„Sind die Kirchen ein Zeichen der Hoffnung in der Welt?“ – Hauptvortrag beim 2. Ökumenischen Kirchentag, München

Margot Käßmann

Sind die Kirchen ein Zeichen der Hoffnung in der Welt?

1. Vorbemerkung

„Damit ihr Hoffnung habt!“ – Das ist die Losung dieses Kirchentages. Und so hat im Hauptvortrag im Themenbereich "Glauben leben" am Donnerstag Bischof Bulovic von der serbisch-orthodoxen Kirche zu "Was hat Hoffnung mit Gott zu tun?" gesprochen und Kardinal Lehmann am Freitag einen Vortrag zu "Wie viel Hoffnung bringt die Ökumene?" gehalten. Nach dem Blick ins Innere des christlichen Glaubens und dem Blick auf die Gemeinschaft des Glaubens ist nun heute also ein Blick auf die Welt vorgesehen.

2. Hoffnung – Annäherung an ein großes Wort

Hoffnung, was heißt das eigentlich? Der deutsche Begriff leitet sich vom mittelniederdeutschen „hopen“ ab, dem hüpfen oder springen vor Erwartung. Hoffnung meint demnach eine Erwartungshaltung. „Guter Hoffnung sein“ ist eine Umschreibung von Schwangerschaft bis heute. Und das Hüpfen in dieser guten Hoffnung kennen wir aus der biblischen Geschichte von Johannes dem Täufer, der angeblich im Mutterleib hüpfte, als Elisabeth der schwangeren Maria begegnete. Gute Hoffnung, das meint Erwartung auf eine gute Zukunft, das Gegenstück zur Hoffnungslosigkeit. Nicht Resignation: ich kann ja doch nichts tun, sondern: es kann gut werden und ich kann etwas dazu beitragen.

Im biblischen Zeugnis ist Hoffnung immer auf Gott verwiesen. Das Lob Gottes ist die Grundmelodie der Hoffnung im Alten Testament. Gottes Treue ist es, die Menschen Hoffnung schenkt. „Auf Gott hoffen“ ist gerade in den Psalmen eine Bezeichnung für den frommen Menschen (31,25; 37,9). Das heißt, ich vertraue mein Leben, meine Zukunft, meine Möglichkeiten Gott an, wenn ich hoffe und nicht hoffnungslos bin. So sagt etwa Psalm 62: „Aber sei nur stille zu Gott, meine Seele; denn er ist meine Hoffnung.“ (6) Hoffnung ist somit eine Lebenshaltung gläubiger Menschen gegen die Resignation und Hoffnungslosigkeit der Welt. Solch eine Haltung können wir auch heute erleben, wenn Menschen mitten im Elendsviertel ein Hallelujah anstimmen, wenn wir selbst mitten in Verzweiflung tief in uns Gottvertrauen erleben dürfen, wenn bei einer Trauerfeier gesungen wird: „Geh aus mein Herz und suche Freud.“

Im Neuen Testament setzt sich diese Melodie fort. Es ist die Hoffnung auf das Kommen des Gottesreiches, die diese Zeit und Welt in ein neues Licht taucht. Diese Hoffnung, die im Buch der Offenbarung Kapitel 21 ihr wohl schönstes Bild findet in den Tränen, die abgewischt sein werden und dem Ende von Leid, Not, Tod und Geschrei, sie wurde oft als Vertröstung auf ein Jenseits angesehen. Die Hoffnung, Gott von Angesicht zu sehen, bei Gott zu wohnen, wird immer wieder beschrieben (Mt. 5,8; 1. Kor 13,12). Gerade das aber führt nicht zu einer Vertröstung auf ein Jenseits oder gar zu einer Art von „Weltabstinenz“, wie es etwa die Rede von der Religion als „Opium des Volkes“ andeutet. Dieser Gottesglaube gibt Lebensmut gerade auch in schweren Zeiten. Er findet sich eben nicht ab mit den „Verhältnissen“, sondern kennt die Hoffnungskraft auf Veränderung.

Paulus sieht Abraham als das Musterbeispiel für einen Menschen, der hofft, wo es menschlich nichts mehr zu hoffen gibt. Sein Glaube, sein Vertrauen in Gott  bestimmten sein Handeln: „Er hat geglaubt auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen war“ (Rö 4,18). Offensichtlich hat Hoffen etwas mit Beharrlichkeit zu tun. „Hoffen gegen den Trend“ sozusagen. Sehr schön drückt das der Taizé Gesang aus: „Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke mein Licht: Christus meine Zuversicht, auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht.“

Und auch wenn das ein Hauptvortrag ist, ich denke, wir können das ruhig miteinander singen. (Liederheft Nr. 16)

Für Christinnen und Christen hat sich die Hoffnung personalisiert: „Christus ist unsere Hoffnung“ (1. Kor 15,19; Kol 1,27. 3, 1-4). Weil Jesus Christus den Tod überwunden hat, müssen diejenigen, die ihm nachfolgen, nicht in Hoffnungslosigkeit versinken. Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, sagt Paulus (1. Kor. 13,7). Bei der Hoffnung geht es demnach nicht so sehr um einen Zustand, den wir erreichen, sondern um unsere Beziehung zu Gott. Hoffnung ist für den Glauben ein Beziehungsbegriff.

Es geht also um ein Verhältnis, das Verhältnis zu Gott, das mein Leben bestimmt. Letzten Endes ist Hoffnung eine Gebetshaltung im Leben, der Grundausdruck der Gottesbeziehung. Martin Luther bezeichnet die christliche Hoffung als die „reinste Hoffnung auf den reinsten Gott“ (WA 5, 166,18). Diese Hoffnung auf Gottes Zukunft ist eine Lebenshaltung. Sie muss nicht Menschen oder Projekte oder Ideologien verklären als Inhalt der Hoffnung. Sie ermöglicht gerade die Freiheit der Welt gegenüber, Visionen von Gerechtigkeit und Frieden wach zu halten, eine Freiheit, die auch bei Enttäuschungen und Verzweiflung, in Resignation die Welt gestalten, ja verbessern will. Das hat Christinnen und Christen immer wieder den verächtlich gemeinten Titel „Weltverbesserer“ eingetragen. Ich denke, wir sollten diese Bezeichnung als Ehrentitel ansehen! Weltverschlechterer und Miesmacher gibt es schon genug! All diejenigen, die in den Untergangsgesang allzu gern einstimmen: Ich kann ja doch nichts tun! Dann doch lieber der christliche cantus firmus: Gerechtigkeit und Friede werden sich einst küssen, darauf hoffen wir. Gerade deshalb aber wollen und können wir schon Hier und Jetzt Spuren des Reiches Gottes legen.

Hoffnung hat somit immer eine personale Dimension mit Blick auf das persönliche Leben, sie ist eine Glaubenshaltung, ein Gottesverhältnis und nicht zuletzt die Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten. Sie hat eine theologische Dimension, weil sie die Welt im Licht des Ostergeschehens sieht. Christliche Hoffnung ist eine Hoffnung gegen den Trend, weil sie das Scheitern, das Sterben am Kreuz nicht als Gegenbeweis sieht, sondern als Teil der Existenz, der Hoffnung eben gerade nicht zunichte macht. Und sie hat eine politische Dimension, weil die Hoffnung auf Gottes Zukunft, auf das neue Jerusalem Menschen immer wieder inspiriert hat, die Welt zu verändern.  Um diese Dimension soll es in diesem dritten Hauptvortrag gehen.

Gehen wir fast ein halbes Jahrhundert zurück, so stoßen wir auf eine ungeheuer interessante Debatte hierzu. Ernst Bloch hatte zwischen 1938 und 1947 im Exil das „Prinzip Hoffnung“ geschrieben. Eine konkrete Utopie hat er skizziert von kleinen Tagträumen über Wunschbilder bis hin zu Grundrissen einer besseren Welt. Bloch analysiert die Utopien dieser Welt, die Befreiungsbewegungen wie Frauenbewegung oder auch den Zionismus. Vor allem die Sozialutopien sieht er als Grundrisse einer besseren Welt. Er schreibt: „Sozialutopien, selbst in ihren tastenden Anfängen, waren stets imstande, zum Niederträchtigen nein zu sagen, auch wenn es das Mächtige, selbst wenn es das Gewohnte war. … Sozialutopie arbeitete als ein Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, daß nur seine Veränderung einzuleuchten vermag.“

Bloch ist überzeugt, dass der Mensch fähig ist zu solcher Veränderung. Er beschreibt die Wunschbilder, die Menschen im Denken wie im Tanz, im Träumen wie in Tönen antreiben zur Veränderung oder von der Sehnsucht nach Veränderung erzählen. Und ganz am Ende steht jener berühmte Satz von der Sehnsucht nach Heimat: „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (S. 1628) Bloch bewegt sich in der Skizze dieser Utopien oder Wunschbilder allerdings in einer Welt ohne Gott. Sein Prinzip Hoffnung kommt ohne den Gottesgedanken aus.

Dem hat Jürgen Moltmann in seiner „Theologie der Hoffnung“  den „Gott der Hoffnung“ entgegen gestellt. Jürgen Moltmann hat den „Hohlraum“, von dem Bloch spricht, mit der christlichen Gottesvorstellung gefüllt. Bloch sah diesen Hohlraum als Konsequenz der „Erledigung der Gott-Hypostase“. Moltmann schreibt dazu: „Es ist der ‚Gott der Hoffnung’ (Röm. 15,6), nicht aber der ‚Gott Hoffnung’, ‚Deus spes’, wie Bloch sagt. Dieser Gott der Hoffnung, auf dessen Verheißung und Treue die Hoffnung setzt, der aber nicht die Hoffnung selbst ist, ist dem hoffenden, zukunftswilligen Menschen um eine Ewigkeit voraus; nämlich um genau die Ewigkeit seines eigenen Todes und des Gerichtes, in dem nichts bleiben kann wie es ist.“

Diese Diskussion kann hier nur angedeutet werden. Sehr deutlich aber wird bei Moltmann dargelegt, dass die christliche Hoffnung auf die zukünftige Welt Gottes eben keine schlichte Vertröstung auf ein vermeintlich besseres Jenseits darstellt, sondern in unserer Welt, mitten in der Geschichte der Menschheit für alle Armen, Verfolgten, Geängstigten und Unterdrückten eine Hoffnung auf Zukunft ganz real, mitten im Leben verheißt. Diese präsentische Eschatologie, also die Hereinnahme der christlichen Hoffnung auf das Reich Gottes in unsere Zeit und Welt, ist und bleibt faszinierend. Sie hat damals der so genannten „politischen Theologie“ den Weg geebnet. Und sie hat - auf dem zweiten Ökumenischen Kirchentag hier in München sei es eigens hervorgehoben - eine doppelte ökumenische Dimension entwickelt. Zum einen hat sie konfessionsübergreifende Kraft entwickelt, etwa bei Johann Baptist Metz. (Übrigens auch in der kritischen Ablehnung, in der Karl Barth, Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar sich einig waren, die jeweils die Jenseitshoffnung stärker betont sehen wollten.) Zum anderen aber auch mit Blick auf die oikumene, die weltweite Christenheit. Bei meinen Besuchen in Kirchen in Afrika, Asien, Lateinamerika habe ich Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung in nahezu jeder Bibliothek und in vielen Sprachen vorgefunden.

Der gekreuzigte Christus als Hoffnung für die Leidenden dieser Welt, Gottes Reich, in dem, wie Maria bei Lukas singt, die Gewaltigen vom Thron gestoßen, die Niedrigen erhoben und die Hungrigen mit Gütern gefüllt werden (2,52f.) – diese biblischen Anstöße entfalten geradezu revolutionäre Kraft. Das war für viele im letzten Jahrhundert eine theologische Ausgangsposition mit Blick auf die Rolle ihrer Kirche in ihrer Zeit und Gesellschaft: für die Befreiungstheologie in Südamerika beispielsweise, aber durchaus auch für die politische Theologie bei uns. Christliche Hoffnung, die sich gespeist sieht aus der Lebenszusage Gottes, wurde zur Antriebskraft für politisches Handeln mitten in der Welt.

Sicher das war von Anfang an Gegenstand einer heftigen Debatte. Und es ist eine Debatte bis heute: Darf die Kirche politisch sein? Dürfen sich kirchliche Repräsentanten äußern zu weltlichen Fragen von der Atomkraft bis zum Waffenexport, von der Asylgesetzgebung bis zur Finanzkrise? Diese Frage tönt immer wieder durch die Kirche wie die Gesellschaft.

3. Kirche als Zeichen – Ekklesiologie und Ethik

Das Thema „Kirche als Zeichen“ hat eine gute ökumenische Tradition. Es war ebenso Gegenstand der Diskussionen beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) als auch bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala 1968. In jenen Jahren wurde heftig diskutiert, was Kirche sei. Sind Wort und Sakrament bestimmend, wie es lutherische Theologie definiert (Confessio Augustana VII)? Sind die notae ecclesiae, die Kennzeichen der Kirche hinreichend, also Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität, wie es die katholische Theologie definiert? Muss in bestimmten ethischen Fragen ein „status confessionis“ ausgerufen werden, können sie also das Bekenntnis tangieren – eine Debatte im Lutherischen wie dem Reformierten Weltbund. Wie verhalten sich Ekklesiologie, also die Lehre von der Kirche, und Ethik zueinander? Welche Bedeutung hat die Einheit der Kirche für die Einheit der Menschheit? All das sind Stichworte einer tiefgründigen theologischen Debatte.

In dieser Diskussion wurde Jürgen Moltmanns Ansatz auf vielfältige Weise weitergeführt. So schreibt H. J. Pottmeyer: Die Reich Gottes-Botschaft „meint deshalb nicht nur eine Umkehr der Herzen, sondern zielt auch auf eine Veränderung der Gesellschaft, die zeichenhaft zuerst im Volk Gottes beginnt und durch ihre innere Plausibilität die übrigen Menschen gewinnt. … In ihrem Handeln wird die Kirche als Zeichen des Reiches Gottes dadurch sichtbar,

- daß sie eine neue Familie von Schwestern und Brüdern bildet;

- daß in ihr die nationalen und sozialen Schranken… aufgehoben sind;

- daß ihre Glieder unter Verzicht auf Herrschaft einander dienen und zu einer Gemeinschaft der Gläubigen … werden… .“

Ja, das ist eine Kirchenutopie! So könnte die Kirche Zeichen für die Welt werden. So wünschen wir uns das: eine Kirche ohne Hierarchie, in der der oder die Größte ist, wer aller Diener bzw. Dienerin ist. In der die Armen im Zentrum stehen, Kinder ernst genommen werden, alles geteilt wird, wie einst in den ersten Zeiten, von denen Lukas in der Apostelgeschichte erzählt.

Aber diese Vision birgt eine Gefahr: Sie rechnet nicht mit der Menschlichkeit derer, die Kirche gestalten. Und deshalb kann sie zu Enttäuschungen führen. Von ihren Anfängen an ist die Kirche auf fehlbare Menschen gegründet. Petrus verleugnet Jesus gleich nach der Verhaftung. Maria Magdalena hatte einen zweifelhaften Ruf. Saulus musste erst zum Paulus werden. Es gehört zur Selbsterkenntnis und zur eigenen Demut, Kirche als Zeichen auch da zu sein, wo die Brüche sichtbar werden. Schon in der Apostelgeschichte (Kapitel 4 und 5) ja funktioniert die Utopie nicht in der Realität. Sie wollten zusammenleben in Gütergemeinschaft, alles miteinander teilen. Aber Hananias und Saphira sind bekanntlich die ersten Beispiele, dass der Mensch eben doch oft zuerst an das Eigene denkt.

Weil wir die Gebrochenheit des Menschen, die Verführbarkeit, das Scheitern auch in unserer Vorstellung von Kirche mitdenken müssen, erscheint mir weniger eine Definition über Kennzeichen wie Apostolizität und Katholizität weiterführend, als vielmehr das Abendmahl bzw. die Eucharistie ein wegweisender Ansatz zu sein, Kirchenverständnis und Hoffnung für die Welt zu verbinden. Hier liegt das zentrale theologische Thema, an dem wir darüber nachdenken müssen, wie Ekklesiologie und Ethik zusammenhängen, wie unsere Kirchen Zeichen werden können für die Welt bzw. für die Hoffnung in der Welt. Ich sage bewusst Kirchen im Plural. Weil wir nun einmal getrennte Kirchen sind. Die eine geglaubte Kirche, die wir im Apostolikum bekennen, sie verbirgt sich unter der Vielfalt der Kirchen.

In meiner Doktorarbeit habe ich den Begriff der „eucharistischen Vision“ aufgenommen. Bis heute bin ich überzeugt, eine Vision von Kirche, die hier ansetzt, kann uns helfen, glaubwürdige Leitbilder im Kirchenverständnis zu entwickeln. Denn: „Wer gemeinsam Eucharistie feiert, ist Kirche – eine Herausforderung jedweden Hierarchiedenkens. Wer gemeinsam Eucharistie feiert ist ‚Gemeine‘ – eine Herausforderung jeglicher Spaltung nach Rassen, Klassen, Geschlechtern oder Besitz. Wer gemeinsam Eucharistie feiert am Ort, ist Gemeinde in Solidarität mit den Brüdern und Schwestern in aller Welt – eine Herausforderung jedes partikularen, interessengebundenen Denkens. Die Feier der Eucharistie stabilisiert so ein Christentum, eine existierende Einheit, die den Konfessionsgrenzen widerspricht. Und sie etabliert eine Einheit, die den ökonomischen und politischen Spaltungen der Welt widerspricht.“

Ja, mir ist klar, dass viele das illusorisch finden werden, auch mehr als zwanzig Jahre später. Weil wir hier am Herzstück unserer theologischen Differenzen angekommen sind….

Wie wunderbar hat sich die Ökumene entwickelt! Vor 100 Jahren hat diese Bewegung bei der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 ihren Anfang genommen und wir dürfen bei diesem Kirchentag dankbar feiern, was sich entwickelt hat. Aber jetzt sind wir an den Punkten angelangt, die nicht so einfach anzugleichen sind, bei den Unterschieden im Kirchenverständnis, im Abendmahlsverständnis und im Amtsverständnis. Ja, ich kenne die ökumenische Ungeduld vor allem in vielen Gemeinden vor Ort nach dem Motto: „hier bei uns läuft doch alles prima, die da oben können sich nicht einigen.“ Und in der Tat gibt es viel längst gelebte Ökumene. Aber auch Christinnen und Christen in den Gemeinden vor Ort, die sich mit dem eigenen Verständnis von Kirche, Amt und Abendmahl auseinandersetzen, werden die Unterschiede sehen. Und diese Unterschiede sollten wir auch gar nicht einebnen wollen. Eine Ökumene, die schlicht alles vereinheitlicht, wäre geradezu langweilig. Vielfalt ist ja Bereicherung. Ich bin aber überzeugt, wenn wir nicht Wege finden, in dieser Differenz das Gemeinsame zu feiern, am Tisch der Einheit auch in der Gebrochenheit und Verschiedenheit zusammenzukommen, werden wir eben nicht Hoffnungszeichen für die Welt sein können.

Philipp Melanchthon, der Reformator dessen 450. Todestages wir in diesem Jahr gedenken, hatte mit der 1530 vorgelegten Confessio Augustana versucht, einen solchen Weg zu finden: Gemeinsamkeit in der Differenz. Im berühmten Artikel 7 heißt es: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden, wie Paulus sagt: „Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ (Eph 4,4.5)

Sicher, das ist ein lutherisches bzw. reformatorisches Konzept von Einheit. Es geht um Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Ich denke aber, wir können diesen Ansatz von Melanchton heute frohgemut noch einmal aufgreifen und mancher römisch-katholische Theologe kann da zustimmen. 2007 haben wir die gegenseitige Anerkennung der Taufe gefeiert – ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. Aus dieser Taufe heraus, sind wir berufen zu einer Hoffnung. Eine Hoffnung, die für die Welt sichtbar werden kann, wo wir die Verschiedenheit der Zeremonien bestehen lassen, aber doch an einen Tisch kommen. So wie wir dafür eintreten, dass Palästinenser und Israelis, Menschen im Norden und im Süden Sudans, Gläubige unterschiedlicher Religionen, Männer und Frauen, Schwarze und Weiße an einen Tisch der Versöhnung kommen in der Welt.

Auch hier mag es wieder heißen, es sei theologisch naiv, zu meinen, wir könnten in absehbarer Zeit in der Abendmahlsfrage zu einem Durchbruch kommen. Die Bezeichnung nehme ich auf mich. Denn wenn wir diese Hoffnung aufgeben, wie wollen wir dann in der Welt Hoffnung auf Versöhnung machen?

Für mich als lutherische Theologin ist dabei die Kreuzestheologie von entscheidender Bedeutung. Christliche Existenz und damit auch kirchliche Existenz weiß um die Zerbrechlichkeit, um Scheitern und Fehlbarkeit. Wir werden keinen Karikaturenstreit führen, weil die furchtbarste Karikatur Gottes bereits stattgefunden hat und weltweit bekannt ist: Gott stirbt einen elenden Tod am Kreuz unter einem Schild, das spottet „Jesus von Nazareth, König der Juden“. Erbärmlicher kann es nicht sein.

Deshalb wird ein Christ, eine Christin und muss eine Kirche Demut kennen. Eine Demut, die eben nicht den Erfolg, nicht die Kennzahlen des Wachstums aufs Schild hebt, sondern um die Zerbrechlichkeit und Gebrochenheit menschlicher Existenz weiß. Die Glaube, Liebe, Hoffnung im Zentrum ihrer Verkündigung sieht. Die Grenzen überwindet, auch wenn es als Schwäche gedeutet wird. Unsere Kirchen können gerade da Zeichen für die Hoffnung in der Welt sein, wo sie das Leben feiern mitten in der Zerstörung. Wo sie Liebe üben mitten in der Abgrenzung. Wo sie das Schwache aufrichten, das geknickte Rohr. Wo sie Wunden heilen und darum wissen, dass Narben Teil des Lebens sind - selbst der auferstandene Christus nimmt Narben mit in sein neues Leben. Wo sie Bilder von Zukunft entwerfen, wo keine Zukunft erkennbar ist. Wo sie sich radikal abkehren von finanziellem Gewinn, dem Monster des „immer mehr, immer weiter, immer schneller, immer schöner, immer größer“.

Wir können als Kirchen Bilder der Hoffnung malen. Wir sehen eine Zukunft, in der Gerechtigkeit und Friede sich küssen (Psalm 89,11). Weil in Gottes Zukunft alle Tränen abgewischt sein werden, wischen wir hier und jetzt Tränen ab. Und selbst wenn theologisch noch so viele Hürden vor uns liegen, hoffen wir darauf, dass wir sie überwinden können und an dem Tisch zusammenkommen, an den schon Jesus selbst den Verräter Judas eingeladen hat. Ein Tisch der Einheit in all der Zerbrochenheit. Ein Zeichen des Teilens in aller Verschiedenheit. Diese Vision aufrecht zu erhalten, das macht Hoffnung. Für uns als Christinnen und Christen. Für unsere Kirchen. Und für die Welt.

4. Kontrastgesellschaft - Zwei Beispiele

Niemand von uns wird in diesen Tagen unbefangen oder gar vollmundig von der Kirche als Zeichen der Hoffnung in der Welt sprechen können, denke ich.  Für manche etwa, die meinten, ich sei als Bischöfin ein auf irgendeine Weise „besserer“ Mensch, war es eine harte Erkenntnis, mich bei einer Verfehlung ertappt und  öffentlich zur Schau gestellt zu sehen. Und in der römisch-katholischen Kirche wurde deutlich, dass eine Lehre von der Kirche, die den Schutz der Institution über den Schutz der Opfer stellt, gerade kein Hoffnungszeichen für die Welt ist. Eine bittere Erfahrung für viele…

Wir können das aber auch als Lernprozess ansehen. Kirche ist, so sagen wir im Apostolischen Glaubensbekenntnis, die Gemeinschaft der Heiligen. Da fangen ja der Spott und die Häme der öffentlichen Meinungsmacher an: Seht, so heilig sind die alle nicht! Das ist aber ein sehr profanes Missverständnis von Heiligkeit. „Schein-heilig“ ist es, wenn Menschen meinen, fehlerfrei, absolut untadelig, bar jeden Makels zu sein. So ist kein Mensch und das widerspricht auch dem biblischen Menschenbild. Es ist Teil der Menschlichkeit, zu scheitern, Fehler zu begehen. Die Heiligen sind nach biblischem Verständnis diejenigen, die ihr Leben ganz und gar Gott anvertrauen. Die eben gerade wissen, dass sie nicht unfehlbar sind. Sie leben in einer Gemeinschaft, der Kirche. Und diese Gemeinschaft ist deshalb auch fehlbar, voller Mängel. Wenn wir im apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen, wir glauben die heilige Kirche, dann wissen wir, dass die konkrete, erfahrbare Kirche eine Kirche ist, in der es fehlbare Menschen gibt oder wie Melanchthon es 1530 im achten Kapitel des Augsburger Bekenntnisses formuliert: „In diesem Leben gibt es unter den Frommen viele falsche Christen, Heuchler und auch offenkundige Sünder.“ Es gehört zur evangelischen Freiheit, das offen einzugestehen.

Aber wir dürfen trotz alledem oder gerade aufgrund unserer theologischen Grundüberzeugungen Hoffnungszeichen sein. Weil wir von der Existenz Gottes sprechen in einer Welt, die gottvergessen ist und den Menschen vergöttert. Weil Jesus Christus der Eckstein dieser Kirche ist, der um Versagen und Scheitern ebenso weiß wie um Liebe und Versöhnung. Wir sind Gemeinschaft der Heiligen, weil heilig ist, was zu Gott gehört. Deshalb vertraue ich darauf, dass unter all diesen Verfehlungen, allen Irrungen und Irrtümern, auch unter den Schrecklichen Irrwegen von Kolonialismus, Hexenverfolgung, Judenhass doch immer wieder etwas sichtbar wird von der unsichtbaren Kirche, die wir glauben, die in alledem existiert, wann immer echte Nachfolge gelebt wird, gegen den Trend die Hand über den Graben gereicht wird, der glimmende Docht nicht ausgelöscht wird, die Armen der Welt eine Stimme finden.

Die Kirche ist eben keine Gegenwelt, sie existiert nicht außerhalb der Welt. Sie ist mitten in der Welt und daher auch Teil all dessen, was menschlich ist. Gerade deshalb kann sie Hoffnung entfalten. Erst wenn versucht wird, aus der Kirche eine Art übermenschliches Reich des absolut Guten und Unfehlbaren zu machen, kommt es zu Verstecken, Vertuschen, Heuchelei. Eine Lehre von der Kirche, die davon ausgeht, dass „die Kirche“ besser ist als „die Welt“, unterliegt einem fundamentalen Irrtum. Es geht darum, wie mit menschlichen Verfehlungen und mit Schuld umgegangen wird. Und da, so bin ich zutiefst überzeugt, kann die Kirche in der Tat zum Zeichen der Hoffnung für die Welt werden. Weil sie etwas weiß von Vergebung, Versöhnung, Lebenszusagen, Neuanfang. In unseren Kirchen muss sich niemand das Leben nehmen, weil er versagt hat. Denn Gott entzieht den sündigenden Menschen die Lebenszusage nicht. Wie sollte es da die Kirche tun?

Zudem geht es darum, ob die Kirche, ob unsere Kirchen den Mut haben, die Stimme auch da zu erheben in der Welt, wo es unbequem ist, nonkonformistisch, anstößig. Wann immer die Kirche sich allzu leicht arrangiert hat mit dem Vorfindlichen, mit der Macht, mit Gewalt ist sie abgerückt von ihrer Berufung, eine Kontrastgesellschaft zu zeichnen. Dazu aus vielen Möglichen zwei Beispiele:

4.1. Heimkinder

„Breit aus die Flügel beide, o Jesu meine Freude, und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, so laß die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein.“ Diesen Vers aus dem Paul Gerhardt Lied „Nun ruhen alle Wälder“ habe ich immer besonders gern gesungen, als meine vier Kinder klein waren und ich sie zu Bett brachte. Für mich haben die Worte etwas ausgedrückt davon, dass ich nicht allen Schutz geben kann, aber ich die Kinder Gott anvertraue, der für sie sorgen wird und will. Und auch meine Kinder liebten dieses Lied, weil es ihnen Schutz versprach.

In Liebe und Geborgenheit soll ein Kind aufwachsen. Es soll Vertrauen haben dürfen zu den Menschen, die es auf dem Weg ins Leben begleiten. Gerade deshalb hat mich die Lektüre des Buches „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski 2007 so erschüttert. Wie kann es sein, dass in kirchlichen Einrichtungen Kinder gedemütigt und geschlagen wurden?

Wir werden uns fragen müssen, wie es dazu kommen konnte. Für mich bleibt unfassbar, was vielen Kindern in den Erziehungsheimen der 50er und 60er Jahre, aber offenbar auch später in kirchlichen Einrichtungen angetan wurde. Drei Viertel dieser Heime wurden von Ordensgemeinschaften, der Diakonie oder der Caritas geführt. Dabei ist mir bewusst: die pädagogischen Überzeugungen in den 50er und 60er Jahren waren andere als heute. Wie in der Gesellschaft insgesamt galt auch in der Kirche die Prügelstrafe als normal, institutionelle Gewalt wurde als Teil des Erziehungssystems gesehen. Zudem gab es, das zeigen die Untersuchungen, auch Menschenrechtsverletzungen, sexuelle Übergriffe durch Einzelne, sexuellen Missbrauch in unseren Institutionen. Das muss aufgedeckt werden, die Opfer müssen gehört und die Täter ermittelt werden. Ich schäme mich dafür, dass so etwas in unseren Kirchen geschehen ist. Die Verletzung der Verletzbarsten war an der Tagesordnung, da haben wir auch als Institution Schuld auf uns geladen, es führt kein Weg daran vorbei, das auszusprechen und anzuerkennen. Die Aufsichtsbehörden und Jugendämter jener Zeit haben nach ganz anderen Maßstäben und Methoden entschieden als heute. Es gab außerdem viel zu wenige und meist nicht oder schlecht ausgebildete Betreuungspersonen, die räumlichen Verhältnisse und die finanzielle Ausstattung der Heime waren sehr schlecht. Und es gab auch gute Heimerfahrungen, engagierte Erzieherinnen und Erzieher. Dies kann aber die teilweise katastrophalen Zustände, die Gewalt und die Übergriffe nicht entschuldigen. Wir müssen der Tatsache ins Auges sehen: Ja, in kirchlichen Kinderheimen wurden in den 50 bis 70er Jahren Kinder auf heute unfassbare Weise erniedrigt, geschlagen, degradiert und sogar sexuell missbraucht. Das war auch in anderen Heimen so, ja. Das war Teil der Kultur jener Zeit, die noch nichts wusste von dem „Recht auf gewaltfreie Erziehung“, das wir heute - Gott sei Dank - anerkennen. Körperliche Bestrafung und seelische Demütigung sind in der Erziehung absolut inakzeptabel, diese Auffassung teilen wir heute (hoffentlich alle!). Aber meine Frage ist: hätte es in kirchlichen Heimen nicht wenigstens „besser“ sein müssen?

Ich bin dankbar, dass inzwischen viele in unseren Kirchen, in Diakonie und Caritas bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Wir wissen aus anderen Erfahrungen: Wenn Versöhnung mit der Vergangenheit möglich sein soll, müssen die Opfer gehört werden und die Täter Schuld bekennen. Und mir liegt daran, dass Kinder in unseren Einrichtungen heute Vertrauen haben dürfen, dass sie mit ihren Gaben gefördert und gewaltfrei erzogen werden. Kinder in unseren Einrichtungen, das zeigt die Erfahrung, brauchen dringend Instanzen, an die sie sich wenden können, wenn es Missstände gibt. Sie müssen ihre Rechte einklagen können, deshalb halte ich die Einrichtung von Ombudsstellen für so wichtig.

Im so genannten „Kinderevangelium“ werden Kinder zu Jesus gebracht. Vor den Augen derer, die um den höchsten Rang streiten, umarmt er sie. Jesus als Erwachsener musste in die Knie gehen, um diese Umarmung möglich zu machen. Die Kindersegnung ist damit eine Provokation für ein status-orientiertes Denken. Die Szene zeigt auch, dass die Jünger mit dieser Vorgabe Jesu hadern. Ihnen wird ein Kind als Vorbild vor Augen gestellt, ein deklassiertes und schwaches Glied der Gesellschaft.

Interessant an der genannten Perikope ist, dass Kinder als Subjekte von Theologie vorgestellt werden. In unseren theologischen Überlegungen sind Kinder meist diejenigen, die noch werden müssen, die erzogen werden, die gebildet werden, die Objekt unseres Handelns und Denkens sind. Mit dem bei Markus wie Lukas überlieferten Satz, „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“, werden Kinder zu Vorbildern für Erwachsene. Der kindliche Zugang zum Reich Gottes, zum Glauben wird nicht als defizitär dargestellt, sondern als geradezu vorbildlich. In der Art und Weise, wie Kinder sich bedingungslos anvertrauen, wie sie mit allergrößter Offenheit ohne jeden Hintergedanken ein Geschenk annehmen können, gilt es, den Glauben anzunehmen.

Deshalb ist kirchliches Engagement für Kinder bewusst Teil des Handelns aus unserem Glauben heraus. Das muss in der Konsequenz dazu führen, die Würde des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen, Fehlverhalten und jede Form von Gewalt gegen Kinder klar und offen anzuprangern und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Christinnen und Christen haben wie gesagt ein sehr realistisches Menschenbild. Menschen sind verführbar, das wissen wir seit Adam und Eva, Menschen neigen zur Gewalt, das wissen wir seit Kain und Abel, und Menschen sind größenwahnsinnig, das wissen wir seit dem Turmbau zu Babel. Schuld und Verfehlungen aber müssen offen eingestanden werden. Auch wenn es Schuld der Kirche ist. Gerade dann. Sonst kann sie niemals Hoffnungszeichen in der Welt sein.

Diese Vorgänge, denen wir uns allzu spät stellen, sind eine Mahnung für uns, auch heute genau hinzuschauen. Die Qualitätskontrollen unserer Einrichtungen, die regelmäßigen Mitarbeitergespräche, die erhöhte Aufmerksamkeit schützen Kinder seit Jahren auf die bestmögliche Weise. Wir dürfen nicht zulassen, dass die hervorragende, das Kind stützende und fördernde Arbeit unser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen heute durch die Verfehlungen der Vergangenheit in Frage gestellt wird. Gerade weil wir aus heutiger Sicht sehen, was diese Heime und „Erziehungsmethoden“ angerichtet haben, müssen wir alles aufdecken, offen über die Schuld reden, die Verfolgung von Straftaten durch Behörden unterstützen und den traumatisierten Opfern so weit wie möglich helfen. Gleichzeitig gilt es, diejenigen, die heute in Heimen tätig sind und sich mit Respekt vor jeder Person der Jugendlichen annehmen, in ihrer Aufgabe zu unterstützen. Es hat sich etwas geändert - Gott sei Dank!

Bei einem Besuch in Ostfriesland wartete vor einigen Monaten ein alter Mann auf mich. Er wolle mir die Hand schütteln, weil nun endlich gesagt würde, was ihnen angetan wurde und der alte Mann weinte dabei…. Wie lange haben viele aus Scham und Angst geschwiegen! Es ist höchste Zeit, zu hören, auszusprechen, aufzuarbeiten. Und es ist auch wichtig, den Tätern eine Möglichkeit zu geben, Schuld zu bekennen. Ja, das sind schreckliche Taten. Aber wenn ein Bekennen nicht möglich ist, folgt ein Verdrängen. Und gerade das, so wissen wir nur allzu gut aus der deutschen Geschichte, lähmt jeden Neuanfang.

Als Kirchen können wir Zeichen der Hoffnung sein, wenn wir uns der Schuld stellen, die Verantwortliche seinerzeit auf sich geladen haben. Wieder gutmachen können wir solche Schuld nicht. Aber wir können die Opfer hören, ihren Geschichten Raum geben. Und wir können immer wieder deutlich sagen: Kinder sind nicht Objekte unseres Tuns, sondern Subjekte mit eigenen Rechten. Es gilt, sie in die Mitte zu stellen, wie Jesus es getan hat. „Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich.“(Mt. 19,14). Und wir können den Tätern einen Freiraum geben, Schuld zu bekennen. Das will ich klar sagen: Wo solches Bekenntnis nicht möglich ist, weil Schuld unverzeihlich erscheint, ist christliches Zeugnis auch in Frage gestellt. Auch solche Tabuisierung von Schuld kann zu Tabuisierung von Tat führen. Da gibt es noch viel zu bedenken…

4.2. Krieg und Frieden

Trotz all ihrer Mängel und all ihrer Menschlichkeit kann die Kirche, konfessionsübergreifend gedacht, Hoffnungszeichen sein, wenn sie andere Maßstäbe setzt. Wenn sie den Mut hat, das zu zeichnen, was der katholische Theologe Lohfink eine „Kontrastgesellschaft“ nennt. Das ist doch das Bewegende: Weil wir daran glauben, dass einst in Gottes Zukunft alle Tränen abgewischt sein werden, darum haben wir den Mut, auch nonkonformistisch zu leben und zu handeln.

Ich will heute zwei Menschen nennen, die mir dabei Vorbild sind. Das eine ist Helmut James Graf von Moltke. Anders als andere am Widerstand Beteiligte hatte der Initiator des Kreisauer Kreises das Attentat gegen Hitler abgelehnt. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ war ihm wichtiger als die mögliche Rechtfertigung eines Tyrannenmordes. Am 10.01.1945 schreibt er einen Brief an seine Frau Freya von Moltke. Von einer tiefen Gotteserfahrung geprägt, reflektiert Moltke seinen bevorstehenden Tod. Er weiß, er wird am nächsten Tag zum Tode verurteilt werden. Das Sterben ist nahe. In dieser Situation spricht er mit einer bewegenden Zuversicht davon, wie er sich gehalten weiß von Gott, dem er sich anvertraut hat. Wie demütigend die Auseinandersetzungen vor dem Volksgerichtshof waren, kann nachempfinden, wer einmal die Filme gesehen hat, wie sie dort stehen, die Angeklagten. Die Gürtel wurden ihnen genommen, damit die Hosen rutschen und sie ein möglichst schäbiger Anblick sind. Und Roland Freisler brüllte geifernd auf sie ein. Aber Helmuth James von Moltke blickt auf diese Tage zurück und schreibt: „Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, daß das hysterisch klingt: ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die 2 Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht....“

Können wir das nachvollziehen? Eine solche Glaubenskraft gegen all das, was scheinbar richtig war! Ein solcher Widerstandsgeist gegen den Zeitgeist. Das ist wahrhaftig Hoffnung für die Welt!

Oder nehmen wir den anglikanischen Bischof George Bell als Beispiel. Im House of Lords in London wandte er sich ab Februar 1943 vehement und immer wieder gegen die britischen Bombardierungen deutscher Städte. Er sah die ethischen Grundlagen der westlichen Zivilisation und auch eine zukünftige Versöhnung mit Deutschland gefährdet. George Bell war geprägt durch die ökumenische Bewegung. Er hat sich erheblichen Anfeindungen ausgesetzt, als „Vaterlandsverräter“ wurde er beschimpft. Für mich ist er ein Vorbild von Feindesliebe mitten im Krieg, er hatte das, was ich Fantasie für den Frieden nenne, weil er die Menschen gesehen hat und nicht nur „den Gegner“. Schon in seiner ersten Rede als Mitglied des Oberhauses in London am 27. Juli 1938 forderte er übrigens die britische Regierung zu verstärkter Hilfe für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland auf. Er nutzte seinen Einfluss auch, um gezielt Verfolgte des NS-Regimes zu schützen, etwa als er die Inhaftierung Martin Niemöllers in England publik machte und ihm so wahrscheinlich das Leben rettete. Da macht die Ökumene der Kirchen, die Grenzen überwinden kann, der Welt Hoffnung.

Solche Hoffnungszeichen brauchen wir auch heute. Auch in einer Zeit, die sich offenbar wieder neu an den Krieg gewöhnt. Mir ist vom Beauftragten der Bundesregierung für die Bundeswehr Robbe ja süffisant in einer Zeitung gesagt worden, ich solle mich doch mit den Taliban in ein Zelt setzen und bei Kerzenlicht beten. Viele haben das als Beschimpfung wahrgenommen. Manche in der Kirche meinten, das müsse „zurecht gerückt“ werden, um zu zeigen, dass die Kirche weiß um den Pragmatismus dieser Welt. Ich sage aber noch einmal und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte wohlgemerkt: Vielleicht würden die Kirchen gerade so zu Zeichen der Hoffnung der Welt. Weil sie Geist und Logik und Praxis des Militärischen durchbrechen! Und vielleicht wäre gerade das eine Form, die auch der Kultur Afghanistans entspricht: sich zusammensetzen und reden. Viele werde mich wieder belächeln. Das nehme ich in Kauf…

Markus Weingardt hat in seiner Arbeit im Rahmen von Hans Küngs Stiftung Weltethos zum Thema „Das Friedenspotential von Religionen“  in mehreren Fallstudien gezeigt, dass religiös motivierte Akteure zur Verminderung von Gewalt in politischen Konflikten beitragen. Am Beispiel des Konfliktes zwischen Argentinien und Chile etwa, wird erkennbar, wie katholische Christen vermittelnd wirken konnten. In Kambodscha waren es buddhistische Mönche, die bei den Friedensverhandlungen eine zentrale Rolle spielten. Im Ost-Timor Konflikt war es Friedensnobelpreisträger Bischof Belo, der maßgeblichen Anteil daran hatte, dass die grausamen Verfolgungen der Weltöffentlichkeit überhaupt bekannt wurden.

Wer die vierzig (!) Beispiele aus aller Welt in Weingardts Studie liest, kann nur staunen über so viel real existierende Fantasie für den Frieden! Vieles davon wird öffentlich kaum wahrgenommen. Was wissen wir eigentlich über die Vermittlungsbemühungen in Sambia oder Nicaragua, auf Sri Lanka oder im Kongo? Nehmen wir überhaupt wahr, was religiös motivierte Vermittler dort leisten? Nach der Lektüre der Studie bin ich überzeugt, dass wir viel zu sehr fixiert sind auf Selbstmordattentäter, die ihr grauenvolles Tun religiös begründen, auf Fundamentalisten, die meinen, im Namen Gottes sei Gewalt zu rechtfertigen und auf Kriegstreiber mit Kreuzzugsmentalität. Die Öffentlichkeit muss endlich auch sehen, was an mühseliger Friedensarbeit geleistet wird, oft ohne finanzielle Mittel allein mit der Kraft der Überzeugung und dem langen Atem, den Religion schenken kann.

Weingardt kommt in seinen Untersuchungen zu dem Schluss, dass Glaubwürdigkeit, Verbundenheit mit der Bevölkerung und ein Vertrauensbonus entscheidend dafür sind, dass religiös motivierte Akteure erfolgreich in gewaltsamen Konflikten vermitteln. Ihr Eintreten für den Frieden begründen sie explizit „mit ihrem Glauben bzw. aus den Überlieferungen und heiligen Schriften ihrer Religion.“  Die Studie zeigt auf, dass der Erfolg der Konfliktvermittlung von religiös motivierten Akteuren „voll und ganz auf ihrer Überzeugungskraft- und Fähigkeit“  beruht. Glaubhaft aber seien die Vermittelnden nur, wenn sie neben dem Vertrauen der Konfliktparteien auch die notwendigen Kompetenzen hätten, den Konflikt aus eigenem Erleben kennen und über Kontakte verfügen.

Weingardt erkennt in den religiös motivierten Vermittlungsversuchen eine „emotionale Konfliktbearbeitungskompetenz“ . Das ist ein spannender Begriff, denke ich. Es sind offenbar gerade die kleinen Gesten, wie der Besuch eines Flüchtlingslagers, die Teilnahme an einer Demonstration, die Kontaktaufnahme mit Rebellenführern, ein Gebet im Minengebiet, die Bereitschaft, für den eigenen Friedenswillen auch ins Gefängnis zu gehen oder gar große wie das eigene Leben zu riskieren, die Vertrauen schaffen. Es geht ja oft nicht nur um die harten Fakten, sondern um tiefer liegende Konfliktdimensionen.

Nachdem ich diese Studie wahrgenommen habe, bin ich überzeugt, wir sollten uns als Christinnen und Christen noch stärker ausbilden lassen in gewaltfreien Formen der Konfliktbewältigung. Und das gilt für alle anderen religiös motivierten Menschen ebenso. Der vorhandene Vertrauensbonus, die Verankerung vor Ort, das Verbleiben auch nach dem Konflikt, sie sind eine großartige Chance. Hier liegt ein enormes Potential der Religionen, das viel bewusster ausgeschöpft werden sollte. So kann Kontrastgesellschaft entstehen mit allem Wissen um die eigenen Grenzen. So kann eine Tischgemeinschaft werden, die Grenzen überschreitet und gerade darin Zeichen der Hoffnung für die Welt wird.

5. Zum Schluss

O doch, dass könnte die Kirche sein, ein Ort der Hoffnung, eben weil sei den Mut hat, eine Kontrastgesellschaft zu leben! Ein Ort, an dem es keine Hierarchie gibt zwischen Männern und Frauen. Ein Ort, an dem Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben, angstfrei leben können. Ein Ort, an dem Kinder nicht Objekt von Erziehung oder gar Missbrauch sind, sondern Subjekte, die geachtet und ernst genommen werden. Ein Ort, an dem auch diejenigen, die nicht mithalten können, gleiche Würde und gleichen Rang haben wie die Erfolgreichen, diejenigen, die die Kraft haben, zu gestalten und Entscheidungsverantwortung zu übernehmen. Ja, wir können Hoffnung in der Welt sein, wenn wir Grenzen überwinden und uns den Gesetzen der Welt nicht einfach so beugen, auch nicht den Gesetzen der Medienwelt. Da lob ich mir die Freiheit eines Christenmenschen….

Ich bin überzeugt, dass von der Hoffnung besser gesungen und gedichtet als in Vorträgen geredet wird. Es sind Hoffnungslieder wie sie schon die Psalmen singen, die in uns summen, wenn wir hoffnungslos sind. Wie oft hat mich getröstet, wenn ich gesungen habe: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des der den Himmel lenkt. Der Wolken Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn. Der wird auch Wege finden, wo dein Fuß gehen kann.“ Wir hören die Melodie zu den Worten, sie gibt uns Hoffnung, sie summt in uns, sie lässt uns „hopen“ sozusagen.

Und das kann auch die Poesie. So möchte ich enden mit einem Hoffnungsgedicht von Dorothee Sölle, die Frömmigkeit und die politische Dimension der Hoffnung immer wieder auf wunderbare Weise verknüpft hat:

Dorothee Sölle: Zeitansage

Es kommt eine zeit
da wird man den sommer gottes kommen sehen
die Waffenhändler machen bankrott
die Autos füllen die schrotthalden
und wir pflanzen jede einen baum
Es kommt eine zeit
da haben alle genug zu tun
und bauen die gärten chemiefrei wieder auf
in den arbeitsämtern wirst du
ältere leute summen und pfeifen hören
Es kommt eine zeit
da werden wir viel zu lachen haben
und gott wenig zum weinen
die engel spielen klarinette
und die frösche quaken die halbe nacht
Und weil wir nicht wissen
wann sie beginnt
helfen wir jetzt schon
allen engeln und fröschen
beim lobe gottes

Da kann ich nur zustimmen: So sei es. So lasst uns hoffen. Und tatkräftig diese Hoffnungsbeziehung zu Gott umsetzen in unserem Leben, unserer Kirche, unserer Welt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.