Medien und Moral

Wolfgang Huber

Dinner Speach

„Wann kommt endlich der Abspann? Wann kommt endlich der Abspann?“ So fragte die junge Dame in der Maske eines Berliner Fernsehstudios ratlos am 11. September. Am späten Abend, nach dem überfüllten Gottesdienst im Berliner Dom, war ich in das Studio gekommen, gefragt, wie denn zu deuten sei, was am Nachmittag dieses Tages geschehen und seitdem wieder und wieder auf allen Fernsehkanälen gezeigt worden war. Unvergesslich ist  das Bild von dem Flugzeug, das wie ein Pfeil in den zweiten Turm des World Trade Center raste oder von den Menschen, die in ihrer Verzweiflung aus den Fenstern sprangen und in die Tiefe stürzten. „Wann endlich kommt der Abspann?“

Es handelte sich aber nicht um Fiktion, sondern um Wirklichkeit. Seitdem begleitet uns diese Realität Stunde für Stunde – bis hin zu den Ankündigungen des gestrigen Tages. Wir fragen uns alle, welche Reaktionen auf diese Wirklichkeit angemessen und welche erfolgversprechend sind. Es gibt keinen Abspann für diesen Film, sondern nur eine gemeinsame Verantwortung für den Umgang mit dieser Realität und ihren Folgen.

Wir wissen es alle: Die Grenzen zwischen Information und Unterhaltung sind fließend geworden. Infotainment oder Politainment sind die Formen, in denen ein Großteil unserer Zeitgenossen am ehesten noch zur Teilnahme am politischen Geschehen motiviert werden kann. In den Massenmedien – so hat die Evangelische Kirche in Deutschland in einer kritischen Reflexion dieser Entwicklung festgestellt – wird die Leitkategorie ‚Klärung’ weitgehend durch ‚Aufmerksamkeit’ ersetzt. Der Neuigkeits- und Konfliktwert der Information, die Prominenz der Sprecher, der Sensationsgehalt der Bilder, der Symbolwert der Inszenierung rangieren vor Relevanz und Sachgehalt der Themen.“

Natürlich kann die Ersetzung von Klärung durch Aufmerksamkeit zur Perversion getrieben werden. Man mag sich das an der absurden Vorstellung von „naked news“ verdeutlichen, bei denen die Nachrichtensprecherinnen sich während der Sendung nackt ausziehen, um dadurch für die Nachrichten größere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch Aufmerksamkeit als solche ist ethisch selbstverständlich keine negative Kategorie. Vielmehr ist Aufmerksamkeit eine der wichtigsten Brücken zwischen Medien und Moral. Erst wenn es dahin komme, so hat Immanuel Kant bemerkt, dass die Menschenrechtsverletzung, die an einem Ort geschieht, an allen Orten gespürt wird, ist die Vorstellung von einem Weltbürgerrecht nicht länger eine „überspannte Vorstellungsart des Rechts“, sondern eine in der Aufmerksamkeit der Menschen verankerte Kategorie. Anders gesagt: Ohne die mediale Vermittlung von Sachverhalten – auch über große räumliche Abstände hinweg – wäre die Rede von universalen Menschenrechten obsolet. Ohne die Wirksamkeit der Medien hätten die Menschenrechte keine Wirklichkeit. Wer im Namen der Menschenrechte Medienkritik übt – und dazu gibt es immer wieder hinreichend Anlässe - , muss sich gleichzeitig klarmachen, dass es ohne Medien gar keine Möglichkeit gäbe, die weltweite Geltung der Menschenrechte einzufordern.

Freilich schließt das nicht aus, dass Medien auch in einer Weise verwendet und eingesetzt werden können, die mit der Würde der menschlichen Person unvereinbar ist. Wo Gewalt und Intimität zur bloßen Unterhaltung werden, überschreiten die Medien eine Grenze, die ihnen durch die Unantastbarkeit der Menschenwürde gesetzt ist. Wie diese Grenze genauer zu bestimmen ist, wurde zuletzt am Beispiel der Serie „Big Brother“ ausgiebig diskutiert. Thomas Middelhoff hat in dieser Diskussion geltend gemacht, der Einwand gegen Big Brother und vergleichbare Beispiele für „Reality TV“ verdanke sich gar nicht dem moralischen Einwandc, dass hier Menschen zum Zwecke des wirtschaftlichen Vorteils instrumentalisiert werden. Es handle sich vielleicht lediglich um ein Geschmacksurteil bildungsbürgerlicher Provenienz. Es gehe also nicht um eine moralische, sondern lediglich um eine ästhetische Frage. Hilfsweise hat er geltend gemacht, „dass die Freiwilligkeit der Teilnehmer, an diesem Spielformat teilzunehmen, ebenso wie die Freiwilligkeit der Zuschauer, dieses Format zu sehen, ein Indiz dafür sind, dass hier weder die Würde der Teilnehmer noch died der Rezipienten geschützt werdcen müssen.“

Dass das zweite Argument nicht duchträgt, ist in den USA schon vor Jahren am Beispiel des „Zwergewerfens“ erörtert worden. Wenn auf Jahrmärkten großgewachsene, sozusagen riesenhafte Menschen, sich kleinwüchsige Menschen suchen, die sie einander wie Bäle zuwerfen, dann wird die Verwandlung eines Menschen zum Ball nicht dadurch gerechtfertigt, dass der „Zwerg“ – bei entsprechender Entlohnung – dieser Funktion zugestimmt hat. Deshalb wird man auch dort, wo Menschen bereit sind, ihre eigene Würde zur Disposition zu stellen, aus elementaren moralischen Gründen sagen müssen, dass in einem solchen Fall Menschen auch vor sich selbst zu schützen sind. Die in solchen Vorgängen demonstrierte Gleichgültigkeit dagegen, dass Menschen zum bloßen Instrument der Unterhaltung gemacht werden, hat eine moralisch bedenkliche Ausstrahlungswirkung, die durch die Freiwilligkeit nicht harmloser wird.

Die Medien beziehen ein Stück ihrer moralischen Autorität daraus, dass sie Anwälte der Menschenwürde zu sein vermögen. Sie sind das aber nur, wenn sie auf bestimmte Bilder auch zu verzichten bereit sind. Mir ist das immer dann am deutlichsten geworden, wenn Medien in die Trauer von Menschen schamlos eingedrungen und eingebrochen sind. Der Mord an Ulrike Brandt aus Eberswalde in diesem Frühjahr ist – auch durch den Prozess gegen den Täter – vielen noch im Sinn. Als ich den Eltern einen Trauergottesdienst für das auf so grausame Weise umgebrachte Kind vorschlug, waren sie damit sehr einverstanden. Doch ob sie selbst daran teilnehmen könnten, war ihnen ungewiss. Sie fürchteten sich davor, einen neuen Anlass für die Zudringlichkeit von Fernsehkameras und Bildreportern zu schaffen. Erst als ich ihnen zusicherte, dass sie sich in der Kirche vor solcher Zudringlichkeit nicht fürchten müssten, konnten sie sich zur Teilnahme entschließen. Und die legitimen Interessen der Öffentlichkeit konnten gleichwohl befriedigt werden: mit genau einem Bildreporter und einem einzigen Kamerateam im Kirchenraum.

Neben der Aufmerksamkeit für die gleiche Würde jeder menschlichen Person ist die Wahrheitspflicht eine zweite Brücke zwischen Medien und Moral. An dieser Stelle ist die moderne Medienentwicklung noch immer mit einem Begriff der Öffentlichkeit verbunden, nach welchem der öffentliche Austausch von Informationen und Überzeugungen in sich selbst die Kraft hat, Wahrheit aufzudecken und zu erschließen. Doch die marktförmige Organisation von Medien führt dazu, dass die Verkäuflichkeit von Nachrichten immer wieder den Vorrang vor ihrem Wahrheitsgehalt erhält. Die Verkäuflichkeit aber hängt an kurzfristigen Interessefaktoren. Am günstigsten ist es, einen Skandal mit etwas zu verbinden, was politisch als korrekt gilt. In einer Phase, in der politisch und gesellschaftlich beispielsweise dem Rechtsextremismus eine erhöhte Aufmerksamkeit für Rechtsextremismus gilt, verkaufen sich Meldungen auch dann, wenn sie Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund nur simulieren. Denn wer dem widerspricht, zieht sich doch den Verdacht zu, selbst rechtsextrem zu sein. Der Tod des kleinen Josef in Sebnitz ist dafür ebenso zum Symbol geworden wie der Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf am 3. Oktober 2000. Kaum hatte sich im Düsseldorfer Fall gezeigt, dass nicht wie vermutet Neonazis, sondern zwei junge Männer arabischer Abstammung die Tat verübt hatten, die Rache für einen im Gazastreifen erschossenen Jungen üben wollten, erlahmte das publizistische Interesse. Ärger noch im Sebnitzer Fall: Drei Jahre nach dem Ertrinken des sechsjährigen Josef in dem nahe der tschechischen Grenze gelegenen Städtchen von zehntausend Einwohnern titelte die Bildzeitung: „Neonazis ertränken Kind“. Die ganze Republik war in Aufruhr; die Aussage, dergleichen könne auch nur im Osten Deutschlands passieren, war schnell bei der Hand. Der evangelische Ortspfarrer, der in einem Hintergrundgespräch Zweifel an der Darstellung der Medien geäußert hatte, wurde alsbald der Sympathie mit dem Rechtsextremismus geziehen und von seiner Landeskirche für einige Tage vom Dienst beurlaubt. Der Bundeskanzler empfing die Mutter des ertrunkenen Jungen und verlieh damit ungewollt „mangelhaftem journalistischem Handwerk staatspolitische Würde“ (Angela Merkel). Aber nicht nur die Medien, sondern auch die betroffene Familie und die Bürgerschaft von Sebnitz, ja in gewissem Umfang die ostdeutsche Bevölkerung insgesamt gingen aus diesem Vorgang als Verlierer heraus.

In der Mediengesellschaft besteht eine Tendenz, die Medien zu überschätzen. Diese Überschätzung nährt sich natürlich vor allem aus dem großen Anteil an Lebenszeit, die Menschen für Mediennutzung zur Verfügung stellen, und aus der Tatsache, dass Medien das dynamischste wirtschaftliche Wachstumssegment darstellen. Doch die Erwartung, dass die Medien Sinn schaffen, dem Leben Struktur und Halt geben, an die Stelle von Glauben und Religion treten, beruht gleichwohl auf einer in einem strengen Sinn heil-losen Überschätzung der Medien. Solche Heilserwartungen aber bestimmt manchmal sowohl diejenigen, die in die Medien kommen, als auch diejenigen, die sie nutzen. Für manche gilt: Wenn ich gesehen werde, bin ich – videor ergo sum. Die anderen reduzieren ihren Lebenssinn darauf, bewegte Bilder in sich aufzunehmen und sich durch Fernsehen, Internet oder Video unterhalten zu lassen. Sie folgen dem Sinnmuster: Video ergo sum. Gegenüber beiden Formen der medialen Sinnproduktion muss man sagen: Es ist für die Medien unmöglich, Sinn zu stiften. Sie leisten Großes, wenn sie solche Sinnstiftung darstellen oder zu ihr hinführen. Aber Sinnstiftung hat es mit dem Unverfügbaren zu tun, mit dem Transzendenzbezug menschlichen Lebens, mit der Gottesfrage. Der Sinn menschlichen Lebens hängt daran, dass der Mensch im Vorhandenen und Verfügbaren nicht aufgeht. Er ist ein Beziehungswesen, das auf die Beziehung zu anderen Menschen wie zu Gott angewiesen ist, um auch zu sich selbst in eine Beziehung treten und so mit seinem Leben einen Sinn verbinden zu können.

Das führt zu einem anderen Aspekt, unter welchem vor einer Überschätzung der medialen Kommunikation zu warnen ist. Medien erregen Aufmerksamkeit. Klärung und Orientierung aber sind auf direkte Kommunikation angewiesen; sie vollziehen sich nicht durch mediale Kommunikation allein. Die Veränderung von Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen bildet sich nicht in der Auseinandersetzung mit Medien, sondern nur in der Auseinandersetzung mit Menschen. Wenn man generell sagen kann, dass unsere Gesellschaft einen großen Bedarf an moralischer Klärung, an Wertebildung und auch an religiöser Orientierung hat, so brauchen wir mehr als nur mediale Kommunikation: wir brauchen die Begegnung von Menschen, die leibhaftig zusammenkommen und in einen lebendigen Austausch miteinander treten. Das beweist ja auch dieser Abend. Wir reden über Medien; aber wir tun es auf dem Weg direkter, unmittelbarer Kommunikation.