Pflege und Ethik

Wolfgang Huber

Berlin

Dreißig Jahre Wannsee-Schule

1.

Wie hätte man wohl vor dreißig Jahren, im bewegten Jahr 1972, über das Verhältnis von Pflege und Ethik diskutiert? Einigermaßen befremdlich hätte es gewirkt, überhaupt dieses Thema zu wählen. Notwendigkeit, Zielsetzung und ethische Maßstäbe der Pflege galten als in sich selbst verständlich. Die Professionalisierung der Pflege war das Ziel. Die Vermittlung von Kompetenz war die Aufgabe, deretwegen eine neue Schule gegründet wurde.

Noch vor fünf Jahren, beim 25jährigen Jubiläum, stellten sich die Fragen anders. Die Gesundheitsreform stand am Horizont. Landeskrankenhauspläne bestimmten das Denken. Konzentration winkte am Horizont. Den Ort einer bewährten Institution zu behaupten und auszubauen, musste das Ziel sein.

Das eine ist so wahr geblieben wie das andere. Kompetenz in der Pflege ist ein hohes Gut. Die Wannsee-Schule hat sich im Konzert der Institutionen zur Vermittlung dieser Kompetenz bewährt. Dreißig Jahre ist sie nun alt. Auf dreißig Jahre bemessen wir in der üblichen Rechnung die Abfolge der Generationen. Einen Generationenschritt hat die Wannsee-Schule inzwischen bewältigt. Das ist ein guter Grund, zum Erreichten zu gratulieren und damit gute Wünsche für den nächsten Generationenschritt zu verbinden.

2.

Aber nun: Pflege und Ethik. Das ist ein deutliches Signal für eine tiefgreifende Veränderung. Sind die Bedingungen, unter denen heute in Krankenhäusern und Altenheimen gepflegt wird, noch vereinbar mit den ethischen Maßstäben, an denen wir uns in der Pflege zu orientieren haben? So wird heute gefragt. „Immer häufiger verzweifeln beruflich Pflegende an der Unvereinbarkeit ihres fachlichen und ethischen Anspruches mit der erzwungenen minimalen Versorgung der PatientInnen. Wir fordern daher von den im Gesundheitswesen zuständigen Politikern und den gesellschaftlichen Gruppen, den Pflegenden die Möglichkeit zu geben, kranke und hilfsbedürftige Menschen ihrer Würde entsprechend zu pflegen.“ So heißt es in einer Stellungnahme der Ethikkommission des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe.

Im Verhältnis zwischen Pflege und Ethik brennt es. Je ernster die ethische Verantwortung in Pflegeberufen genommen wird, desto stärker leiden Betroffene unter dem täglichen Spargat zwischen der Ökonomisierung der Pflege und der ethischen Verantwortung in der Pflege.

Ökonomisierung gilt als das Gebot der Stunde. Pflegeangebote sind Angebote am Markt. Kosteneinsparungen sind angesichts der Kostenexplosion unabweisbar. Die Alterung der Gesellschaft wirft die Frage nach der Finanzierbarkeit von Pflegeleistungen unabweisbar auf. Die Antworten sind radikal. Die Abrechnung von Krankenhauskosten nach DRGs blendet die individuellen Besonderheiten systematisch aus. Die Schwere der Erkrankung, die Bedingungen von Multimorbidität, die biographischen Voraussetzungen für den Genesungsprozess – all das bleibt grundsätzlich unberücksichtigt. Die Verkürzung der Verweildauer im Krankenhaus wird – ganz unabhängig von solchen Bedingungen – ein vorrangiges Ziel. Pflege wird unter solchen Bedingungen als funktionale, nicht als ganzheitliche Pflege verstanden.

Im Bereich der Pflege vollzieht sich Entsprechendes. Seit der zweiten Stufe der Pflegeversicherung hat sich eine deutlich restriktivere Einstufungspraxis herauskristallisiert. Die psychosoziale Dimension der Betreuung wird dabei deutlich unterbewertet und ist demgemäß auch unterfinanziert.

Von all dem ist auch der kirchliche Beitrag zur Begleitung von kranken und pflegebedürftigen Menschen unmittelbar betroffen. Die Möglichkeiten für die Kirchen – jedenfalls für unsere Kirche – , eine besondere Seelsorge in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vorzuhalten, gehen zurück. Die Bereitschaft der entsprechenden Institutionen, zur Finanzierung einer besonderen Krankenhausseelsorge beizutragen – was grundsätzlich möglich ist – , bleibt angesichts der geschilderten Probleme begrenzt.

Die Ökonomie des Sozialen verändert sich derzeit insgesamt dramatisch. Im Pflegebereich hat dazu vor allem der Teil XI des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) beigetragen, der Einrichtungen unabhängig von ihrer Trägerschaft zum „Pflegemarkt“ zulässt, wenn sie die fachlich-qualitativen Voraussetzungen erfüllen. Das hat zur Folge, dass innerhalb kurzer Zeit die privatgewerblichen Anbieter einen Anteil an der ambulanten pflegerischen Versorgung erworben haben, der demjenigen der freigemeinnützigen Anbieter gleichkommt. In dieselbe Richtung weist die Stellungnahme der Bundesregierung zum 12. Hauptgutachten der Monopolkommission vom 25. Juni 1999, das anstrebt, die öffentlichen Zuschüsse zur Finanzierung von Daueraufgaben verstärkt auf Leistungsentgelte umzustellen. Schließlich ist der Veränderungsdruck zu beachten, der sich aus Entwicklungen in der Europäischen Union ergibt. Die Gemeinwohlorientierung freigemeinnütziger Träger wird im Rahmen der EU zwar grundsätzlich anerkannt; diese werden gleichzeitig jedoch mit Vorrang als „Unternehmen“ gesehen, also unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt betrachtet.

Dass Gesichtspunkte der wirtschaftlichen Effizienz beachtet und die betriebswirtschaftliche Stabilität von Institutionen der Krankenpflege berücksichtigt werden, ist nicht nur unausweichlich, sondern sogar heilsam. Aber verfehlt ist es, wenn diese Einrichtungen sich dabei der Denkweise des Ökonomismus auslikefern. Der St. Galler Wirtschaftsethiker Peter Ulrich hat die grundlegenden Merkmale dieses Ökonomismus folgendermaßen charakterisiert: In ihm verselbständigt sich die ökonomische Realität. Das Kosten-Nutzen-Denken wird absolut gesetzt. Die Logik des Marktes wird überhöht. Ökonomie und Ethik treten demzufolge in zwei Welten auseinander. Die ökonomisch Verantwortlichen erklären sich für ethisch unzuständig; den pflegerisch und damit auch ethisch Verantwortlichen wird  umgekehrt die Kompetenz für Fragen der ökonomischen Effizienz abgesprochen.

3.

Es ist dieses Zwei-Welten-Denken, das ein neues Nachfragen nach der Ethik in der Pflege ausgelöst hat. Es gibt eine neue Intensität der Diskussion über die Ethik in der Pflege. Ich verweise exemplarisch auf die Neufassung des Ethikkodex für Pflegende, der im Jahr 2000 vom Internationalen Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger vorgelegt worden ist. Dieser Kodex beruft sich auf die international anerkannten Menschenrechte; er tritt dafür ein, dass Pflege ohne Rücksicht auf Alter, Behinderung, Krankheit, Geschlecht, kulturelle Zugehörigkeit und sozialen Status gewährleistet wird.

In dieser Diskussion bildet sich ein neuer Konsens über die in der Pflege leitenden Werte heraus. Es zeigt sich, dass wir es in solchen Zusammenhängen nicht so sehr mit der Aufgabe zu tun haben, neue Werte zu formulieren, sondern ein neues Wertebewusstsein zu entwickeln. Das Prinzip der Unantastbarkeit der menschlichen Würde steht unter den in solchen Zusammenhängen genannten Werten obenan. Die Balance zwischen Fürsorge und Respekt gegenüber dem selbstbestimmten Handeln tritt dem zur Seite. Der Respekt vor den Rechten der Pflegebedürftigen schließt auch deren wirtschaftliche Rechte ein. Das Prinzip der Gerechtigkeit, Offenheit und Transparenz erscheint in solchen Zusammenhängen nicht nur als ein Gebot im Umgang mit Pflegebedürftigen, sondern auch als Leitprinzip für den Führungsstil in Pflegeeinrichtungen.

Unter ethischem Gesichtspunkt betrachten wir auch pflegebedürftige Menschen unter dem Gesichtspunkt ihrer Freiheit und Verantwortungsfähigkeit. Wir versuchen deshalb, ihnen den Freiheitsspielraum zu lassen und den Verantwortungsbereich einzuräumen, der ihnen in ihrer Lage möglich ist. Darin zeigt sich eine praktische Folge des christlichen Menschenbilds für den Bereich der Pflege. Denn der christliche Glaube begründet die Verantwortungsfähigkeit und Moralfähigkeit des Menschen in seinem Angesprochensein durch Gott und damit im Antwortcharakter menschlichen Lebens. Der Mensch ist das von Gott angesprochene und zur Antwort aufgeforderte Wesen. Das ist gemeint, wenn man vom Menschen als Gottes Ebenbild spricht; denn damit wird er als das Gott entsprechende, von ihm ansprechbare und zur Antwort befähigte Wesen charakterisiert. In dieser Anrede durch Gott liegt der Grund menschlicher Freiheit. In der dem Menschen zugetrauten Antwortfähigkeit liegt die Wurzel menschlicher Verantwortung. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass im Wort "Verantwortung" das Wort "Antwort" enthalten ist.

Im christlichen Menschenbild geht es um viel mehr als nur um moralische Ansprüche an den Menschen. Es geht weit grundlegender um eine elementare Anerkennung des Menschen. Im christlichen Verständnis ist die Würde des Menschen gerade deshalb unantastbar, weil sie nicht in den Leistungen oder der Leistungsfähigkeit des Menschen, sondern in der Beziehung Gottes zu jedem einzelnen Menschen begründet ist. Wenn der christliche Glaube von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben spricht, so ist damit gesagt, dass das Sein des Menschen nicht von seinem Tun, sondern das Tun des Menschen von seinem Sein her begriffen wird (Eberhard Jüngel). Wäre es anders, wäre der Sinn menschlichen Lebens von unserem Handeln abhängig, dann ginge dieser Sinn verloren, wenn unser Handeln scheitert oder wir zum Handeln nicht mehr im Stande sind. Es ist leicht zu sehen, wie grundlegend diese Einsicht für den Bereich der Pflege ist. Wir machen die Pflege, die wir einem Menschen zukommen lassen, nicht abhängig von der Leistungsfähigkeit, die wir ihm noch zutrauen. Wir meinen in der pflegenden Zuwendung den Menschen selbst, nicht seine Leistungen.  Denn der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht – das ist der Kern der Botschaft von der unverdienten Annahme und unverlierbaren Anerkennung des Menschen durch Gottes Gnade.

Die uns von Gott geschenkte Würde kommt allen Menschen unbeschadet ihrer Unterschiede in gleicher Weise zu. Aber der Umgang des Menschen mit der eigenen Würde wie mit der Würde anderer vollzieht sich in der konkreten Welt all solcher Unterschiede; der Respekt vor der Würde des Menschen schließt die Achtung seiner Individualität und Unverwechselbarkeit, damit aber auch die Achtung seiner Endlichkeit und Begrenztheit ein. Zur Individualität und Unverwechselbarkeit der Menschen und insofern auch zu ihrer Würde gehört insofern auch, dass ihnen ihre Taten zugerechnet, ihre Fehlleistungen vorgehalten und ihre Leistungen anerkannt werden. Es wäre ja auch ein offenkundiger Angriff auf die Würde des Menschen, wenn seine Verantwortung für die eigenen Taten wie die eigenen Untaten schlechterdings abgestritten und ignoriert würde.  Und es verstieße genauso gegen dieses Bild vom Menschen, wenn wir die Besonderheiten der menschlichen Biographie, die kulturelle Prägung seines Lebenslaufs, die religiösen Bindungen, die ihn bestimmen, die sprachliche Artikulationsfähigkeit, über die er verfügt, gleichgültig ignorieren würden. In einer Gesellschaft, die durch kulturelle Pluralität geprägt ist, ist deshalb der Übergang zu einer kulturell sensiblen Pflege ganz unausweichlich. In dieser Hinsicht kündigt sich ein Paradigmenwechsel in der Pflege an, dessen Auswirkungen auf die Ausbildung gar nicht überschätzt werden können. Aber deutlich ist auch hier die Spannung zwischen einer ökonomischen und einer ethischen Betrachtung der Pflege. Denn kulturelle Sensibilität setzt ein auf Kommunikation ausgerichtetes Pflegeverständnis voraus; dessen Umsetzung prallt häufig daran ab, dass Kommunikationsleistungen gar nicht oder nur in geringem Umfang als abrechenbar gelten. Hier erscheint mir ein Umdenken als ganz unausweichlich. Sonst läuft alles Reden von der Ganzheitlichkeit der Pflege ins Leere. Wenn Kommunikationszeit nicht in die Pflege eingerechnet wird, dann ist ein ganzheitliches und ebenso auch ein kultursensibles Pflegeverständnis nicht umsetzbar. Es erscheint mir als eine vorrangige Aufgabe, den Zusammenhang zwischen Kommunikationszeit und wirtschaftlicher Effizienz neu zu bedenken und die problematischen Entwicklungstendenzen in diesem Bereich zu korrigieren.

4.

Unser kulturelles Paradigma ist in der christlichen Tradition verwurzelt. Sie tritt für ein Menschenbild ein, das den Menschen ganzheitlich als die von Gott geliebte Person wahrnimmt. Dabei orientiert sich unsere kulturelle wie religiöse Tradition nicht nur an der Fähigkeit zur Selbstachtung, sondern auch an der Achtung des anderen, nicht nur an der Selbstliebe, sondern auch an der Nächstenliebe.

Aus dem Gebot der Nächstenliebe ergibt sich geradezu die Pflicht, Möglichkeiten wahrzunehmen, um Menschen in Not zu helfen. Aber dieses Ziel rechtfertigt nicht jedes Mittel. Und Therapieversprechungen rechtfertigen nicht jede Art von Forschung. Die Hoffnung auf Heilung, die durch die gegenwärtig besonders intensiv geführte Genetik- und Bioethikdebatte große Aufmerksamkeit erhält, sollte nicht mit der Illusion einer leidfreien Welt verwechselt werden.

Die großen ethischen Konfliktthemen unserer Zeit – die Frage des Umgangs mit den neuen Möglichkeiten der Gentechnologie ebenso wie die Frage der aktiven Sterbehilfe machen auf ihre Weise deutlich, wie aktuell ethische Fragen sind, die sich auch in den Bereich der Pflege auswirken. Deshalb sollte man erwarten, dass auch der Bereich der Pflege sich aktiver an diesen Diskussionen beteiligt, als gegenwärtig in der Regel zu beobachten ist.

Dass in den Niederlanden die aktive Sterbehilfe legalisiert wurde, hat auch in Deutschland ein neues Nachdenken ausgelöst. Dass die zuständige holländische Ministerin es auch für erwägenswert hält, “lebensmüden” alten Menschen eine Tötungspille zur Verfügung zu stellen, zeigt die fundamentalen Alternativen, vor denen wir stehen, noch deutlicher. Statt Patiententestament und Sterbebegleitung, statt stationärer und ambulanter Hospize, statt Schmerzlinderung auf dem Weg zu einem menschenwürdigen Sterben soll der Tod nach Wahl der richtige Weg sein; freilich steht er nur denjenigen offen, die im Angesicht des Todes bei klarem Bewusstsein sind und die aktive Sterbehilfe oder gar die Tötungspille mehrfach eindeutig fordern. Aber dieser Tod nach Wahl scheint eine nahe liegende Folgerung aus einer Lebenshaltung zu sein, in welcher der Mensch nur noch an sich selbst glaubt und deshalb seinem Leben ein Ende setzen will, wenn er von sich selbst nichts mehr halten und erwarten kann.

Dem Glauben des Menschen an sich selbst stellen wir den Glauben an Gott entgegen. Zu ihm gehört das Vertrauen, dass Gott auch noch im Tod zu uns hält und uns deshalb auf eine Zukunft hoffen lässt, die stärker ist als der Tod. Eben daraus wächst die Bereitschaft, das Leben als Geschenk anzunehmen, das Gott uns anvertraut.

So wenig wie ein Tod nach Wahl kann deshalb auch ein Leben nach Wahl befürwortet werden, bei dem durch Präimplantationsdiagnostik eine aktive Selektion der für geburtswürdig angesehenen Embryonen durchgeführt wird. Mit dem Leben nach Wahl wie mit dem Tod nach Wahl würden nicht nur medizinische, sondern auch ethische Grenzen verschoben. Die Würde, die dem Menschen verliehen ist, würde endgültig durch den Wert verdrängt, den der Mensch sich selbst zuschreibt. Eine Veränderung würde sich vollziehen, die auf unser Bild vom Menschen tief greifende Auswirkungen hat.

Wenn sich mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung in den Bereichen der Gentechnologie, der Nanotechnologie und der Robotik die Erwartung verbindet, dass Dinge entwickelt werden, die den Menschen überlegen sind und deshalb besondere Erwartungen an die Personalität des Menschen überflüssig machen, dann ist damit die Frage gestellt, ob überhaupt zwischen „jemand“ und „etwas“ noch eine wirkliche Differenz besteht. Diese Differenz ist in der Tradition des Personbegriffs darin gesehen worden, dass der Mensch nicht durch besondere Eigenschaften oder Leistungen zu etwas wird - und sei dies „eine Person“ -, sondern dass er als Person geachtet und anerkannt wird, bevor er solche Eigenschaften oder Leistungen überhaupt zu entwickeln vermag. Diese anspruchsvolle Feststellung darüber, was den Menschen zur Person macht, findet ihre schlichte Entsprechung in der Beobachtung, dass die Ausbildung derjenigen Eigenschaften, an denen sich unserer durchschnittlichen Auffassung zufolge das Personsein eines Menschen zeigt - zum Beispiel Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Selbstvertrauen - immer schon voraussetzt, dass der Betreffende als Person akzeptiert und behandelt wurde.

Das klingt zunächst vielleicht abstrakt, aber die dahinter liegende Erfahrung kennen wir alle aus dem Aufwachsen von Kindern. Ein Kind kommt nicht mit Selbstbewusstsein und mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung auf die Welt. Deswegen ist es auch vollkommen wirklichkeitsfremd zu sagen, wir definierten die menschliche Person durch die Selbstachtung, und gleichzeitig zu behaupten, wie es manche tun, diese Personalität im Sinne einer am Menschen aufweisbaren „Fähigkeit“ beginne mit der Geburt. Denn es ist unbestreitbar, dass wir an Neugeborenen noch keine Selbstachtung feststellen oder nachweisen können. Dass das Neugeborene Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung entwickelt, hängt daran, dass es als Person geachtet und anerkannt wird, bevor es solche Fähigkeiten hat. Das gerade macht den Zauber und das Wunder des Aufwachsens von Kindern aus. Der erste Blick, mit dem Mutter und Vater das Kind anblicken, enthält eine Respektierung dieses Kindes als Person, bevor es sich selbst als Person in einem umfassenderen Sinn des Wortes artikulieren kann.

Deshalb ist es entscheidend für den Begriff der Person, dass der Mensch nicht reduziert wird auf seine natürliche Ausstattung, auf seine physische Existenz, auf die ihm genetisch anvertrauten Gaben. Ich bin auch anderes und mehr geworden, als in meinen Genen steckt. Ich habe nämlich eine Geschichte. Deshalb bin ich heute ein anderer als mein Zwillingsbruder wäre, wenn ich einen hätte; denn er würde eine andere Geschichte haben. Uns beide zu reduzieren auf die identische genetische Ausstattung, wäre eine Verachtung unseres Person-Seins. Genau diese Verachtung vollzieht sich aber, wenn man im Menschen nicht mehr sieht als seine genetische Ausstattung. Der Unterschied zwischen „jemand“ und „etwas“ verschwimmt. Wenn das nicht der Fall sein soll, müssen wir auch im Umgang mit den neuen Möglichkeiten von Gentechnologie und Reproduktionsmedizin die Fähigkeit entwickeln, Maß zu halten.

Diese Fähigkeit, Maß zu halten, ist auch im Umgang mit der Endlichkeit des menschlichen Lebens herausgefordert. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms verbindet sich die Aussicht, die genetische Disposition des Menschen vollständig unter Kontrolle zu bekommen. Mit der Aussicht auf gentherapeutische Verfahren, insbesondere das therapeutische Klonen, verbindet sich die Vision, Krankheiten aus eigener Kraft vollständig zu überwinden. Organtransplantation oder Xenotrapnsplantation erscheinen vor einem solchen Hintergrund schon jetzt als veraltete Technologien der ‚Lebenswissenschaft‘.

Gewiss gehen manche dieser Erwartungen über die Wirklichkeit weit hinaus. Alle Unsterblichkeitsphantasien werden nichts daran ändern, dass die menschliche Lebensspanne endlich ist. Mediziner sprechen davon, dass diese Lebensspanne – also die im äußersten Fall denkbare Lebenszeit des Menschen – etwa 120 Jahre beträgt. Auch wenn die Fortschritte der Medizin dazu führen, dass wir mit unserer individuellen Lebenszeit diese Lebensspanne in höherem Maß ausschöpfen als bisher, so hat dies doch mit Unsterblichkeit nichts zu tun. Man kann die skeptische Frage stellen, bis zu welcher Grenze ein solches Ausschöpfen überhaupt sinnvoll und wünschenswert ist; man sieht schon jetzt, wie diesem Hinausschieben der Grenze die Forderung nach einer Beendigung menschlichen Lebens durch aktives Eingreifen des Arztes – die sogenannte aktive Sterbehilfe – zur Seite tritt. Aber unabhängig von dieser Frage und von anderen kritischen Einwänden, die man im Blick auf Entwicklungen in den Biowissenschaften stellen muss, bleibt es dabei: Unsterblichkeit werden sie nicht bewirken; die Todesgrenze überspringt der Mensch auf diese Weise nicht. Auch dann nicht, wenn das biblische Altersmaß überschritten wird, von dem es im 90. Psalm heißt: “Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre.”

Die Möglichkeiten menschlichen Handelns ändern sich. Je mehr sie wachsen, desto dringlicher ist die Tugend des Maßes gefragt. Sie ist auch nötig, wenn es inmitten aller Veränderungen möglich bleiben soll, Pflege und Ethik zusammenzuhalten – oder genauer: neu miteinander zu verbinden.

Dazu – am dreißigsten Geburtstag der Wannsee-Schule – : herzliche Segenswünsche!