Werden, wer ich bin. Bildung und christliches Menschenbild

Margot Käßmann

Erkennbar evangelisch – Perspektiven evangelischer Bildung
Symposium der Evangelischen Schulstiftung in der EKD und der Evangelischen Schulstiftung in der EKBO

1. Reformation und Kinder

Martin Luther hatte Kinder, sechs an der Zahl: Johannes, Elisabeth, die noch als Kleinkind verstarb, Magdalena, die als 13jährige verstarb, Martin, Paul und Margarethe. Zum einen setzte er wie andere Reformatoren vor und nach ihm durch seine Eheschließung als ehemaliger Mönch mit einer ehemaligen Nonne ein Zeichen. Zölibatäres Leben galt als vor Gott angesehener, der gerade Weg zum Himmel sozusagen. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Signal, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern und Mönchen und Nonnen war ein theologisches Signal. Es war eine Zeichenhandlung, die „etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens“1

2. Kinderarmut

Springen wir vom 16. Jahrhundert ins 21. und richten den Blick auf Kinder, so fällt als erstes auf: heute ist Deutschland arm an Kindern und viele Kinder sind arm, jedes sechste im Land, jedes dritte in Berlin! Eigentlich müsste das erste Problem das zweite lösen. Wenn ein Land eine niedrige Geburtenrate aufzuweisen hat, sollte es alles dafür tun, dass die wenigen Kinder, die geboren werden, individuell gefördert sind, ihre Begabungen entwickeln können – und ich bin überzeugt, jedes Kind hat eine Gabe! Stattdessen erklärt jedes dritte Kind in Deutschland, es werde in der Schule gemobbt, weil es nicht mithalten könne, nicht die richtigen Klamotten habe oder zu dick sei. Es gibt viel traurige Kindheit in Deutschland heute – und das ist ein Skandal!

Aber Kinderarmut ist nicht interessant, politisch hat sie kein Gewicht, ökonomisch scheint sie irrelevant. Kinderarmut versteckt sich oft ganz still im Hintergrund. Sie ist ökonomisch bedingt und zeigt sich vor allem durch Beteiligungsarmut. Und sie ist ganz dezidiert Bildungsarmut.

In einem Beitrag zur Bildungsdiskussion hat die Evangelische Kirche in Deutschland die Mehrdimensionalität von Bildung unterstrichen. Zur Grundbildung eines Menschen gehören demnach nicht nur die von der PISA Studie abgefragten sprachlich-literarischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen, sondern auch ethische, soziale und religiöse Bildung ebenso wie ästhetische, medienkritische, ökologische, geschichtliche, zukunftsfähige und lebensphasengerechte Bildung.2  Es geht um eine viel umfassendere Armut: an Bildung, Sprachkompetenz, aber auch an Tradition, Kultur, Ritualen und Religion.

Kinder aber werden weiterhin als „Gedöns“ gesehen, sie sind irgendwie zu versorgen, das kann doch jeder – nein eher: jede! Da waren die Reformatoren weiter. Luther konnte manchmal ungeheuer modern sein. Es geht darum, ob gestandene Mannsbilder sich lächerlich machen, wenn sie Windeln waschen. Hören wir also noch einmal Martin Luther:

„Wenn ein Mann herginge und wüsche die Windeln oder täte sonst an Kindern ein verachtet Werk, und jedermann spottete seiner und hielte ihn für einen Maulaffen und Frauenmann, obwohl ers doch in …. Christlichem(n) Glauben täte; Lieber, sage, wer spottet hier des anderen am feinsten? Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturen, nicht, weil er die Windeln wäscht, sondern weil ers im Glauben tut. Jener Spötter aber, die nur das Werk sehen und den Glauben nicht sehen, spottet Gott mit aller Kreatur als der größten Narren auf Erden; ja sie spotten nur ihrer selbst und sind des Teufels Maulaffen mit ihrer Klugheit.“3

Das heißt: Es kommt nicht auf das Geschwätz der Leute an. Es kommt darauf an, dass ich weiß, wer ich bin, dass ich mein Leben vor Gott und in Gottvertrauen lebe und damit Rechenschaft gebe von der Hoffnung, die in mir ist. Und: Es ist Teil der Schöpfung Gottes, Kinder groß zu ziehen, es ist Teil der Existenz von Mann und Frau. Und Kinder als köstlichen Schatz ansehen – das ist gelebter Glaube für die Reformatoren.

3. Gene und Meme

Wie wichtig ein Bündnis für Kinder in unserem Land ist, können wir immer wieder sehen. Vernachlässigte Kinder, gar getötete Kinder, überbehütete Kinder und immer wieder die Statistiken der Schulabbrecher, so genannten Schulversager, der Kinder ohne Chance.

In der World Vision Kinderstudie (2007) sind im letzten Teil Interviews mit Kindern zu lesen. Es ist erschreckend, wie klar Kinder aus armen Familien ihre Situation einschätzen. Sie glauben als 8- oder 11jährige schon nicht daran, dass sie es einmal schaffen könnten! Wie anders war das in meiner Generation! Meine Eltern hatten beide einen so genannten Volksschulabschluss. Aber sie haben alles daran gesetzt, dass ihre Kinder Abitur machten und studieren konnten. Gute Bildung und Ausbildung war ein Ziel, das allen Einsatz wert und erreichbar schien.

Und heute? Da gibt es auch Vorurteile, die beispielsweise besagen, etwa Migrantenfamilien legten keinen Wert auf Bildung. Wir wissen aber aus Studien, dass etwa türkische Einwanderer große Hoffnungen auf die Bildungsleistung ihrer Kinder setzen, ganz anders als populistische Pamphlete vermuten lassen. Eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Bamberg zeigt, dass sie für ihre Kinder hohe Bildungsziele haben 4 Sie wünschen sich, dass ihre Kinder einen guten Schulabschluss machen, möglichst studieren. Allerdings haben sie kaum Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem, kennen die Regeln nicht, wissen nicht, dass und wie sie ihre Kinder fördern können. Sie fühlen sich fremd und das führt zu Enttäuschungen bei ihnen wie den Kindern, wenn die schulische Karriere ins Aus führt. Wie hier Ansätze der Integration, der Beratung, eines Zugehens auf das deutsche Schulsystem ermöglicht werden können, ist eine entscheidende Frage. Der Anknüpfungspunkt jedenfalls ist ganz offensichtlich vorhanden.

Was brauchen Kinder? Zuwendung, Regeln, Liebe, Unterstützung, Klärungen. Ja, sie brauchen Gene und Meme! Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „It takes a village to raise a child“ – Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Das muss unsere Gesellschaft neu lernen! Ja, Eltern schenken die Gene. Sie legen auch Glaubensfundamente, vermitteln Werte und eine Lebenshaltung. Das ist eine ungeheuer große Verantwortung. Eine enorme Leistung. Und eine wunderbare Aufgabe. Aber auch die Menschen ohne Kinder oder die Älteren, die schon Kinder erzogen haben, leisten einen unschätzbaren Beitrag. Die „Meme“ - die Kultur, das Gedächtnis, die Bildung einer Gesellschaft sind hiermit gemeint. Der Zoologe Clinton Richard Dawkins hat sie parallel zu den Genen gestellt. Er führte den Begriff „Mem“ für den Bereich Kultur analog zum Gen in der biologischen Evolution ein. Wir alle tragen dazu bei, Kindern in unserem Land diese Meme mitzugeben, ob wir Kinder haben oder nicht.

Es geht um Netzwerke. „Dieses Kind braucht Deutschland“ meint: Wir brauchen jedes Kind, jedes Kind braucht uns. Keines soll verloren gehen. Der renitente Junge, der die KiTa auf den Kopf stellt, das junge Mädchen, das an Magersucht leidet, der Jugendliche, der kifft, die etwas abgedrehte Hauptschulabbrecherin – sie sind wertvoll! Gott weiß das, er liebt sie ja ohnehin. Aber sie sollen spüren: Wir brauchen dich. Du bedeutest uns etwas. Wir wollen für dich da sein. Eine reformatorische Perspektive ist in jedem Fall: Das einzelne Kind in den Blick nehmen!

Vielleicht können wir von diesen Überlegungen her deutlich machen, was das Engagement für Kinder in unserem Land bedeutet: Ja, es geht um die biologischen Eltern, die sich für Kinder engagieren. Aber es geht auch um die Haltung einer Gesellschaft insgesamt, die ihre Zukunft auf Kinder baut. Wer nur Börsenkurse im Blick hat, kann tief fallen. Aber wer im eigenen Leben an kommende Generationen denkt, lebt wahrhaftig nachhaltig. So spielen Elternschaft und gesellschaftliches Engagement für Kinder ineinander und nicht gegeneinander. Unsere egomanische, ökonomiefixierte Gesellschaft lernt gerade ganz neu: Die Zukunft liegt im Verletzbaren, im Kind. Das ist christlich gesehen die zentrale Lektion. Selbst Gott kommt als Kind verletzbar zur Welt, so glauben Christinnen und Christen.

Alles, was wir für so entscheidend halten, auch ein enger Bildungsbegriff, hält gar nicht stand, wenn es ernst wird im Leben. Wenn wir krank werden, wenn wir sterben, dann stürzen all unsere Sicherheiten zusammen, die uns angepriesen werden. Dann brauchen wir eine Herzensbildung, Bildung für das Leben, Rituale, Geschichten, Gebet. Dann zählen Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen, sagt der Apostel Paulus. Wohlgemerkt nicht die Disziplin oder die Strenge, sondern die Liebe, die wir als Eltern einem Kind gegeben haben, sind entscheidend für seinen weiteren Lebensweg. Die Resilienzforschung zeigt, dass frühe Erfahrung von Wertschätzung Kinder widerstandsfähig macht, ihnen Kraft gibt, auch schwierige Zeiten zu meistern. Die Zuwendung, die wir als Nachbarin oder Lehrer, als Ausbilderin oder Pastor, als Erzieherin oder Pate einem Kind zukommen lassen, sie ist eine Investition in die Zukunft. Da hinterlassen wir eine Spur im Leben. Wir geben die Meme weiter, den Glauben, die Kultur, die Werte, die wir selbst ererbt haben von unseren leiblichen und geistlichen Vätern und Müttern. Das ist Teil von Bildung und es ist Teil eines Eintretens gegen seelische und geistige Armut.

4. Kinder brauchen (biblische) Geschichten, Religion und Gebet, Rituale und Lieder, Vorbilder

Wenn es in der Bibel heißt: „der Gott deines Vaters Isaak“, dann wussten offenbar alle, welcher Gott gemeint war. Wenn bei uns heute jemand vom „Gott deines Vaters Jürgen“ oder vom „Gott deiner Mutter Monika“ spricht, werden die Kinder ins Grübeln geraten. Sollte der ominöse Fußballgott gemeint sein? Oder vielleicht der Geiger André Rieu?

Es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche Zugang zu den alten biblischen Geschichten finden. Da geht es um Glauben, aber auch um Beheimatung in der eigenen Kultur. Architektur, Literatur, Kunst in Deutschland sind ohne jede Bibelkenntnis gar nicht zu verstehen. Aber wir erzählen nicht mehr. Da hat ein Kind nie etwas gehört von Josef etwa, der ein bisschen verwöhnt und hochnäsig war, der brutal verraten wurde, aber einen Weg fand im Leben, weil er sich Gott anvertraute. Wie gut aber zu wissen, dass ich durchhalten kann, dass Versöhnung möglich ist. Es ist ein Verlust an Gemeinschaft, Tradition und Kultur, dass in unserem Land der gemeinsame Erzählfaden abgerissen ist. Wir müssen Geschichten, gerade auch die biblischen Geschichten, weitererzählen.

Auch wenn in unserem Land die Säkularisierung unübersehbar ist, denke ich grundsätzlich: Kinder brauchen Religion. Wo können Kinder heute ihre existentiellen Fragen stellen? Kinder und Jugendliche haben tiefe und religiöse Fragen. Ich finde, es ist ein Armutszeugnis, wenn sie abgebügelt werden mit einem lapidaren „Weiß nicht!“. Viele Eltern meinen offenbar, sie selbst hätten zu wenig Antworten, seien nicht kenntnisreich genug in Sachen Glauben. Und deshalb delegieren sie die religiöse Erziehung an die Kindertagesstätte oder die Schule oder sagen schlicht: „Mein Kind soll selbst mal entscheiden, welche Religion es haben will, ich habe damit nichts zu tun.“ Aber ein Kind muss doch erst eine Religion kennen lernen, um sich dann eines Tages dafür oder dagegen entscheiden zu können. 

Die Fragen der Kinder und Jugendlichen sind immer auch Fragen an uns selbst: Was glauben wir? Wo stehen wir? Sie sind eine Chance, die existentiellen Fragen nicht auszublenden, sondern offen anzunehmen, nicht vor ihnen wegzulaufen, sondern sich Zeit dafür zu nehmen. Dabei möchte ich Eltern und allen anderen, die erziehen, Mut machen zur Antwort.

Dazu gehört für mich auch das Beten. Wie wichtig ist es, in Angst und schweren Zeiten ein Gebet zu kennen. Das habe ich in der Seelsorge immer wieder erlebt. Es ist auch Armut, nicht beten zu können. In dem alten Schwarz-Weiß-Film „Das doppelte Lottchen“ stehen die beiden Mädchen vor der verschlossenen Tür, hinter der die Eltern beraten. Die eine sagt: „Jetzt müssten wir beten“. Die andere sagt: „Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ Unpassend, ja. Aber immerhin, sie kannte noch ein Gebet, das ihrer Angst Worte und Form geben konnte. Ich denke, Beten lehren, eröffnet neue Horizonte.

Neben den Geschichten des Glaubens und dem Beten sind es für mich die Rituale, in die Kinder hineinwachsen sollten. Für Kinder haben Rituale eine große Bedeutung, ja sie lieben Rituale, und Rituale prägen sie und ihre Erinnerung an die Kindheit auch als Jugendliche. Da können Eltern so viel gestalten! Bei meinen eigenen vier Kindern habe ich erlebt, wie wichtig die zuverlässige Wiederholung des Erlebten, das konsequente Aufgreifen des Rituals für sie war.

Ich finde es merkwürdig, dass Kindern in unserem Land zugemutet wird, vor ihrem 14. Lebensjahr durchschnittlich 18.000 (!) tote oder sterbende Menschen im Fernsehen zu sehen, aber dann heißt es, zu einer Beerdigung könnten sie nicht mitgenommen werden.

Rituale helfen uns, der Trauer Formen zu geben, sie zu bewältigen. Das habe ich auch erlebt, wo Kinder gestorben sind und den Freundinnen und Freunden, den Mitschülern die Möglichkeit gegeben wurde, den Abschied mitzugestalten. Kerzen anzünden, Gebete sprechen, Briefe der Erinnerung schreiben oder Blumen ins oder auf das Grab legen: Das sind einige der Formen, die auch Kindern helfen, Abschied zu nehmen. Und manche erfinden sie vielleicht auch ganz neu für sich selbst. Es ist auch eine Form von Armut, keine Rituale zu kennen, die uns helfen, das Leben zu bewältigen.

Neben Geschichten, dem Beten und Ritualen gehört sicher das Singen zur christlichen Erziehung. Mit einem Lied jubeln oder in Verzagtheit singen „Wer nur den lieben Gott lässt walten...“, das tut der Seele gut. Lieder können in uns klingen, wenn wir nicht mehr sprechen können. Vor einiger Zeit titelte der Spiegel „Das Jaulen der Trauerklöße. Die Deutschen verlernen das Singen.“ Wie wahr, können wir in diesen Lamentogesang nur einstimmen. Ich erinnere mich gut, dass meine jüngste Tochter mich beim Abiturgottesdienst ihrer Schwestern vor Jahren anraunzte: „Sing doch nicht so laut, das ist ja peinlich.“ Dann wurde klar: Ich war fast die Einzige, die sang, außer dem Pastor… . Singen aber ist Teil von Bildung! Das Singen neu lernen sollte ein Anliegen sein, weil, wie der Musikwissenschaftler und Gesangspädagoge Karl Adamek das formuliert hat, „die Seelen verstummen“, wenn das Singen bedroht ist. Menschen, die singen, sind nachgewiesenermaßen psychisch und physisch gesünder. Selbst die FAZ hat darauf hingewiesen, dass die Folge verkümmerter Stimmbänder bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland inzwischen messbar sei (29.05.05). So kann ich dem Verband Evangelischer Kirchenchöre nur zustimmen, der erklärt: „Eine Antwort auf Pisa: Singen“.

Schließlich die Vorbilder. Kinder und Jugendliche suchen Orientierung an Erwachsenen. Sie wollen wissen, was Erwachsene glauben, wo sie Halt finden, um für sich selbst einen Weg zu finden in Identifikation oder auch Abgrenzung. Dabei müssen die Vorbilder nicht ohne Risse sein! Meine Großmutter etwa hatte für jede Lebenslage einen Bibelvers parat. Wenn es Ärger und Auseinandersetzungen gab, hieß es: „Lass die Sonne nicht über deinem Zorn untergehen – schrieb schon der Apostel Paulus an die Epheser!“ Ach, was konnten wir dagegen schon sagen? Gab es Streit mit den Eltern, wurde das Vierte Gebot herbeigeholt. Ich erinnere mich, dass ich mit meiner Cousine einmal am Karfreitag ins Kino gehen wolle. Nichts da: „Du sollst den Feiertag heiligen!“ Eben dieses Gebot konnte sie auch zitieren, wenn es an ihrem Geburtstag Windbeutel mit Sahne gab. Nervend fanden wir das manchmal. Aber sie war offen für Gespräche über Gott und die Welt, und sie hatte einen Standpunkt, der ihr offensichtlich geholfen hat, zwei Weltkriege durchzustehen, die Verschleppung des Ehemannes, die Flucht aus Hinterpommern, den Neuanfang mit Kindern und Enkeln in Hessen. Das hat mir imponiert. Sie hatte im christlichen Glauben Halt gefunden, warum sollte das nicht auch Halt für uns bieten?

Auch heute suchen Kinder und Jugendliche erwachsene Menschen, an denen sie sich orientieren können durch Identifikation oder Abgrenzung. Und es ist Teil reformatorischen Denkens, dass wir mit Kindern ins Gespräch kommen, sie ernst nehmen als Individuum, als Subjekt und nicht nur als Objekt unserer Erziehung. Ein solches Vorbild ist Elisabeth Schmitz. Sie war Lehrerin aus Leidenschaft hier in Berlin und hat die protestantischen Werte verkörpert. In der Zeit des Nationalsozialismus gab sie ihren Beruf auf, weil sie sich nicht dazu verbiegen konnte, Kinder im Sinne dieser Ideologie zu unterrichten. Sie war eine Frau des christlichen Widerstandes, eine Lehrerin, die in Berlin früh erkannte, wohin der Ungeist des Nationalsozialismus führt. Sie schrieb 1935 (!) in einem Memorandum noch vor der Reichsprogromnacht über die Lage der Kinder: „Aber wenigstens die Kinder haben doch i.a. im ganz elementaren Empfinden der Menschen einen Anspruch auf Schutz. Und hier? In großen Städten gehen die jüdischen Kinder vielfach jetzt in jüdische Schulen. Oder die Eltern schicken sie in katholische Schulen, in denen nach allgemeiner Ansicht sie sehr viel besser geschützt sind als in evangelischen. Und die nichtarischen evangelischen Kinder? Und die jüdischen Kinder in kleinen Städten, wo es keine jüdischen Schulen gibt, und auf dem Lande? In einer kleinen Stadt werden den jüdischen Kindern von den anderen immer wieder die Hefte zerrissen, wird ihnen das Frühstücksbrot weggenommen und in den Schmutz getreten! Es sind christliche Kinder, die das tun, und christliche Eltern, Lehrer und Pfarrer, die es geschehen lassen!” Nach 1945 hat sie in Hanau weiter gewirkt, klar und entschieden. Eigentlich müsste eine Schule nach dieser Frau benannt werden, finde ich.

Was Jesus als das höchste Gebot überlieferte: „Du sollst Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten wie dich selbst“, sollte als Lebenshaltung eingeübt werden. Rechenschaft für mein Tun, Selbstvergewisserung und Sorge für andere kommen zusammen. Da der oder die andere, ebenso wie ich selbst, als Gottes Ebenbild angesehen werden, steht seine oder ihre Würde nicht in Frage. Ja, da mag es Streit und Auseinandersetzung geben, das ist normal. Die Freiheit eines Christenmenschen begründete sich für Luther darin, dass jeder Mensch das eigene Gewissen an der Bibel schärfen konnte. Dazu gehörte die Fähigkeit zu lesen, auch deshalb war und sind Bildung und Bildungsgerechtigkeit ein reformatorisches Kernthema.

Mehr als jede Generation zuvor wird die jetzt heranwachsende vor enorme ethische Entscheidungen gestellt sein. Das Individuum muss Stellung beziehen, wo alte Wertvorstellungen ihre Selbstverständlichkeit verloren haben. Ich denke an Fragen der Gentechnologie, der Fortpflanzungsmedizin, der Sterbehilfe, der Energiegewinnung. Deshalb brauchen Kinder klare eigene Wertvorstellungen, die ihnen helfen, eine klare Grundhaltung zu finden, nicht auf sich selbst fixiert zu bleiben, sondern standhaft Position zu beziehen. Wie sang Bettina Wegner: „Menschen ohne Rückgrat haben wir schon genug…“.

Ja, das brauchen Kinder: eine geborgene Umgebung, Lust an Bildung, Hoffnung auf Zukunft und Wegweisung in dieses Leben hinein durch Rituale und Gebete, durch Bildung und Lieder, durch die Freiheit, zu werden, was sie sind: „Ein köstlicher Schatz Gottes“, so Martin Luther.


Fußnoten:

  1. Ute Gause, Antrittsvorlesung, unveröffentlichtes Manuskript, S. 2.
  2. Vgl. Maße des Menschlichen. Eine Denkschrift, Gütersloh 2003, S. 14f.
  3. EL WA 10, 296f. (Scharffenorth. S. 219)
  4. Vgl. Tanja Schultz, Starker Ehrgeiz, schwache Leistung, in: SZ 29.9.10.
  5. Elisabeth Schmitz, Zur Lage der deutschen Nichtarier, aaO.; S. 199f.