassen mich“, heißt es in Psalm 27, „aber der Herr nimmt mich auf.“ Viele Christen verstehen es bis heute als ihre Pflicht, auch selbst für das einzustehen, was dieses Bibelwort zusagt. Sie versuchen, Kindern, die elternlos sind oder sich elternlos fühlen, ein zu Hause zu bieten. Sie nehmen Pflegekinder auf, sie kümmern sich um ihre Patenkinder, sie fördern Patenkinder in aller Welt oder adoptieren Kinder aus dem In- oder Ausland. Die Ermutigung zu einem solchen persönlichen Einsatz ist einer der wichtigsten Beiträge, die wir in den Kirchen zu einem Schutzraum für Kinder und Jugendliche leisten können.

Dafür ein Beispiel: In diesem Jahr feiert die Kindernothilfe ihr 50-jähriges Bestehen. Sie fördert seit langem Kinder in Afrika und Lateinamerika, inzwischen aber auch in Russland oder in Osteuropa, sorgt für Nahrung und Schulbildung, holt sie von der Straße holt und gibt ihnen eine Berufsausbildung. Erzieherinnen, Tanten und Großeltern, aber auch Geschwister kümmern sich mit Unterstützung der Kindernothilfe nicht zuletzt um die vielen Aidswaisen im südlichen Afrika. Förderer in Deutschland gewinnen einen direkten Kontakt zur Lebenswirklichkeit der Kinder, die durch solche Unterstützung eine Chance für ihr Leben erhalten.

„Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf.“ Das ist ein großes Versprechen, das Halt und einen inneren Schutzraum gibt, wo alle äußeren Sicherheiten zerbrechen. Gottes Kind bleiben wir ein Leben lang. Die Kindschaft, die uns in der Taufe zugesprochen wird, ist zugleich die Aufnahme in einer neue, in eine größere Familie, in der wir Gott als Vater anrufen dürfen.

Jedes Kind braucht einen Schutzraum für sein „inner child“. Wie es um diesen Schutzraum stand, hat Auswirkungen für ein ganzes Leben. Kinder brauchen Orte, an denen sie sich mit ihrer Lebensgeschichte einwurzeln, Träume von der Zukunft entwickeln und Verantwortung lernen können. Familien, Vereine, Kirchengemeinden und Schulen müssen zu mehr Partnerschaftlichkeit finden und Kindern, die es schwerer haben, gemeinsam dabei helfen, ihren Weg zu finden. Kinder brauchen Ansprechpartner und Vorbilder, die ihnen etwas zutrauen und anvertrauen und die ihnen Orientierung geben. Die Lebensgeschichten von Migrantenkindern, die sich gegen manche Widerstände schulisch und beruflich durchsetzen konnten, zeigen, dass Lehrer und Lehrerinnen, Nachbarn und andere Mentoren dabei eine wichtige Rolle spielen.

Lassen Sie mich mit einem persönlichen Bekenntnis schließen: Am Ende kommt es darauf an, dass wir lernen, uns als Gottes Kinder zu begreifen in seiner Liebe geborgen zu sein. In einem der beliebtesten Choräle, dem Lied „Lobe den Herren“, heißt es am Ende: „In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“ Wer sich bewusst ist, wie oft er Gottes Schutz erfahren hat, wer die Augenblicke nicht verdrängt, in denen er besonders gefährdet und Schutz bedürftig war, der wird auch anderen Schutz und Geborgenheit geben. Ich danke Peter Maffay dafür, dass er auf seine Weise dafür ein Zeichen setzt.
Für Gottes Kinder in der Welt da zu sein – das braucht ein breites Bündnis mit vielen Partnern. Damit der Traum wahr wird, den Janucz Korczak geträumt hat: „Jedes Kind hat ein Recht auf  Fehler, auf Achtung, auf Versagen und auf Erziehung. Jedes Kind hat eine eigene Würde.“ Ich füge hinzu: Jedes Kind ist Gottes Kind.