„Krieg und Frieden - eine Frage von Fundamentalismus?“

Manfred Kock

Statement des EKD-Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock, bei der Diskussionveranstaltung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU in Berlin

TEXT - ENTWURF !!
Es gilt das gesprochene Wort!

Wer sehnte sich nicht nach Frieden? Das deutsche Volk hat im letzten Jahrhundert in zwei Weltkriegen Schuld auf sich geladen und Leid erfahren. Wunden und Narben, Schuld und Scham sind geblieben. Die Ökumenische Überzeugung „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, hat seit der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 die christliche Friedensethik in ihrem Kerngehalt bestimmt.

Die christliche Religion hat nicht immer in der Geschichte zum Frieden beigetragen, sondern nicht selten auch Gewalt befördert. Die Kreuzzüge des Mittelalters, die Unmenschlichkeiten der Heiligen Inquisition, die Glaubenskriege in der beginnenden Neuzeit, die Segnung von Waffen durch Geistliche auf allen Seiten - das sind Kapitel der Kirchengeschichte, für die wir uns schämen müssen, weil wir „... nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“.(1) Dies ist der Hintergrund, auf den evangelische Christen sich beziehen, die die folgenden friedensethischen Leitsätze betonen:

  • „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ (Amsterdam, 1948), und

  • „Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg“(2) , und

  • „Der Leitbegriff des gerechten Friedens dient ... als Wegweiser für alle künftigen Schritte auf dem Weg des Friedens“(3) .

Diese Aussagen finden sich auch bei anderen Kirchen. In ökumenischer Übereinstimmung mit unseren römisch-katholischen Geschwistern und vielen anderen Christen und Christinnen sagen wir: Die christliche Kirche strebt nach einem gerechten Frieden, also nach einem Frieden, der mit Recht und Gerechtigkeit untrennbar verbunden ist. Die christlichen Kirchen bekennen sich dazu, dass Kriege weder heilig noch gerecht sein können. Kriege waren, sind und bleiben schrecklich, gnadenlos und grausam. Sie verstricken die Kriegführenden unentrinnbar in Schuld. Sie sind kein beliebig handhabbares Mittel der Politik wie andere. Wenn überhaupt, kommen sie nur als „ultima ratio“ in Frage, also als eine äußerste denkbare Möglichkeit, als ein Grenzfall der Politik, der immer schon ihr Scheitern markiert. Eine solche ultima ratio kann nur in Fällen hingenommen werden, in denen entweder staatliche Selbstverteidigung oder aber Nothilfe dringend geboten sind. Die Charta der Vereinten Nationen hat diese beiden eng umrissenen Fälle in ihrem Kapitel VII geregelt.(4)

Die EKD ist sich mit der großen Mehrheit anderer christlichen Kirchen heute an einem zentralen Punkt einig: Eine religiöse, jedenfalls eine christliche Legitimation für Kriege gibt es nicht. Dabei existieren im Raum der EKD durchaus verschiedene Auffassungen darüber, wie der Friede begründet und gewonnen werden kann. Radikale Pazifisten und Pazifistinnen, die jede Form von Gewaltanwendung unter allen nur denkbaren Umständen ablehnen, haben ebenso ihre Heimat in der evangelischen Kirche wie Anhänger der Lehre vom gerechten Frieden, die die Anwendung militärischer Gewalt als ultima ratio nicht ausschließt.

Der terroristische Anschlag vom 11. September 2001 hat die Welt erschreckt und entsetzt. Nicht nur das Ausmaß der zerstörerischen Grausamkeit und die rücksichtslose Skrupellosigkeit, mit der vorgegangen wurde, sondern auch die Gründe und Hintergründe dieses beispiellosen terroristischen Aktes geben zu höchster Sorge Anlass. Denn nach allem, was wir wissen, ist deutlich, dass hier ein religiöser Wahn am Werke war, eine Haltung, die vielfach als gewaltbereiter Fundamentalismus bezeichnet wird.

Die Attentäter des 11. September 2001 und ihre mutmaßlichen Drahtzieher sind Islamisten, skrupellose politische Fanatiker. Nicht alles, was diese Personen denken, sagen und tun, kann und darf dem Islam zugerechnet werden. Gleichwohl ist der gewaltbereite Islamismus eine extreme Variante dieser Religion. Im Grunde genommen muss man dreifach unterscheiden, da zwar viele, aber nicht alle Islamisten gewaltbereit sind: Es gibt den Islam als solchen, den Islamismus als den fundamentalistischen und politisch ideologisierten Islam und den islamistischen Terrorismus als denjenigen Teil des fundamentalistischen Islamismus, der extrem gewaltbereit ist.

1998, also drei Jahre vor den Terroranschlägen in den USA, äußerte sich Bin Laden in einer Fatwa(5)  wie folgt: „... In der gesamten islamischen Geschichte sind die Ulema [Rechts- und Religionsgelehrte] einstimmig der Ansicht, dass der heilige Krieg eine persönliche Pflicht ist, wenn der Feind die muslimischen Länder zerstört ...  Auf dieser Grundlage und gemäß Gottes Gebot erlassen wir die folgende Fatwa an alle Muslime: Der Beschluss, die Amerikaner und ihre Verbündeten - Zivilisten und Militär - zu töten, ist eine persönliche Pflicht für einen jeden Muslim, und er kann sie in jedem Land, wo dies möglich ist, erfüllen, um die Al-Aksa-Moschee und die heilige Moschee [Mekka] aus ihrem Griff zu befreien und damit sich ihre Armeen - geschlagen und außer Stande, noch irgendwelche Muslime zu bedrohen - aus allen islamischen Ländern entfernen. Dies steht im Einklang mit den Worten des Allmächtigen Gottes ...“(6).

Der 11. September 2001 hat dazu beigetragen, unser Nachdenken über den Charakter der islamischen Religion und über das Wesen des gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus neu in Gang zu setzen.

Was ist, was will und wozu führt dieser religiöse Fundamentalismus? Ich beschränke mich hier auf den religiös motivierten Fundamentalismus, suche also keine allumfassende Definition, die etwa auch auf weltanschaulich-politische Fundamentalismen aller Art zutreffen könnte. So viel dürfte über das Wesen des gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus deutlich sein:

  • (1) Er stellt eine Art von Flucht in die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener absoluter Fundamente dar.(7) 

  • (2) Er schirmt sich ab gegen alle Arten von Infragestellung durch Aufklärung, Vernunft und Rationalität.

  • (3) Er lehnt entschieden jeden Pluralismus der Auffassungen, Urteile, Sitten und Werte ab, der jedenfalls für die modernen demokratischen Gesellschaften kennzeichnend ist.

  • (4) Friedensethisch beinhaltet er darüber hinaus die These, Krieg dürfe oder solle nach Gottes Willen sein. Unter Umständen müsse er sogar, um Gottes Willen, geführt werden. Ein solcher Krieg heißt dann „heilig“ oder zumindest „gerecht“.

Es gab gewaltbereiten Fundamentalismus nicht bloß vor tausend Jahren, als ein christlicher Papst mit seinem Ruf „Deus lo volt!“ (Gott will es) zu den Kreuzzügen aufrief, es gibt ihn auch heute noch. Und eben nicht nur im islamischen Raum. Sondern beispielsweise auch unter Juden, auch unter Hindus und auch unter Christen.

Der Attentäter, der 1995 den damaligen israelischen Ministerpräsidenten und Friedensnobelpreisträger Yitzchak Rabin ermordete, erklärte, Gott selbst habe ihm den Auftrag zur Tat gegeben. In Indien gibt es einen sog. „Hindu-Faschismus“, der den Subkontinent von allen christlichen und islamischen Einflüssen säubern möchte und dabei vor Gewaltanwendung nicht zurückscheut, wie die Zerstörung der Moschee von Ayodhya im Bundesstaat Uttar Pradesh am 06.12.1992 exemplarisch zeigt. Hier waren Muslime die Opfer. Heiner Geißler hat kürzlich von gewaltbereiten amerikanischen Abtreibungsgegnern berichtet und diese als „christliche Ayatollahs“ bezeichnet. Diesem gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus, der sich in den verschiedenen Religionen äußert, gilt meine Sorge.

Vor diesem Hintergrund sind meine Äußerungen zu verstehen, mit denen ich religiöse Äußerungen missbillige, die der Rechtfertigung und Legitimierung von Gewalt dienen. Und daran halte ich auch weiterhin fest. Es war gewiss missverständlich, im Blick auf die Rede des amerikanischen Präsidenten zur Lage der Nation von „Fundamentalismus“ zu sprechen, weil damit all jene sich beleidigt fühlen, die ihre Arbeit mit täglichem Gebet beginnen und im festen Glauben an ihre geistliche Wiedergeburt stehen. Ich habe aus den meiner Äußerung folgenden Protesten gelernt, dass ein Begriff wie „Fundamentalismus“, für sich genommen jedenfalls, zu einer sachlichen Diskussion ungeeignet ist.

Aber angesichts oben Gesagten habe ich meinerseits Schwierigkeit mit der verbreiteten US-amerikanischen Rhetorik, aus deren kritisch-aufmerksamer Lektüre der Soziologe Robert N. Bellah 1967 den Begriff der „civil religion“ abgeleitet hat. Ich halte es für beunruhigend, wenn George W. Bush es als einen „gottgegebenen Auftrag“ der USA bezeichnet, sich „zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen“ (so zitiert u.a. in epd ZA Nr. 29 vom 11.02.03). Sicher ist es legitim, wenn ein Staat sich selbst verteidigen will, der Artikel 51 der UN-Charta(8)  hält dies ja ausdrücklich fest. Bei meiner USA Reise in den letzten beiden Wochen ist mir immer wieder begegnet, dass sich das Land als im Krieg befindlich erlebt, im Krieg gegen den Terrorismus. Die Identifizierung des Saddam-Regimes als Hort des Terrorismus, entsprechend dem afghanischen Taliban-Regime, ist Rechtfertigung für die Position von Präsident Bush. Doch alle Zweifel daran werden überdeckt von dem geradezu missionarischen Anspruch, diesen Teil der Welt zu demokratisieren. Gewiss sind Freiheit und Demokratie an sich ein ehrenwerte Ziele. Aber der Weg zum Ziel ist zumindest insofern fragwürdig, als er mit dem Einsatz militärischer Mittel, mit dem Leiden, dass ein Krieg für die Bevölkerung zur Folge hätte, nicht zu rechtfertigen wäre. Darin einen "gottgegebenen Auftrag" zu erblicken, kann ich nicht nachvollziehen.

Die EKD sagt demgegenüber: Die Sicherung des Friedens ist eine nach vernünftigen Grundsätzen und Kriterien und nach Maßgabe klarer rechtlicher Rahmenbedingungen zu vollziehende Aufgabe der Vereinten Nationen und deren Sicherheitsrates. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Erklärung des Rates der EKD vom 24. Januar 2003. In ihr ist klar formuliert, aufgrund welcher friedensethischen Kriterien die EKD urteilt und welche friedenspolitischen Schritte sie derzeit vorsieht. Der Ratsbeschluss macht auch deutlich, dass die EKD die Gefährlichkeit des Diktators Saddam Hussein nicht verkennt. Im Gegenteil sieht der Rat in seiner Person und in seinem Regime „die Hauptwurzel des gegenwärtig sich zuspitzenden Konfliktes“.

Ich fasse zusammen:

Das Phänomen des gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus, das in unterschiedlichen Religionen begegnet, begünstigt Krieg und Gewalt und ist ein Hindernis für den Frieden. Das im gegenwärtigen Christentum weithin akzeptierte Paradigma vom gerechten Frieden schließt eine religiöse Begründung für Krieg und Gewalt aus. Es kann daher keine heiligen oder gerechten Kriege geben.

Fußnoten:

(1)  So heißt es bekanntlich im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945.

(2)  EKD-Denkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“, 1981

(3) „Friedensethik in der Bewährung“, 2001

(4)  Hier die wichtigsten Passagen aus Kapitel VII: “Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen
Artikel 39

Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen.
Artikel 41
Der Sicherheitsrat kann beschließen, welche Maßnahmen - unter Ausschluß von Waffengewalt - zu ergreifen sind, um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen; er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegraphen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen.
Artikel 42
Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, daß die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen. Sie können Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen.“

(5) Eine sog. „Fatwa“, die einzelne Vertreter des Islam aussprechen (Ayatollah Khomeini, Osama bin Laden), ist kein Dogma oder unbezweifelbares Gebot, sondern ein zur Diskussion gestelltes Rechtsgutachten. Die Muslime müssen selbst entscheiden, ob sie dem Gutachten folgen wollen oder nicht. Zwingen kann sie jedenfalls niemand.

(6) Auszug aus „Heiliger Krieg gegen Juden und Kreuzfahrer“-Erklärung der weltweiten Islamischen Front vom 23.2.1998 zitiert in : Chornik aktuell. Der 11. September 2001 Gütersloh/München 2001, S. 1188

(7) „Der F. ist ein komplexes Gebilde, das man weder allein aus ökonomischen und politischen Gründen noch aus dem Gegensatz von städtischer Intelligenz und ländlicher Unbildung oder von Nord und Süd erklären kann. Diese Faktoren wirkten alle mit; charakteristisch aber ist eine doktrinäre Abneigung gegen Methoden und Ergebnisse der Naturwissenschaft und historischen Forschung. Der F. ist keine selbständige Bewegung mit eigener Lehre, sondern eine heftige, aber schlecht informierte Protestbewegung gegen den extremen und militanten Liberalismus. Im Unterschied zu anderen konservativen christlichen Bewegungen hat der F. keinen eigenen Ausgangspunkt, sondern ist eher eine Reaktion gegen eine wirkliche oder vermeintliche Gefährdung des christlichen Glaubens.“ [Quelle: Stw. Fundamentalismus, S. 3. Religion in Geschichte und Gegenwart CD-ROM Version der 3. Aufl., S. 10246 (vgl. RGG Bd. 2, S. 1179) (c) J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)] und: „Der heutige religiöse Fundamentalismus stellt hinsichtlich der von seinen Anhängern (den »Fundamentalisten«) vertretenen Ansichten den Versuch dar, die generalisierte Ungewissheit aller Erkenntnisansprüche und die generelle Offenheit aller sozialen Systeme für Alternativen, die der Prozess der Modernisierung mit sich brachte, mit willkürlichen Dogmatisierungen aus der Religion fern zu halten und bestimmte Fundamente gegen alle Zweifel und Kritik zu immunisieren.“ Aus: (c) Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001

(8) Artikel 51 der UN-Charta im Wortlaut: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“