Hoffnungszeichen für die Welt - Vortrag bei der Ökumenischen Kirchenversammlung in Wittenberg

Margot Käßmann

„Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauchte ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhof und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik. Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge, wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.“ – Das sagt ein Jugendlicher, der mit dem Glauben ringt und sich von Gott abwenden will, in dem Roman „Nachtzug nach Lissabon“ des Schweizer Philosophen und Schriftstellers Peter Bieri (unter dem Synonym Pascal Mercier).

Ja, Europa lebt von der Erfahrung der Kathedralen, der betenden Menschen, der Orgeln, der biblischen Geschichten. Die Vielfalt der christlichen Tradition, ob orthodox oder reformiert, baptistisch oder römisch-katholisch, methodistisch, anglikanisch oder lutherisch, sie prägt die Seele Europas!. Das haben wir in diesen Tagen in Wittenberg erlebt. Wir sind auf einer Pilgerreise von Rom über Wittenberg nach Hermannstadt und machen dazwischen Station an verschiedenen Orten Europas. Begleitet hat uns die Geschichte von der Verklärung Jesu. Auf dem Berg sind sie, auf dem Gipfel. In der Einheit angekommen mit Mose und Elia. „Hier ist gut sein“, sagt Petrus, da möchte er bleiben. Und dort, in den Kathedralen, auf den Gipfeln unseres Glaubensleben, da würden auch wir gern verweilen.

Aber wir können nicht auf dem Gipfel bleiben, wir müssen zurück in die Ebene der Mühen. Wir müssen einander zumuten, dass wir verschieden sind. Immer wieder ist das in diesen Tagen in Wittenberg auch deutlich geworden: Wir sind getrennte Kirchen. Es gibt viel Verschiedenheit zwischen uns, die nicht immer bereichernd wirkt, ja manches Mal auch Fremdheit oder gar Konflikt und Ablehnung erzeugt. Wir wissen doch, es reicht nicht länger, dass wir uns freundlich begegnen. Die Menschen in unseren Gemeinden, ja die Menschen in Europa und der Welt haben Sehnsucht nach einer Kirche, die ihre Vielfalt und Verschiedenheit fröhlich bejaht und doch gemeinsam Zeugnis gibt von dem Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten. Auf dem Berg beginnen die Jünger, das zu begreifen.

Wir müssen am Ende dieser Tagung eingestehen: Es ist uns bisher nicht gelungen, in Europa ein überzeugendes Signal zu setzen, durch das die Menschen erkennen: Die Kirchen sind die entscheidende Stimme für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Es ist uns bisher nicht gelungen, überzeugend deutlich zu machen, dass diese Themen nicht einfach „nur Ethik“ betreffen, sondern das „esse“ unserer Kirchen berühren. Unser Kirchesein ist angefragt, wenn wir nicht glaubwürdig handeln in der Welt, das hat der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung betont. In dieser Tradition stehen wir.

Bei den Berichten über die so genannte zweite Station, die regionalen Ereignisse wurde von vielen ermutigenden Erfahrungen berichtet, etwa aus Bulgarien, Irland, der tschechischen Republik und Italien. Und gleichzeitig wurde zum Teil schmerzlich klar, dass die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung öffentlich nur wenig wahrgenommen wird. Mag das daran liegen, dass eine Ökumene der Kirchenleitenden noch lange nicht die Herzen der Menschen bewegt? Muss nicht Partizipation der Schlüssel sein für eine ökumenische Pilgerreise? Auf einer Pilgerreise kann nicht einer voran gehen, da sind alle gemeinsam auf dem Weg ohne Hierarchie und ohne Privilegien, Männer und Frauen, Junge und Alte, Ordinierte und Nicht-Ordinierte.

Teilweise hat uns Wittenberg auch ernüchtert in der Erkenntnis: Einheit ist nicht billig zu haben. Nein, sie ist teuer, es geht um „costly unity“ wie das eine Studie des Ökumenischen Rates der Kirchen formuliert hat. Ökumene ist nicht für den Austausch von ein paar Nettigkeiten zu erlangen. Es geht darum, uns die Differenz gegenseitig zuzumuten. Damit eine solche Zumutung nicht verletzend wirkt, brauchen wir Respekt voreinander. Vermutlich ist Respekt der Anfang des Dialogs.

In der Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt haben die Kirchen in Deutschland eine Kampagne zum Thema Respekt initiiert (eine Postkarte dazu halten Sie in Händen). Wir müssen darüber reden, wo unsere Verletzungen liegen, was unsere Differenzen sind, wie wir wirklich zu einer heilenden Gemeinschaft werden können, wenn wir wirklich etwas zum Frieden in der Welt beitragen wollen. Wir können nicht andere, Juden und Muslime, Inländer und Ausländer, Junge und Alte auffordern, sich zu respektieren, wenn wir das als Kirchen und Christen nicht gegenseitig tun.

Die Ökumenische Dekade „Gewalt überwinden“, die 2001 in Potsdam begann und 2011 mit einer großen Friedenskonvokation enden soll, hat in diesem Jahr das Schwerpunktthema Europa. Bewusst hat der Ökumenische Rat der Kirchen diesen Schwerpunkt gewählt, weil von Sibiu ein Signal erwartet wird. Ein Signal, das die Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika als Hoffnungszeichen wahrnehmen können in einer globalisierten Welt der Gewalt, der Ausbeutung und der Unterdrückung. Diese Dekade ist ein konkretes Beispiel, wie wir von unseren Glaubensüberzeugungen her als Kirchen in der Welt aktiv handeln können. Uns ist gesagt: „Selig sind die Friedfertigen!“. Deshalb treten wir gegen Gewalt ein. Gegen Gewalt in Familien, gegen Gewalt gegen Frauen und Flüchtlinge und Minderheiten. Deshalb treten wir ein für friedliche Lösung statt militärische Intervention. Europa darf sich nicht an Rüstungsexporten bereichern und anschließend bewaffnete Konflikte beklagen. Deshalb treten wir ein für eine Globalisierung, die soziale Gerechtigkeit für alle zum Ziel hat und nicht die Bereicherung einiger weniger. Deshalb treten wir ein für einen Lebensstil, der die Schöpfung bewahrt und nicht zur Zerstörung beiträgt. Die Delegierten für Sibiu, sie müssen sich bewusst sein, wie viele auf ein solches Zeichen hoffen aus den Kirchen, von den Christinnen und Christen in Europa.

Die Quelle für eine solche Lebenshaltung, für ein solches Zeichen ist unser Glaube. Ja, wir waren mit auf dem Gipfel, denn wir dürfen immer wieder Gottes Gegenwart erfahren. Wir haben miteinander Gottesdienst gefeiert und mit allen Sinnen erlebt, wie Gott uns stärkt, uns Brot und Wein mit auf den Weg gibt, uns in eine Gemeinschaft der Zeuginnen und Zeugen des Glaubens stellt.

Martin Luther King sagte in seiner letzten großen Rede: „I just want to do God´s will. And He´s allowed me to go up to the mountain. And I´ve looked over and I´ve seen the promised land. I may not get there with you. But I want you to know tonight, that we as a people will get to the promised land.” Er hatte Gottes Zukunft gesehen, in der alle Tränen abgewischt werden. Er hatte aus diesem Zukunftstraum ganz reale diesseitige Hoffnungen abgeleitet wie das Ende des Rassismus und der Verelendung großer Teile der Bevölkerung. Respekt hat er erwartet vor jedem Mann, jeder Frau jedem Kind, vor jedem Menschen gleich welcher Hautfarbe und Herkunft. Als Menschenwürde können wir das übersetzen. Als Achtung der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen. Aber auch Martin Luther King musste den Gipfel verlassen, am nächsten Tag wurde er ermordet. Costly unity....teure Einheit... chère unite.

Ja, in manchem waren diese Tage in Wittenberg ernüchternd. Wir finden nicht so schnell den großen Durchbruch. Aber sie waren auch ermutigend im Zeugnis der vielen, die auf dem Weg sind. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Kirchen in Europa zu Zeuginnen der Gemeinschaft über die Grenzen von Nation und Kultur, Geschlecht, Rasse, sozialem Status und Alter hinweg werden.

Wir müssen den Mut haben, die Kosten dafür auf uns zu nehmen und ringen um den richtigen Weg. Der Respekt, den wir einander in unserer konfessionellen und kulturellen Verschiedenheit entgegen bringen, entscheidet über den Respekt, den die Menschen in Europa vor dem Zeugnis der Kirchen haben werden. Es geht um die Glaubwürdigkeit unserer Kirchen. Wir müssen die Offenheit haben, viele zu Wort kommen zu lassen, Junge und Alte, Gruppen und Bewegungen, Bequeme und Unbequeme, Kirchenleitende wie Gruppen und Bewegungen. Wir werden dazu die Konferenzräume verlassen müssen, um die Ökumene der Menschen zu erleben, die miteinander leiden und feiern, ihren Glauben leben und beten, die Kathedralen bauen, auch heute, zur Feier der Liebe Gottes. Gottes Liebe zu spiegeln in unserem Reden und Handeln, das ist unser Auftrag.

Ich wünsche mir, dass die Menschen nach Sibiu sagen: Ich möchte nicht in einem Europa ohne Kirchen leben. Denn sie schenken uns Räume der Freiheit, Räume des Widerstands und des Widerspruchs, Räume voller Leben, Räume der Meditation und Kontemplation, durchbetete Räume, Räume volle Gesang und Klängen.

Oder noch einmal mit Pascal Mercier: „Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche den Glanz ihrer Fenster, ihre kühle Stille, ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche die Fluten der Orgel und die heilige Andacht betender Menschen. Ich brauche die Heiligkeit von Worten, die Erhabenheit großer Poesie. All das brauche ich. Doch nicht weniger brauche ich die Freiheit und die Feindschaft gegen alles Grausame. Denn das eine ist nichts ohne das andere. Und niemand möge mich zwingen zu wählen.“ In diesem Sinne erbitten wir Gottes Segen auf dem Weg nach Sibiu. Amen.