10 Thesen, Leipziger Disputation

Margot Käßmann

  1. Das Zeitalter der Reformation kannte keine Toleranz im heutigen Sinne.
  2. Martin Luthers Überzeugung von der Freiheit des Einzelnen in Glaubens- und Gewis-sensfragen, legt dennoch eine Grundlage für die Entwicklung des Toleranzgedankens.
  3. Für die Kirchen der Reformation gibt es eine 500jährige Lerngeschichte der Toleranz. Sie betrifft andere Konfessionen ebenso wie Religionen und im Zeitalter der Säkularisierung auch Respekt vor Menschen ohne Religion.
  4. Religionen müssen Toleranz lernen, um endlich Konflikte zu entschärfen, statt immer wieder Öl in das Feuer ethnischer und politischer Konflikte zu gießen.
  5. Toleranz bedeutet nicht, meine eigenen Überzeugungen oder Vorstellungen zu leugnen.
  6. Toleranz bedeutet mehr als nur Duldung: aktives Interesse am anderen, am Gegenüber, an der anderen Religion oder am Nicht-Glauben, an der anderen politischen oder ethi-schen Option. Dazu braucht es Begegnung und Zeit für Gespräche sowie Bereitschaft zum Zuhören.
  7. Es geht darum, die Differenz auszuhalten um des friedlichen Zusammenlebens willen. Dazu ist Respekt notwendig für die andere Position, auch wenn es für mich manchmal schwer zu ertragen (lateinisch: tolerare) ist.
  8. Aber Toleranz heißt nicht Grenzenlosigkeit. Wahre Toleranz wird ihre Grenze an der In-toleranz finden und alles daran setzen, sie im Recht klar zu regeln.
  9. Zum Respekt gehört die Achtung vor der Integrität des anderen. Wo sie durch Rassis-mus, Sexismus, Erniedrigung, Gewalt oder Gewaltandrohung verletzt wird, ist die Grenze der Toleranz überschritten.
  10. Das Zusammenleben in einem demokratischen Staat braucht das stete aktive Ringen um Toleranz – in religiösen Fragen aber ebenso in ethischen und gesellschaftspolitischen.