"In dir muss brennen, was in anderen zünden soll!" - Die Frage nach Gott im Religionsunterricht der Berufsschule

Wolfgang Huber

Bad Boll

I.

Zu Ihrem Nachdenken über Aufgaben des Religionsunterrichts in der Berufsschule trage ich aus einer besonderen Perspektive bei. Denn in Berlin hat der Religionsunterricht in der Berufsschule eine ziemlich einmalige Form. Er wird in einer Seminarform erteilt, die in ihrer Struktur politischer Bildung nahe kommt. Das geschieht, damit alle Schülerinnen und Schüler im Gruppenverbund an den Blockangeboten teilnehmen können. In Brandenburg geht es noch immer wie in manchen neuen Bundesländern darum, Religionsunterricht überhaupt an der Berufsschule zu etablieren. Dies ist bisher noch nicht gelungen. Von daher betrachtet, komme ich hier in eine Oase. Ich hoffe, ein Teil unserer gemeinsamen Zeit dient meiner Erbauung, indem ich von Ihnen höre, wie es in einem Land ist, in dem Religionsunterricht an der Berufsschule gut funktioniert. Herzlichen Glückwunsch im vorhinein!

Dieses Lebens- und Arbeitsfeld wird in dem Titel meines heutigen Vortrags verbunden mit der Frage nach Gott, der schwierigsten Frage, die es überhaupt gibt. Glücklicherweise steht über unserem Vormittag und über meinem Vortrag zugleich ein Motto, das es etwas leichter macht. Es wird auf den Kirchenvater Augustin zurückgeführt und heißt: „In dir muss brennen, was in anderen zünden soll!“

Das ist eine Binsenweisheit. Sie wird derzeit mit besonderer Vorliebe von Managementtrainern verwendet. Coaches oder Werbefachleute stimmen darin überein, dass das A und O für jeden, der eine Botschaft rüberbringen will, darin besteht, dass er sich als Person mit dieser Botschaft in einer erkennbaren Weise identifiziert. In ihm muss brennen, was in anderen zünden soll. Als Person muss er ein klares Lebensverhältnis zu der Sache haben, für die er andere begeistern will. Diese Binsenweisheit gilt auch im Bereich der Pädagogik. Ich zitiere als Beispiel, den Pädagogen der Gegenwart, der sich mehr als viele andere für geflügelte Worte eignet. Bei Hartmut von Hentig kann man lesen: „Die erziehende oder lehrende Person muss ins Spiel kommen, ja sie ist das stärkste Mittel, über das Lehrende oder Erziehende überhaupt verfügen.“ Alle, die in pädagogischen Prozessen stehen, wissen, dass das gleichzeitig eine Gefahr ist. Denn es gibt eine Form der Überidentifikation, die dann von Schülerinnen und Schülern oder von anderen Lernenden erwartet, dass sie sich ihrerseits vorbehaltlos mit der Position des Lehrenden identifizieren. Es gibt ein falsches Brennen das dem Schüler oder der Schülerin die eigene Position, den selbst erworbenen Standpunkt gerade verweigert. Das Ergebnis ist in Wahrheit kein Lernprozess; vielmehr wird auf diese Weise die Grenze vom Lernen zum Indoktrinieren überschritten.

Wenn man die große Traditionslinie von Augustin bis Hartmut von Hentig auf den Bereich der Pädagogik insgesamt anwendet, muss das so geschehen, dass man sorgfältig unterscheidet zwischen Lernprozessen, deren Subjekt Schülerinnen und Schüler selber sind, und jener Indoktrination, in welcher der Lehrende so für die eigene Sache brennt, dass die Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler tendenziell aufgehoben wird. Wenn wir uns diese große Tradition von Augustin bis Hartmut von Hentig zu eigen machen, dann jedenfalls nicht im zweiten sondern nur im ersten Sinn. Im ersten Sinn aber halte ich sie als pädagogischer Laie für ein Grundgesetz jeder Pädagogik, jedes Unterrichts, übrigens in jedem denkbaren schulischen Fach.

Aus meiner eigenen Schulkarriere steht mir die Mathematik als Beispiel vor Augen. Zu meinem Unglück hatte ich einen Mathematiklehrer , an dem für meine Wahrnehmung die Eigenschaft am meisten hervorstach, dass er ein braunes und ein blaues Auge hatte. Das fand ich wirklich sehr faszinierend. Doch diese Faszination übertrug sich leider nicht auf die Mathematik. Ich hatte nie das Gefühl, dass er sich selber glühend für das interessierte, was er uns beizubringen versuchte. Die Folgen waren bei mir ernüchternd. Nach meinem subjektiven Eindruck habe ich von Mathematik noch weniger verstanden, als meiner begrenzten mathematischen Begabung entsprochen hätte. Dass in mir brennen muss, was im andern zünden soll, ist eine Erfahrung, die für mich also nicht nur auf Religion, sondern auch auf Mathematik passt. Das eigene Lebensverhältnis zur Sache, das wir beim Religionsunterricht notwendiger Weise  einfordern, ist keine Spezialität nur des Religionsunterrichts ist, sondern ein Grundgesetz der Pädagogik schlechthin.

Gerade weil in allen Erziehungs- und Bildungsprozessen besonders hohe Anforderungen an die lehrende Person gestellt werden, hat sie einen Anspruch auf Rahmenbedingungen, die dabei helfen, diese Anforderungen auch einzulösen . Sie hat einen Anspruch auf schulische und schulorganisatorische Bedingungen, die auch ein Stück Entlastung in sich tragen. Dieser Aufgabe verweigert man sich beispielsweise, wenn man Religionsunterricht schulorganisatorisch nicht richtig einbindet, ihm den Charakter als ordentliches Lehrfach verweigert, ihn in die Stellung einer Arbeitsgemeinschaft an der Schule verweist, ihn schulorganisatorisch unter Bedingungen bringt, in denen er entweder in der nullten oder in der achten Stunde stattfindet. Denn damit stellt man einen schwierigen und wichtigen pädagogischen Prozess unter Bedingungen, die notwendigerweise einen erheblichen Teil der Lehrenden überfordern müssen. Das Resultat ist, dass man mit den Lehrenden genauso unfair umgeht wie mit den Schülerinnen und Schülern. Ich denke, wenn ich das sage, beispielhaft an die derzeitigen schulrechtlichen und schulorganisatorischen  Bedingungen für den Religionsunterricht in Berlin und Brandenburg.


II.

In der Berufsschule nach Gott fragen? Wird eigentlich in der religionspädagogischen Diskussion der Gegenwart nach Gott gefragt? Oder wird nicht eher nach Werten gefragt? Wieder argumentiere ich aus dem Erfahrungszusammenhang in Berlin und Brandenburg, der sich inzwischen über meine württembergischen Erfahrungen gelegt hat. Denn diese liegen inzwischen 35 Jahre zurück; doch sie sind noch vorhanden. Mir fällt auf, dass dort, wo ich mich bewege, in der Diskussion über die Legitimität und Notwendigkeit des Religionsunterrichts in aller Regel gesagt wird: „Der Religionsunterricht ist notwendig, weil und so weit er wertorientierter Unterricht ist. Wir brauchen Religionsunterricht und Ethik – so kann man hören – als zwei Formen der Wertevermittlung.“

In Berlin sagen manche sogar, man brauche nicht einmal das, denn nach dem Berliner Schulgesetz sei die Wertevermittlung Aufgabe aller Unterrichtsfächer; deshalb bestehe kein Bedarf an besonderen Unterrichtsfächer im Bereich des wertorientierten Unterrichts.

Was mich an dieser Diskussionslage interessiert, ist die Art und Weise, in der die Frage nach Wertorientierung sich über die Frage nach Gott gelegt hat. Beachtung verdient die Art und Weise, in der in vielen Diskussionsgängen, die ich Land auf Land ab beobachte, die Frage nach Gott sich in die Frage nach Werten verwandelt. „Werteverlust“ heißt die große Parole. Das istübrigens eine sehr problematische, Parole; nüchterner betrachtet würden wir vom Wertewandel reden und fragen, welche Einflussmöglichkeiten wir  im Blick auf diesen Wertewandel haben. Aber von Werteverlust zu reden, klingt plakativer. Neues Wertebewusstsein wird gefordert, Wertevermittlung wird als Aufgabe der Schule verstärkt zugewiesen. Das wird mit der Diagnose verbunden, dass die Familie diese Wertevermittlung nicht mehr im selben Umfang wie früher zu leisten vermag. Wertevermittlung wird der Schule auch mit der Begründung zugewiesen, dass die Kirche diese Wertevermittlung nicht mehr im selben Umfang leiste. Wertevermittlung wird gefordert, weil die Medien – diese inzwischen gar nicht mehr heimlichen, sondern eher unheimlichen Miterzieher – das übernommen haben. Diese diffuse Erwartung, dass Wertevermittlung zu erfolgen habe, wird nun in ganz besonderer Weise auf den Religionsunterricht fokussiert. Es gibt dann und wann auch Religionslehrerinnen und -lehrer – es mag auch Religionspädagoginnen und Religionspädagogen im akademischen Bereich geben – , die das gut finden. Die vordergründige Begründung heißt, Beiträge zur Wertevermittlung seien in dieser Gesellschaft leichter kommunizierbar, als gesagt wird, man spreche im Religionsunterricht von Gott.

Zurückhaltung in der Gottesfrage legt sich schon deshalb nahe, weil es heißt, die Rede von Gott sei in der säkularen Gesellschaft schwierig geworden. Der Religionsunterricht  muss sich wie alle vergleichbaren Bemühungen bildungstheoretisch in einen Auftrag von Schule einfügen, den man in der säkularen Welt plausibel machen kann. Deshalb redet man lieber von Werten als von Gott.

Was ist denn eigentlich gemeint, wenn in diesem Zusammenhang von Werten die Rede ist? Nach einer klassischen soziologischen Definition ist ein Wert eine Auffassung von Wünschenswertem, die explizit oder implizit für ein Individuum oder eine Gruppe kennzeichnend ist und die Auswahl der zugänglichen Weisen, Mittel und Ziele des Handelns beeinflusst. Wünschenswerte Güter oder Ziele werden als Werte bezeichnet. Das gilt insbesondere, insoweit sie Kriterien abzugeben vermögen für die Richtung, die unser Handeln nehmen soll. Hartmut von Hentig, den ich schon zitiert habe, hat das im Blick auf pädagogische Prozesse weiter zu präzisieren versucht und hat die Werte als Güter bezeichnet. Es handelt sich um Güter die wir mit einem hohen Rang versehen. Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Barmherzigkeit sind Beispiele dafür. Es handelt sich nicht um Eigenschaften der Dinge selbst oder um Wesenheiten; es gibt auch kein abstraktes Reich der Werte, von dem seinerzeit noch die Wertphilosophie gesprochen hat; sondern es handelt sich um Zuschreibungen, über die wir uns verständigen. Solche Zuschreibungen sind beispielsweise Wahrheit im Bereich der Wissenschaft, Schönheit im Bereich der Kunst, Gerechtigkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen, Frieden im Verhältnis der Völker zueinander, Treue und Verlässlichkeit in den Beziehungen des Nahbereichs. Das sind Werte, unter denen wir diese Lebensverhältnisse betrachten wollen.

Der Wertbegriff hat sich in der Diskussion der letzten Jahre freilich gerade nicht wegen seiner exakten Definierbarkeit, sondern wegen seiner Unschärfe durchgesetzt. Man verwendet ihn als Oberbegriff des ethisch Wünschbaren, unabhängig davon, ob es sich eigentlich um Güter handelt – wie das Leben – , ob es sich um Tugenden handelt – beispielsweise Treue und Verlässlichkeit – oder ob es sich um Normen handelt – wie Gewaltlosigkeit im Handeln. Alles das fasst man unter dem Oberbegriff der Werte zusammen. Was in der Tradition der Ethik unter den Titeln von Gütern, Tugenden und Pflichten voneinander unterschieden wurde, wird nun alles dem Begriff des Wertes subsumiert.

Die Karriere des Wertbegriffs, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, ist ein Signal dafür, dass die Suche nach ethischer Orientierung zugenommen hat. Wir haben im letzten Jahrzehnt und darüber hinaus erlebt, dass für die unterschiedlichsten  Bereiche nacheinander ethische Orientierung gefordert worden ist. Nach einer Debatte über die Wirtschaftsethik, über die Medienethik, über die Sportethik undsofort sind wir gerade in eine Debatte über die Bioethik eingetreten.

Die Karriere des Wertbegriffs ist aber zugleich ein Signal für die Ökonomisierung unseres Denkens. Denn, historisch betrachtet, stammt der Begriff des Werts aus der Ökonomie. Ein Gegenstand hat einen Wert, und wenn man dafür bezahlen kann, kann man sich diesen Wert aneignen. Er hat einen Gebrauchswert, dessentwegen ich ihn gerne hätte, und er hat einen Tauschwert, der bestimmt, wie viel ich dafür bezahlen muss. Gegenstände mit demselben Gebrauchswert haben unter Umständen einen sehr unterschiedlichen Tauschwert – zum Beispiel je nachdem, wo sie sich befinden. Es macht einen Unterschied, ob Sie ein Haus auf der Schwäbischen Alb oder in Berlin kaufen. Die Ökonomisierung des Denkens führt dazu, dass der Wertbegriff jedem einleuchtet, während beispielsweise der Begriff der Würde immer altväterlicher wirkt. Die Unterscheidung zwischen Wert und Würde aber ist bei Immanuel Kant das Eingangstor in das Verständnis von Ethik überhaupt. Denn der Mensch ist nach Kants Definition derjenige, dem eine Würde zukommt; Würde aber ist dasjenige, so drückt er sich aus, „wogegen kein Äquivalent verstattet ist“ – schlicht übersetzt: „dasjenige, was man nicht bezahlen kann.“ Wenn man sagt, ein Mensch habe nicht nur einen Wert, sondern er habe Würde, dann bedeutet dies also, dass der Mensch mehr ist, als man bezahlen kann. Er ist nicht einfach gleichzusetzen mit seiner Arbeitskraft, die man entlohnen kann; sondern er ist Zweck an sich selbst. Deshalb darf er nicht nur als Mittel verwendet und dann dafür bezahlt werden. Die Ökonomisierung des Denkens, von der ich spreche, drückt sich darin aus, dass wir gerade im Bereich der ethischen Orientierung viel stärker mit dem Wertbegriff arbeiten als mit dem Würdebegriff. Das ist einer der Gründe, deretwegen Eberhard Jüngel in einem nun schon 30 Jahre alten Aufsatz gegen die Verwendung des Wertbegriffs, insbesondere in der Theologie vehement protestiert hat und gesagt hat, der christliche Glaube habe es nicht mit Werten zu tun, sondern mit einer wertlosen Wahrheit. Man könnte auch von einer „unbezahlbaren“ Wahrheit sprechen. Jüngel geht dabei von einem Wahrheitsbegriff aus, der durch Unterbrechung gekennzeichnet ist. Christus als Offenbarung Gottes unterbricht den Lebenszusammenhang radikal und führt ihn in die Krise. Das geschieht allerdings gerade, um ihn neu zu konstituieren und damit zu steigern. Ich zitiere wörtlich: „Die Unterbrechung des Menschen durch Gott ist zugleich eine radikale Infragestellung aller das menschliche Tun leitenden sogenannten Werte.“

Bei Jüngel begegnet uns also eine schroffe, an der Tradition von Karl Barts Offenbarungstheologie orientierte Entgegensetzung von Wahrheit und Wert, von Gott und menschlichem Tun. Nicht die Überführung der Gottesfrage in einer Wertfrage ist dann die Lösung, sondern die radikale Infragestellung der Wertdiskussion um der Wirklichkeit Gottes willen. Auch vom christlichen Ethos sagt Eberhard Jüngel, es dürfe sich nicht an Werten orientieren. Nicht Werte, sagt er, leiten das Handeln des Christen, sondern allein die aus der Wahrheit kommende Liebe, die ebenso wenig wie Wahrheit einen Wert hat oder darstellt. Wahrheit und Liebe sind wertlos und jeder „Tyrannei der Werte“ entzogen. Werte signalisieren für einen Theologen wie Eberhard Jüngel das menschliche Bemühen, selbständig, eigenmächtig, ohne das aktuelle Hören auf Gott zu Leitlinien für das ethische Handeln zu gelangen. Dagegen geschieht das Hören auf Gott in der Situation. In diesem Sinne ist die Ethik, die aus diesem Hören folgt, eine Situationsethik. Sie folgt aus der erfahrenen Beziehung zu Gott, die sich in Gottes Wort in Christus selber erschließt. Sie entlässt sozusagen aus sich selber heraus die Kriterien für die Lebensorientierung und dann auch für das richtige Handeln in der Liebe je in der konkreten Situation. Eine eigene Wertewelt kann es daher nicht geben, erst recht kein übergeschichtliches Wertesystem, wie es beispielsweise im Naturrechtsdenken vorausgesetzt wird.

Nach drei Jahrzehnten ist es interessant zu sehen, dass Eberhard Jüngels theologischer Protest gegen die Tyrannei der Werte sich nicht durchgesetzt hat. In diesem Protest schließt Jüngel sich übrigens  an den höchst ambivalenten Staatsrechtler Carl Schmitt an, von dem die Rede von der Tyrannei der Werte ursprünglich stammt. Weder im theologisch-kirchlichem Verständigungszusammenhang noch erst recht in der allgemeinen Diskussion hat sich die Abwendung vom Wertbegriff durchgesetzt. Gegen den Begriff der Werte in seiner diffusen allgemeinen Verwendung anzukämpfen, gleicht dem Kampf des Don Quijote mit den Windmühlenflügeln. Man bewundert den Mut dessen, der das tut, und beklagt gleichzeitig die Sinnlosigkeit seines Unterfangens. Das mag auch damit zusammenhängen, dass der Einfluss einer ungeschichtlich denkenden Wertethik inzwischen nachgelassen hat. Dass Werte kulturelle Konstrukte sind, dass sie Ergebnis unserer Zuschreibung sind, dass sie wandelbar sind, dass man sich auch ihrer Tyrannei entziehen kann, indem man an ihrer Interpretation und Weiterentwicklung arbeitet – all das hat sich inzwischen herumgesprochen. Wer als Christ die gesellschaftliche Diskussionslage beobachtet und zu ihr Stellung nehmen will, stößt auf die Frage, wie eigentlich das christliche Wahrheitsbewusstsein die Wertedebatte dieser Gesellschaft beeinflusst. Diese Frage sollte nicht im vorhinein durch die Idee verdrängt werden, wir könnten uns aus der Wertedebatte dieser Gesellschaft ohnehin verabschieden, weil die Wahrheit, die wir vertreten, wertlos sei und deshalb in der gesellschaftlichen Wertedebatte  auch gar nicht vorzukommen brauche.


III.

Wenn wir jedoch einen anderen Weg gehen wollen, dann ist es erforderlich, das Gottesbewusstsein in die Wertedebatte der Gesellschaft einzubringen. Dann muss man auch konsequent sein und die Wertedebatte der Gesellschaft auf das Gottesbewusstsein beziehen. Würde man darauf verzichten, so würde man die Gottvergessenheit der Gesellschaft auch noch theologisch, auch noch im religionspädagogischen Handeln verdoppeln – nämlich konkret dadurch, dass man der Frage nach den Werten den Vorrang gibt vor der Frage nach Gott. Aber welche Folgen hat es, wenn man die Wertedebatte der Gesellschaft mit der Gottesfrage ausdrücklich verknüpft? Peter Bubmann, praktischer Theologe und Ethiker in Nürnberg, hat die Frage so beantwortet, dass er sagt: Nicht eine wertlose Wahrheit, sondern eine wertvolle Freiheit ist die Lebensperspektive, die sich ergibt, wenn wir das menschliche Leben in das Licht des Gottesbewusstseins rücken. Denn Gott verstehen wir als denjenigen, der den Menschen zu einer Person werden lässt, die ihr Leben in Freiheit führen kann. Das ist freilich eine Freiheit, die in Beziehungen gelebt wird. Wenn man das menschliche Leben im Horizont des Gottesbewusstseins sieht, dann führt das auf einen Begriff des Menschen selbst, der die menschliche Person als Beziehungswesen ansieht. Nicht der Mensch als das mit Vernunft begabte Wesen, auch nicht der Mensch als das zur Selbstbestimmung und Selbstverfügung befähigte Wesen, sondern der Mensch, der in Beziehungen lebt, ist dann die Grunddefinition des Menschen.

Damit sind wir übrigens bei einer Weichenstellung, die in einem ganz strengen Sinn reformatorisch ist. Martin Luther ist es gewesen, der im Blick auf das Bild vom Menschen gesagt hat: „Theologisch vom Menschen zu reden, heißt, nicht von seiner Substanz, sondern von seinen Relationen zu sprechen.“ Vom Menschen ist also, wenn Sie an dieser einen Stelle die lateinischen Ausdrücke gestatten, nicht in praedicamento substantiae, sondern in praedicamento relationis zu sprechen. Das ist eine auch im Blick auf heutige Debatten unglaublich aufregende Weichenstellung. Die Relationen, die dabei im Blick sind, sind die Beziehungen des Menschen zu Gott, seine Beziehung zu seinen Mitmenschen, sein Beziehung zur Natur, zur Schöpfung, deren Teil er selber ist, seine Beziehung zu sich selbst. Eine anthropologische Orientierung, welche die Frage nach dem Menschen in den Horizont der Gottesfrage rückt, wird also immer auf das Zusammenspiel dieser vier Dimensionen schauen: die Beziehung des Menschen zu Gott, zum Mitmenschen, zur Natur, zu sich selbst. In einer solchen anthropologischen Orientierung wird deutlich, dass die Freiheit, zu welcher der Mensch berufen ist, eine ihm zugesagte und nicht einfach eine von ihm selbst erworbene Freiheit ist. Die von Gott zugesagte Freiheit ist dann der Horizont, in den auch die Frage nach den Werten gerückt wird. In diesem Sinne ließe sich, der Anregung Peter Bubmanns folgend, die wertvolle Freiheit – und nicht die wertlose Wahrheit – zum Ausgangspunkt des Nachdenkens über den Menschen machen.

Zusammenfassend halten wir fest: Gerade die heute so dominierende Debatte über Wertorientierung, gerade auch der Sog, den Religionsunterricht in die Forderung nach wertorientiertem Unterricht und nach Wertevermittlung einzubeziehen, sollte theologisch so weiterbedacht werden, dass wir die Wertedebatte ganz bewusst neu für die Gottesfrage öffnen und beherzt dafür eintreten, dass diese Öffnung der Wertedebatte für die Gottesfrage auch unserem Nachdenken über den Menschen eine neue Richtung weist.


IV.

Auch im Blick auf diese geöffnete, die Gottesfrage einschließende Form von Wertevermittlung bleibt die Frage, die ich nicht auf den Berufsschulbereich beschränken will: Ist eigentlich die Schule der richtige oder überhaupt ein möglicher Ort für die Frage nach Werten und Lebensorientierung? Ist sie ein Ort für den Umgang mit den Grundfragen, die es mit dem Sinn der Herkunft und der Zukunft des menschlichen Lebens zu tun haben?

Mein Eindruck ist ein doppelter. Zum einen erleben wir in der bildungspolitischen Debatte in unserem Land eine sehr starke Konzentration auf die Frage nach dem gesellschaftlich verwertbaren Wissen, nach den gesellschaftlich verwertbaren Fähigkeiten, die von der Schule und von allen gesellschaftlichen Bildungsprozessen vermittelt werden sollen. Wir erleben, so nehme ich das wahr, eine Ökonomisierung der Bildungsdebatte. Ich mache mir gelegentlich Sorgen darüber, dass auch die Diskussion über die PISA-Studie in den Horizont einer so verengten Diskussionslage geraten könnte. Dann heißt die Frage nur, wie Schülerinnen und Schüler für die Informationsgesellschaft fit gemacht werden können. Man fragt dann nur, wie sie in einer globalisierten Welt konkurrenzfähig werden können. Man interessiert sich vorrangig dafür, was ihr erreichter Bildungsstand zum Standort Deutschland beiträgt und wie dieser Standort Deutschland der Konkurrenz auf einem globalisierten Weltmarkt gewachsen ist.

Ausbildungsaufgaben, die Schülerinnen und Schülern berufliche Perspektiven eröffnen, sind wichtig. Das bestreiten zu wollen, wäre ein Widerspruch in sich selbst – gerade dann, wenn man sich mit dem Berufsschulbereich beschäftigt. Aber es gibt einen anderen Zug der Diskussion, der genauso wichtig ist. Auch von diesem Zug der Diskussion habe ich den Eindruck, dass er sich in der jüngsten Vergangenheit verstärkt. In diesem Zusammenhang sehe ich beispielsweise den jüngsten Beitrag der Kirchen in Baden-Württemberg zur Bildungsdebatte. Er fordert, wieder den Bildungsbegriff als solchen ernst zu nehmen, umfassendere Ansprüche zu stellen statt die Bildungsaufgaben auf das Einüben ökonomisch verwertbarer Fähigkeiten und das Vermitteln gesellschaftlich-nützlichen Wissens zu reduzieren. Einer solchen Verengung sollten wir in der Tat nicht weiter ihren Lauf lassen. Ich bin davon überzeugt, dass wir in allen Schultypen ein neues Gleichgewicht zwischen Wissensvermittlung und Lebensorientierung, zwischen der Vermittlung von Fähigkeiten und dem Vermitteln von Orientierungsvermögen, zwischen Ausbildung und Bildung benötigen. Bei dieser Aufgabe, wieder ein solches Gleichgewicht herzustellen, kommt dann auch dem Religionsunterricht, aber nicht nur ihm alleine, eine gewichtige Rolle zu. Man muss aufpassen, dass nicht sozusagen die ganze Last dieses Gleichgewichts einseitig auf den Religionsunterricht oder auf Religion und Ethik verlastet wird.

Meine eigene These heißt: In der Schule der Zukunft ist Ethik so wichtig wie Englisch. Religion so wichtig wie Informatik. Die Stärkung des kulturellen Gedächtnisses ist so wichtig wie das Verstehen der ökonomischen Prinzipien der modernen Gesellschaft. Beizutragen dazu, dass dieses so beschriebene Gleichgewicht auch wieder Gestalt gewinnt, ist eine der wichtigsten Aufgaben, welche die Kirche in dieser Debatte wahrzunehmen hat. Sie verfolgt im übrigen kein Eigeninteresse, wenn sie diesen Akzent setzt; sondern sie möchte ihren Beitrag dazu leisten, dass Bildung im öffentlichen Raum gelingen kann.

Sie kann dabei an große Traditionen der bildungstheoretischen Diskussion anknüpfen. Der Erlanger Pädagoge Eckart Liebau hat typologisch drei Hauptstränge der pädagogischen Tradition unterschieden:

Zunächst Erziehung: Das ist das Konzept der Aufklärung. Kant und andere erwarten von der Erziehung eine Verbesserung der Gesellschaft. Erziehung, so fasst Eckart Liebau das zusammen, wird als Einwirkung der älteren auf die jüngere Generation konzipiert, die den Zweck hat, die jüngere Generation nicht nur zur ökonomischen, sozialen und politischen Teilhabe an der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern auch zur beharrlich-geduldigen Mitarbeit an einer künftigen, besseren Gesellschaft zu qualifizieren. Dementsprechend zielt Erziehung auf Mündigkeit, verstanden als ökonomische, moralische und politische Selbständigkeit, und sie hört mit dem Erreichen dieses Ziels auf. Erziehung kommt an ein Ende, wenn sie dieses Ziel erreicht hat.

Sodann Bildung: Das ist historisch betrachtet das Konzept des Idealismus. Hier liegt das Schwergewicht auf der lebenslangen Arbeit der Vervollkommnung der eigenen Person. In seiner theologischen Wurzel hat der Begriff der Bildung es ja mit dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu tun. Es geht also darum, die Gottebenbildlichkeit, die in jedem Menschen angelegt ist, auszubilden. Der Bildungsbegriff ist in einem sehr spezifischen Sinn theologisch getönt. Das menschliche Leben in seiner Wahrheit zur Darstellung zu bringen, ist das Grundmotiv. Noch einmal zitiere ich Eckart Liebau: „Die Überzeugung, dass der Mensch sich selbst Auftrag und Auftraggeber sei, dass Bildung zur Selbstvervollkommnung zugleich der beste Dienst an der Gesellschaft bzw. dem Staat sei, bildet den Kern des Bildungsverständnisses.“

Schließlich Entfaltung: Historisch betrachtet, ist dies das Modell der Romantik. Das Kind wird als der nicht entfremdete Mensch gesehen, in dem bereits alle positiven Anlagen stecken; diese gilt es zu befreien und zum Ausdruck zu bringen. Das Spiel rückt ins Zentrum der Pädagogik; die Schule wird mit Skepsis betrachtet. Mein alter Freund Ivan Illich ist mit seiner Idee „Deschooling Society – schafft die Schulen ab, dann entfalten sich die Kinder“ ein Romantiker im reinsten Sinne des Wortes.

Diese drei Traditionsstränge  – Erziehung, Bildung, Entfaltung – treten uns als große und wichtige Konzepte entgegen. Das gilt von allen dreien – trotz des kleinen, kritischen Seitenton, den ich zur Entfaltung mit habe anklingen lassen, auch als wichtiges Konzept. Eckart Liebau, den ich gerade zitiere schlägt vor, alle drei Elemente  in eine „Pädagogik der Teilhabe“ zu integrieren. Sie bezieht sich auf politische und ökonomische Mündigkeit und damit die Fähigkeit zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft, auf Bildung als die Fähigkeit, sich selbständig in seiner Welt zu orientieren und ein eigenständiges Weltverständnis zu entwickeln, in diesem Sinne an der Welt teilzuhaben und schließlich auf die Entfaltung der Subjektivität, also unvertretbar „Ich“ und nicht einfach ein auswechselbar, funktionierendes Rädchen in der Gesellschaft zu sein. Das sind die drei Dimensionen von Teilhabe die man im Anschluss an Eckart Liebau aus diesen drei großen Traditionen des Erziehungsbegriffs, des Bildungsbegriffs und des Entfaltungsbegriffs ableiten kann. Diese Anregung lässt sich auf spezifische Weise auf die religionspädagogische Aufgabenstellung übertragen:

Zunächst Erziehung: Gott hat den Menschen als entwurfsoffenes Wesen geschaffen. Gottes Geschöpf zu sein, heißt zu antworten auf die schöpferischen Möglichkeiten, die in unserer Welt wie in unserem eigenen Leben angelegt sind. Erziehung heißt, den Menschen als antwortfähiges Wesen ernst zu nehmen und ihm den Raum dafür zu eröffnen, eigene Antworten zu geben. Erziehung ist nötig, weil der Mensch dazu berufen ist, seine Kultur selbst zu gestalten und weiterzuentwickeln. Das bedeutet auch, dass er in diese Kultur unter Einschluss ihrer religiösen Dimension eingeführt werden muss. Religion tritt hier in den Blick als wichtiger Teil unserer Kultur. Erziehung schließt ein, dass Zugänge zu den Verbindlichkeitszusammenhängen, in denen sich menschliches Leben vollzieht, eröffnet werden. Die fundamentalen Güter der Gesellschaft, aber ebenso auch die fundamentalen Orientierungen der Gemeinschaft des Glaubens, die Auseinadersetzung mit anderen Welt- und Lebensorientierungen gewinnen gerade heute eine fundamentale Bedeutung.

Sodann Bildung: Eine christliche Perspektive bejaht ausdrücklich die Vorstellung von Bildung als einem lebenslangen Prozess. Denn es ist eine lebenslange Aufgabe, die Zusage der Gottebenbildlichkeit selbständig wahrzunehmen in den Antworten, die wir in unserem Leben und mit unserem Leben darauf geben. Die bewusste Gestaltung der geschenkten und aufgetragenen Freiheit schließt die Verantwortung für das eigene Leben und Handeln ein. Die zugesagte und geschenkte Freiheit verlangt nach Reflexivität, nämlich nach der Fähigkeit zur Rechenschaft über den Gebrauch der eigenen Freiheit.

Schließlich Entfaltung: Entfaltung meint schließlich die weitestmögliche Entwicklung und Förderung von Begabung. Es gibt einen spezifisch christlichen Zugang dazu, der mit der Gottoffenheit unserer Lebenswahrnehmung zu tun hat. Der Apostel Paulus entfaltet ein Bild von den menschlichen Begabungen in der Art und Weise, in der er die christliche Gemeinde als eine Gemeinschaft von Charismen darstellt. Die unterschiedlichen Begabungen werden dadurch besonders gewürdigt, dass jede von ihnen zu einer Gnadengabe, zu einer Gabe des heiligen Geistes werden und so geachtet werden kann. Talente und Werthaltungen, die zum gelingenden Leben beitragen, erhalten dadurch eine besondere Würdigung und werden je für sich zu biografisch besonders geprägten Gestalten, durch die Menschen jeweils ihr Unverwechselbares dazu beitragen, dass gemeinsames Leben gelingt.

Sie merken an dieser Überlegung, dass die bildungstheoretische Öffnung, die ich vorgeschlagen habe, in einen Horizont hineinführt, in dem das Gottesbewusstsein, die Gottesbeziehung für das Verständnis von Bildung im umfassenden Sinn ein tragendes Gewicht bekommt. Die theologische Reflexion ist in dieser Hinsicht nicht nur für die Frage der Religionspädagogik wichtig, sondern dafür, wie wir Bildung überhaupt verstehen.


V.

Zu Beginn des Jahres 2002 stehe ich sehr stark unter dem Eindruck, dass in unserer Gesellschaft die Gottesfrage neu aufbricht. Die verbreitete Aussage, dass die Frage nach Gott nicht mehr ausgesprochen werden kann und dass Sie keinen Ort mehr in dieser Gesellschaft hat, kann ich mir gerade angesichts der Erfahrungen des vergangenen Jahres nicht zu eigen machen. Sechs Monate nach dem 11. September 2001 stehen mir die Bilder der Menschen deutlich vor Augen, die nach dem 11. September sehr unmittelbar nach Gott gefragt haben. „Wie kann Gott das zulassen“ hieß die Frage einer jungen Frau an mich in der Nähe des Brandenburger Tors. Dass sie den Bischof fragte, hatte sie überhaupt nicht im Blick; sondern sie fragte einen, der nach der großen Demonstration in der Erinnerung an die Opfer er Terrorangriffe in New York und Washington an ihr vorbeiging. „Wie kann Gott das zulassen, wie verträgt sich das mit dem allmächtigen Gott“ sagte sie. „Ich lese nach in der Bibel und finde keine Antwort.“ So begann ein Gespräch über Gott mitten auf der Straße unter dem Brandenburger Tor. Eine der Berliner Tageszeitungen hat aus diesem Anlass eine wöchentliche Kolumne begonnen. Einmal in der Woche werden Beiträge unterschiedlicher Autoren gedruckt. „Wo ist Gott?“ heißt der Reihentitel dieser Kolumne.

Wer hätte sich das vor einem Jahr gedacht? Wenn wir nun lesen, dass die Wirkungen des 11. September umschlagen sollen in einen Kreuzzug, der gegen die „Achse des Bösen“ geführt wird, dann ist uns die Gottesfrage sozusagen auch noch in dieser Verkehrung in einer Intensität präsent, der wir uns gar nicht entziehen können. Wenn die „Gotteskrieger“ zum Unwort des Jahres 2001 erklärt werden, dann deswegen, weil mit diesem Geschehen der Gottesname in einer Weise verknüpft wird, die man nur gotteslästerlich nennen kann. Denn es ist Gotteslästerung, wann immer jemand zur Begründung für mörderisches Handeln sich auf den Gottesnamen beruft. Der Dialog der Religionen, auch die kritische Auseinandersetzung zwischen ihnen, tritt durch diese Erfahrung auf eine vollständige neue Ebene. Der Dialog ist notwendiger als je. Als Dialog kann man nur bezeichnen, was sich wirklich um ein Verstehen des anderen bemüht. Aber zugleich muss man sagen: Mit der interreligiösen Schummelei ist es endgültig vorbei.

Religionen haben von sich aus mit der Wahrheit zu tun. Deswegen kann man auch die Frage nach der Wahrheit nicht zur Seite stellen, wenn es um den Dialog der Religionen geht. Kein „Projekt Weltethos“ und keine Islam-Charta enthebt uns der Notwendigkeit, auch kritische Fragen zu stellen.

Was beispielsweise im Verhältnis zwischen Christentum und Islam kritisch zu diskutieren ist, hat es ganz unmittelbar auch mit dem Gottesbegriff zu tun. Da steht auf der einen Seite das christliche Bekenntnis zu dem barmherzigen Gott, dem ich es zu danken habe, dass ich vor ihm selber Bestand habe – das kann ich nämlich nicht aus eigener Kraft. Dem steht auf der anderen Seite ein Gottesbild gegenüber, das im Blick auf das menschliche Handeln zu Folge hat, dass der Mensch von sich aus vor Gott Bestand haben kann, aber auch Bestand haben muss. Das geschieht mit Hilfe der fünf Säulen, die das Leben des guten Muslim prägen. Ich warte auf eine Debatte im interreligiösen Dialog, welche die Botschaft von der Rechtfertigung zu einem Thema des Dialogs zwischen den Religionen macht. Dann würden wir als Christen noch einmal neu wahrnehmen, dass wir ohne diesen Gedanken der Rechtfertigung von Gott nicht reden können – und vom Menschen auch nicht.

Ich stelle dem ein zweites Beispiel zur Seite. Mein eigenes Leben und Arbeiten in den letzten zehn Monaten ist stark von einem anderen Datum des Jahres 2001 geprägt worden; das war der 3. Mai 2001. Es handelt sich um den Tag, an dem die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Memorandum veröffentlicht hat, mit dem sie ihren bisherigen Kurs in der Frage der Forschung mit embryonalen Stammzellen revidiert hat. Bis dahin hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft gesagt, die Forschung mit embryonalen Stammzellen komme in Deutschland nicht in Frage; bewusst beschränke sich die Forschung hierzulande auf die Forschung mit adulten Stammzellen.

Noch am 3. Mai waren manche dieser Begriffe für die meisten von uns noch ziemliches Neuland; manche dieser Begriffe mussten wir alle erst lernen. Jetzt haben wir sie in der Zwischenzeit alle gelernt. Vor allem haben wir in der Diskussion der letzten zehn Monate gelernt, dass es dabei nicht um eine technische und forschungsstrategische Frage allein geht, sondern dass anhand dieser Einzelfragen plötzlich die Frage nach unserem Menschenbild insgesamt auf dem Spiel steht. „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ So wurde plötzlich wieder neu gefragt und man fing an, wieder darauf zu achten, dass in dieser Frage des Psalmisten ja auch schon eine Antwort enthalten ist. „Das ist der Mensch, dass du seiner gedenkst!“ Das ist der Mensch, dass Gott seiner gedenkt, dass Gott ihn anspricht, ihn schafft, als das Gott entsprechende und zur Antwort fähige Wesen.

Es gibt viele Vorgänge auch im Bereich des Religionsunterrichts, bei denen im Zusammenhang dieser aktuellen Diskussionslage neu gefragt wird: „Was heißt eigentlich Gottebenbildlichkeit?“ Von welchem Gott ist da die Rede, wenn wir von Gottebenbildlichkeit als dem theologischen Wurzelgrund dessen sprechen, was wir unter der Würde des Menschen verstehen? Genauso wird die andere Frage gestellt: Wie sollen wir eigentlich Heilungshoffnungen beurteilen, mit denen viele Menschen die neuesten Entwicklungen von Gentechnologie und Biotechnik/Biomedizin verwenden? Was bedeutet es, dass Jesus sich vorbehaltlos Kranken zugewandt und sie aufgerichtet hat? Was bedeutet es, dass er sich selber so auf die Seite der Leidenden gestellt hat, dass er selbst ins Leiden ging? Was bedeutet das für das Verhältnis Gottes zu menschlicher Hinfälligkeit, Krankheit und menschlichem Leiden?

Solche Fragen werden jetzt neu gestellt. Es ist an uns, auf solche Fragen einzugehen, sie aufzunehmen, sie weiterzuentwickeln. Es kann nicht sein, dass in der Gesellschaft die Frage nach Gott auf eine neue Weise lebendig wird und dass die Kirche selber angesichts dieser Frage verstummt. Das kann nicht sein. Insofern haben wir als Kirche eine große Aufgabe in dieser Situation. Sie besteht darin, die Rede von Gott neu verständlich zu machen – und zwar in einer Situation, in der sich diese Rede von Gott nicht mehr von selbst versteht. Das spüre ich in der Gegend, in der ich mich jetzt bewege, noch ein bisschen deutlicher als Sie im heiligen Württemberg. Ganz so heilig ist es vielleicht gar nicht mehr. Ausdrücklich will ich Ihnen deutlich machen: Es ist auch eine Chance, das, was sich nicht mehr von selbst versteht, ausdrücklich verständlich zu machen. Manchmal kann ja die Einbildung, etwas sei selbstverständlich, dem wirklichen Verstehen auch im Wege stehen. Deswegen nehme ich die Tatsache, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es viele Züge der Gottvergessenheit gibt, nicht nur als Belastung, sondern auch als Chance wahr.


VI.

Lassen Sie mich diese Überlegungen im Blick auf die Frage nach dem Religionsunterricht zwischen Pluralität und Verbindlichkeit  in wenigen Sätzen bündeln.

1. Ein Verständnis für Religion zu ermöglichen, ist mehr, als Werte zu vermitteln. Deswegen ist es verkehrt, die Aufgaben des Religionsunterrichtes ausschließlich aus der Perspektive der Wertevermittlung, also als Eröffnung einer begründeten Handlungsorientierung zu betrachten. Werte sind nur ein Teil dessen, um was es in der Religion geht. Es geht in ihr um die Wahrnehmung und die Gestaltung des Verhältnisses zu Gott, zu der von Gott geschaffenen Welt, zum Mitmenschen und zu sich selbst. Der Religionsunterricht hat seinen unvergleichlichen Ort in der Spannung zwischen Grundfragen heutigen menschlichen Lebens und den großen Überlieferungen der christlichen Tradition.

2. Auch wenn der Religionsunterricht einen unverwechselbaren Beitrag zur Werteerziehung leistet, geht seine Bedeutung darüber doch weit hinaus. Er macht deutlich, dass Religion ein eigenständiger Bereich unseres Lebens und unserer Kultur ist. Er vermittelt Kenntnisse und befähigt zu einem eigenen Urteil in diesem wichtigen Bereich. Er lehrt im Bereich religiöser Phänomene zu unterscheiden. Denn es gibt nicht nur gute Religion. Da ich mich in einer Gegend zu bewegen habe, in der bei Jugendlichen an manchen Orten der Satanismus weiter verbreitet zu sein scheint als der Glaube an Gott, weiß ich, was ich sage, wenn ich unterstreiche: Die Vermittlung der Fähigkeit zu unterscheiden ist von elementarer Bedeutung.

3. Der Religionsunterricht lehrt Dialogfähigkeit. Er bereitet junge Menschen darauf vor, vom Grundrecht auf Religionsfreiheit einen eigenständigen Gebrauch zu machen. In dieser Befähigung zur mündigen Inanspruchnahme des Grundrechts auf Religionsfreiheit sehe ich eine besonders wichtige Aufgabe des Religionsunterrichts. Natürlich stößt man heute immer auf den Hinweis: Wie soll das denn in einer Situation, die von Pluralität gekennzeichnet ist, aussehen?  Denn wir leben in einer multireligiösen und multikulturellen Situation.

4. So dringlich es ist, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die durch kulturelle und religiöse Pluralität gekennzeichnet ist, so notwendig ist es doch zugleich, dass Menschen in dieser Pluralität selber zu einer geklärten kulturellen und religiösen Identität finden. Wer andere verstehen will, braucht Klarheit darüber, wo er selber zu Hause ist und was die eigene Identität prägt. Das Verstehen des Fremden und die Ausbildung einer eigenen Identität gehören unaufhebbar zusammen. Nur dann kann sich ausbilden, was unsere Gesellschaft besonders dringlich braucht.

5. Was sie vor allem anderen braucht, ist eine Kultur der Anerkennung. Die wechselseitige Anerkennung, die wir um des Zusammenlebens willen brauchen, ist dabei mehr als bloße Toleranz. Religionsunterricht vermittelt in der Situation der Pluralität natürlich nicht nur Kenntnisse in den Traditionen des Christentums, sondern eröffnet die Begegnung mit dem christlichen Glauben als gegenwärtiger Lebensform. Nur in dem Maß, in dem das gelingt, ist er dazu im Stande, Orientierung für die Gestaltung des menschlichen Lebens weiterzugeben.

6. Von einem Ethikunterricht, erst recht übrigens von dem brandenburgischen Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ unterscheidet der Religionsunterricht sich dadurch, dass er den Ort dieser Wertorientierung in einer „Ethik aus Religion,“ nicht in einer „Ethik ohne Religion“ sieht. Er enthält den begründeten und notwendigen Einspruch gegen eine gesellschaftliche Denkweise, die behauptet, die Ethik ohne Religion sei das allgemein Kommunizierbare, eine Ethik aus Religion sei dagegen auf den schrumpfenden Binnenraum der Kirchen beschränkt. Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, dass unsere Verfassungsordnung, das Bonner Grundgesetz, keine Vorordnung der „Ethik ohne Religion“ vor der „Ethik aus Religion“kennt. Wenn man gegensteuern will, dann ist es notwendig, die Gottesfrage offen und lebendig zu halten.

7. Von der pluralistischen Situation, in der wir leben, kann auch der Religionsunterricht nicht absehen. Aber der oft geforderte interreligiöse Dialog in der Schule erweist sich häufig auch als Projektion einer Erwachsenenfantasie. Diese überschätzt die Möglichkeiten eines unterrichtlichen Dialogmodells. Der Unterricht muss Schülerinnen und Schüler mit dem Material vertraut machen, das sie dann im Diskurs auch argumentativ einsetzen können. Deshalb muss sich auch der Religionsunterricht weit stärker zur Vermittlung von Inhalten bereit finden, als dies in der Phase eines vorwiegenden problemorientierten Unterrichts der Fall war. Glaubenswissen ist sein wichtigster Inhalt. Zum christlichen Religionsunterricht gehören aber neben den Kenntnissen über die biblischen Grundlagen, die geschichtlichen Ausformungen, die gegenwärtigen Erscheinungsweisen des christlichen Glaubens auch elementare Kenntnisse über nicht christliche Religionen. Wo das eine wie das andere fehlt, ist der so häufig beschworene interreligiöse Dialog eine bloße Schimäre. Wo dagegen solche Kenntnisse vermittelt werden, wächst auch die Fähigkeit zum Dialog in der Schule wie über die Grenzen der Schule hinaus.

Damit schließt sich der Bogen zum Anfang. Wer zum Dialog befähigen will, muss selber am Dialog ein leidenschaftliches Interesse haben. Auch in dieser Hinsicht gilt: „In dir muss brennen, was in anderen zünden soll!“