Religionsfreiheit und Verfassungstreue – Erfahrungen in einer multikulturellen Gesellschaft –

Manfred Kock

Zum Jahresempfang des Stadtdekanats München

I. Einleitung

"Religionsfreiheit und Verfassungstreue" ist ein Begriffspaar, das in der Geschichte der Bundesrepublik lange spannungslos nebeneinander stehen konnte. Zwar hat es in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder einmal Anlässe gegeben, darüber nachzudenken, etwa im Zusammenhang mit religiös motiviertem "zivilem Ungehorsam" in der Zeit der Proteste gegen die Notstandsgesetze oder gegen den NATO-Doppelbeschluss, beim Auftreten sogenannter Jugendsekten und Psychogruppen, bei der Beurteilung der Scientology-Organisation, beim Kirchenasyl, im Hinblick auf den angestrebten Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas. Die Diskussionswellen haben nur zeitweise die Aufmerksamkeit der Medien erregt. Es ging oft um die Anliegen kleiner und kleinster Minderheiten, aus denen sich im Medienzeitalter kein öffentliches Dauerthema machen lässt.

Das ist inzwischen anders geworden. Seit dem Streit um das von einer muslimischen Lehrerin im Unterricht getragenen Kopftuch hält sich hartnäckig die Frage im Raum, zu wie viel Anpassung religiöse Überzeugungsträger fähig sein müssen, damit ihre Verfassungstreue nicht in Zweifel gerät. In manchen Städten gibt es aufgeregte Diskussionen, wenn Moscheen geplant werden - über die Höhe der Minarette, über die Genehmigung des Lautsprecher-verstärkten-Gebetsrufes. Die ganze Republik war befasst mit der Frage, wie viel Rücksicht der säkulare Staat im Blick auf die Empfindlichkeit einzelner Bürger nehmen muss, wenn diese das traditionelle Symbol christlichen Glaubens, das Kreuz, in öffentlichen Schulen oder an anderen Orten als unzumutbaren Eingriff in ihre weltanschauliche Freiheit empfinden. Zuletzt hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Schächten die Gemüter erregt. Vor allem der 11. September 2001 hat die öffentliche Wahrnehmung der Rolle der Religionen für das öffentliche Zusammenleben gesteigert. Seitdem erscheint die Brisanz der Frage nach dem künftigen Verhältnis von Religionsfreiheit und Verfassungstreue in einem neuen Licht.

Unterschwellige Ängste werden sichtbar, wenn die Frage: Wie hältst Du’s mit der Religion? im Zusammenhang der oben erwähnten Themen gestellt wird. Wird es den Zusammenprall der Kulturen geben? Wie wird in einer Welt globalisierten Austausches der Waren, Menschen und Ideen die Spannung der religiösen Differenzen  ausgehalten? Hier gilt es, klaren Kopf zu bewahren und zu unterscheiden zwischen der Erscheinung eines sich auf eine Religion berufenden Terrorismus, der sich der Spielräume des freiheitlichen Rechtssystems bedient, und den Grundrechten und Freiheiten, die den Menschen nicht allein aufgrund ihres Glaubens beschnitten werden dürfen. Wenn Menschen in krimineller Absicht und mit tatsächlichen Rechtsbrüchen gegen die Grundlagen der Verfassung verstoßen, dann ist das mit dem Hinweis auf Religionsfreiheit nicht zu rechtfertigen. Damit ist aber die Frage nach dem gestellt, was dem Religionsfrieden dient, was der bürgerlichen Freiheit angemessen ist, worauf die Gesellschaft um ihrer Sicherheit willen bestehen muss und wie wachsam ein Staat sein muss, wenn Kräfte sich anschicken, das Zusammenleben zu zerstören.

Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten. In unserem Land hat sich weltanschauliche Vielfalt entwickelt. Drei Millionen Muslime leben in unserem Land und werden auf Dauer hier bleiben. Vermutlich wird ihre Zahl wachsen. Die Bindungskraft der Kirchen hat abgenommen. Noch bilden die Kirchenmitglieder die Mehrheit in unserem Land, aber ein Drittel der Menschen gehört den Kirchen nicht an. Und ein großer Teil der Kirchenmitglieder scheint am Schutz religiöser Empfindungen und am Bestand christlicher Normen kaum interessiert. Die Aushöhlung des Sonn- und Feiertagsschutzes sei nur als Beispiel genannt.

Es haben sich also eine Reihe von Voraussetzungen geändert, die vor einem halben Jahrhundert bei der Verabschiedung des Grundgesetzes noch nicht im Blick waren.

Was also ist dran: Muss die Gesellschaft darauf bestehen, daß sich die „zugewanderten“ Religionen an die Verfassung anpassen? Müssen wir die Lernprozesse von Migranten, Neubürgern und Alteingesessenen im Blick auf das mit den einschlägigen Artikeln des Grundgesetzes bezeichnete Recht auf ungehinderte Religionsausübung neu organisieren?

Das Ziel ist klar, ich formuliere es vorweg: Die Verfassung unserer Bundesrepublik Deutschland darf nicht unter Berufung auf Religionsfreiheit und Diskriminierungsverbote ausgehöhlt werden. Sie ist nämlich die Instanz, die Religionsfreiheit und Religionsfrieden gewährleistet.

Wo stehen die Kirchen, wo steht insbesondere die Evangelische Kirche in diesem Fragenkomplex?

II. Religionsfreiheit im deutschen Staatskirchenrecht

Die folgenden Überlegungen wollen in diesem Zusammenhang die rechtliche Situation in Deutschland vor dem Hintergrund des wachsenden Pluralismus der Religionen beleuchten.

Ein Grundpfeiler der verfassungsrechtlichen Ordnung in allen demokratischen und säkularen Staaten ist die Religionsfreiheit (1) . Die Religionsfreiheit ist systemübergreifendes Grund- und Menschenrecht. In Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1950 ist dieses Menschenrecht wie folgt formuliert: „Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.“ Die Umsetzung dieser Rechtspositionen hat zu beachten, dass ein Verständnis der Religionsfreiheit als bloßes Recht des Individuums zu kurz greift. Es reicht nicht aus, einen bestimmten Glauben oder eine bestimmte Weltanschauung haben zu dürfen. Die Freiheit konkretisiert sich vielmehr in der freien Möglichkeit, Religion auch gemeinschaftlich ausüben zu können (2). Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften selbst sind in die Garantie der Religionsfreiheit hineingenommen. Das wiederum erfordert Regelungen, die das Verhältnis der religiösen Gruppen und Verbände untereinander und zum Staat in den Blick nehmen.

Die Religionsfreiheit ist ein Grundrecht, das, wie vom Bundesverfassungsgericht immer wieder herausgestellt worden ist, im engen Zusammenhang mit den Gewährleistungen der durch Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten sogenannten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung (WRV) zu sehen ist. Letztere sind funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt (3) . Diese Rechte sind gleichermaßen allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland garantiert. Sie kennzeichnen unser grundgesetzliches System insgesamt als das einer besonderen Freiheit. Es konnte sich durch Jahrhunderte in dieser Weise entwickeln in einem christlich geprägten Umfeld, in dem in jeder geschichtlichen Phase die grundsätzliche Kompatibilität der Religion der überwältigenden Mehrheit des Staatsvolkes mit den Grundlagen des jeweiligen Staates gegeben war (4) .

Auch wenn das heutige Staatskirchenrecht mit seinen Grundprinzipien der Religionsfreiheit, der Trennung von Staat und Kirche, des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften, der Säkularität und Neutralität des Staates, der Gleichstellung aller Religionen im pluralistischen System, das Ergebnis eines langen Prozesses der Säkularisierung (5) ist, so ist unverkennbar, dass das Verhältnis von Staat und Religionen im Sinne eines geordneten Gegenübers von weltlichem Gemeinwesen und rechtlich selbständigen Religionsverbänden eine Besonderheit der westlichen Zivilisation ist. Das Christentum war und ist an der Gestaltung (6) und Weiterentwicklung des Verhältnisses prägend beteiligt. Es geht heute also um die Integration anderer nicht-christlicher Gemeinschaften in ein rechtlich geregeltes Beziehungssystem. Bei den Kirchen ist die Deckungsfähigkeit aufgrund ihrer geschichtlichen Verwurzelung naturgemäß groß, die anderen, die „Zug’reisten“, wie man hier in Bayern wohl sagt, also insbesondere der durch Migration zugewanderte Islam hat da große Mühe. Und wir als Alteingesessene haben nicht weniger Mühe, das fremde religiöse Wertesystem und die fremden Ausdrucksformen und die für uns ungewöhnlichen Denkstrukturen und nicht zuletzt die fremde "Heilige Schrift" zu verstehen.

Ein beredtes Beispiel für die Kompatibilität der evangelischen Kirche mit der Staatsform, die sich in Deutschland herausgebildet hat, ist die Denkschrift der EKD „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“, die sogenannte Demokratiedenkschrift, aus dem Jahr 1985 (7). Hier wird auch deutlich, auf welch umfassende Weise und mit welchem Anspruch die evangelische Kirche in der Öffentlichkeit wirken will und wirken muss. Das öffentliche Predigen und das öffentliche Wirken gehören zum Christentum zwingend dazu. Die Religionsfreiheit umfasst die Freiheit kultischen Handelns ebenso wie die des religiösen Werbens. Das freiheitliche Staatskirchenrechtssystem des Grundgesetzes ermöglicht die Wahrnehmung eines kirchlichen Öffentlichkeitsauftrages (8) in der Gesellschaft in besonderer Weise. Es ist der Politik und der Rechtsprechung durch das Grundgesetz verwehrt, Christentum und Kirche aus der Öffentlichkeit zu drängen (9). Dies gilt für alle Bereiche öffentlicher Kirchenpräsenz. Die Kirchen können auf dem Boden der Religionsfreiheit die Wahrnehmung eines politischen Wächteramtes für sich reklamieren.

Eine solche Präsenz und Wirkungsmöglichkeit in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit garantiert das Grundgesetz nicht nur den christlichen Kirchen, die den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts haben. Dieser Status verpflichtet übrigens auch nicht zur Kritiklosigkeit gegenüber dem Staat. Der Körperschaftsstatus hält die Religionsgemeinschaften frei von staatlicher Bevormundung und Einflussnahme. So können sie das ihre zu den Grundlagen von Staat und Gesellschaft beitragen, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas am 19.12.2000 festgestellt hat (10). Der BGH hat diese Position in einem Beschluss vom 24.7.2001 bestätigt (11).

Die umfassende Bedeutung der Religionsfreiheit und die Freiheitlichkeit des Staatskirchenrechtssystems in Deutschland werden durch das Geschilderte deutlich. Dies folgt nicht zuletzt aus der Erkenntnis, die in dem berühmten Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde zum Ausdruck kommt, wonach der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (12). Aufgrund dieser Erkenntnis ist Religionsfreiheit umfassend gewährleistet, gerade auch im Interesse des Staates daran, dass sich die Kirchen an der Bearbeitung der gesellschaftlichen Fragen öffentlich beteiligen, und zwar – um Böckenförde im vorgenannten Zusammenhang weiter zu zitieren – nicht, um den Staat zu einem christlichen Staat zurückzubilden, "sondern in der Weise, dass die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist" (13) .

Es ist das eingangs geschilderte Szenario, das die Freiheitlichkeit des Systems nun als gefährdet erscheinen und darüber nachdenken lässt, wie den Herausforderungen auf rechtlich geordnete Weise zu begegnen ist, die sich durch die erheblichen Veränderungen in der religiös-weltanschaulichen Landschaft in Deutschland stellen. Damit ist die Frage nach dem Beziehungssystem von Religionsfreiheit und Verfassungstreue nach dem Grundgesetz aufgeworfen.

III. Das Beziehungssystem von Religionsfreiheit und Verfassungstreue

1) Die Forderung der Verfassungstreue an die Religionsgemeinschaften

Die Forderung an Religionsgemeinschaften nach Verfassungstreue kommt zunächst nicht an der Tatsache vorbei, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht wie andere gleichfalls wichtige Grundrechte ausdrücklichen Schranken unterliegt, sondern vorbehaltlos gewährleistet ist (14). Wo innerhalb des Grundgesetzes Verfassungstreue oder die Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung verlangt wird, lässt sich diese Forderung nicht ohne weiteres auf das Grundrecht der Religionsfreiheit anwenden. Die Religionsfreiheit kann nur verfassungsimmanent durch kollidierende Grundrechte Dritter oder gleichrangig mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter eingeschränkt werden. Welches Maß an „Verfassungstreue“ kann in diesem Zusammenhang von Religionsgemeinschaften erwartet werden, und wie kann sich diese Verfassungstreue erweisen?

Im Interesse der Freiheitsrechte im Grundgesetz ist diesem nach überwiegender Auffassung eine allgemeine Grundpflicht der Verfassungstreue nicht zu entnehmen (15). Auch eine Loyalität von Religionsgemeinschaften zum Staat in dem Sinne, dass ihr Handeln an den Interessen des Staates zu orientieren ist, ist zum Schutz der verfassungsrechtlichen Grundwerte nicht nötig und mit ihnen auch nicht vereinbar (16). Auf der anderen Seite kommt dem staatlichen Gewaltmonopol für die verfassungsmäßige Ordnung konstitutive Bedeutung zu. Seine Beachtung ist ebenfalls ein grundlegendes Prinzip des Grundgesetzes (17).

Interessante Hinweise, wie dieser Widerspruch in der Praxis aufgelöst werden kann, lassen sich dem schon erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas entnehmen. Auch wenn es dort um Fragen der Anerkennung von Religionsgemeinschaften als Körperschaft des öffentlichen Rechts geht, und damit um ein Faktum, das einen engeren Bezug der betreffenden Religionsgemeinschaft zum Staat herstellt, so lassen sich doch auch für nicht korporierte Religionsgemeinschaften Prinzipien daraus entnehmen.

Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, „rechtstreu“ sein muss. Jede Vereinigung habe, wie jeder Bürger, eine staatsbürgerliche Pflicht zur Beachtung der Gesetze. Zugleich respektiert die Rechtsprechung in einzelnen Fällen, daß Religionsgemeinschaften darauf bestehen, den Glaubensgeboten mehr zu gehorchen als den Geboten des Rechts. Markant ist z. B. die unterschiedliche Berücksichtigung religiöser Bekleidungsvorschriften des Islam. Während eine Reihe von höchstrichterlichen Entscheidungen wegen der religiös nicht zugelassenen Verwendung von Sportkleidung die Befreiung betroffener Schülerinnen vom Schulsport verfügt haben, ist es andererseits Lehrerinnen untersagt worden, während des Unterrichts ein Kopftuch zu tragen, zu dessen Verwendung sie sich durch Glaubensregeln verpflichtet sahen. Deutlich wird hier, dass bei grundsätzlich gleicher individueller Religionsfreiheit im Fall der Lehrerinnen ein weiteres Moment, das den Staat betrifft, nämlich die Pflicht zur staatlichen Neutralität, hinzutritt, was zur abweichenden Entscheidung führt.

Ein anderes Beispiel systemkonformer Überschreitungen der staatlichen Rechtsordnung vor dem Hintergrund der Ausübung von Religionsfreiheit ist das des sogenannten „Bahà’i-Beschlusses“ des Bundesverfassungsgerichts (18). In diesem Beschluss wurde einer Religionsgemeinschaft zugestanden, sich unter Berufung auf bestimmte Glaubenssätze über die dem weltlichen Rechtskreis als zwingend vorgegebene Regelungen des Vereinsrechts hinwegsetzen zu dürfen. Schließlich kann als aktuelles Beispiel das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schächten erwähnt werden (19). Danach ist das betäubungslose Schächten erlaubt in Fällen, in denen von einer Gruppe eine gemeinsame Glaubensüberzeugung vorgetragen wird, durch die nur der Verzehr geschächteten Fleisches zulässig sei. Die Erlaubnis zum Schächten setzt sich unter Berufung auf die Religionsausübungsfreiheit über das grundsätzliche im Tierschutzgesetz geregelte Betäubungsgebot hinweg.

Die Beispiele zeigen: Die Rechtsprechung trägt dem Rechnung, daß nicht jede Inanspruchnahme der Religionsfreiheit ein Angriff auf die Grundlagen der Verfassung ist; denn die Religionsfreiheit selbst gehört zu diesen Grundlagen.

2) Bereiche unzulässiger Überschreitung der Religionsfreiheit

Es zeigt sich im Ergebnis dieses Abschnitts, dass der religiöse und weltanschauliche Pluralismus, der sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland zu bilden begonnen hat, den Staat zu einem genaueren Hinsehen verpflichtet, wenn es darum geht, ihm aufgegebenen Schutz von Verfassungsrechtsgütern gegen exzessive Ausübung von Religionsfreiheit wahrzunehmen. In extremen Fällen ist bei aller Freiheitlichkeit des religionsrechtlichen Systems des Grundgesetzes ein staatliches Handeln unumgänglich (20). Eine wichtige Möglichkeit staatlichen Handelns ist die des Verbots der betreffenden Religionsgemeinschaft. Diese Option ist nicht erst seit der kürzlich vorgenommenen Streichung des sogenannten „Religionsprivilegs“ aus den Verbotsregelungen im Vereinsgesetz gegeben. Mit der bisherigen Ausnahme der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften von der Verbotsmöglichkeit hatte der Gesetzgeber in lediglich zulässiger, aber nicht notwendiger Weise darauf verzichtet, seine durch Art. 9 II GG grundsätzlich gegebene Regelungsbefugnis voll auszuschöpfen. Wenn die Ausnahme nun gestrichen worden ist, so ist damit noch einmal klar festgestellt, dass auch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch ihre Ziele und ihr Handeln sich nicht gegen Strafgesetze, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten dürfen.

3) Das Toleranzgebot im religiösen Pluralismus

Nicht nur der Staat, auch die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften selbst, die in einem wachsenden Pluralismus nebeneinander treten, müssen auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren. Denn den Frieden zwischen den Religionen vermag der säkulare Staat aufgrund seiner Neutralität und der gleichberechtigten Berücksichtigung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nur mittelbar zu schützen. Das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft, ja das Funktionieren der staatlichen Ordnung insgesamt, ist abhängig von der Friedensfähigkeit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften untereinander. Hierin liegt die Bedeutung der friedenswahrenden Ausübung und recht genutzten Freiheit der Religionsgemeinschaften. Das Nebeneinander der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften darf das geordnete friedliche Zusammenleben in ein und demselben Gemeinwesen nicht gefährden (21). Dies ist die eigentliche Herausforderung in der multireligiös gewordenen Wirklichkeit in Deutschland. Der religiös neutrale Staat kann nur einen Weg der „goldenen Mitte“(22)  garantieren. Das System seiner Ordnung, das Grundgesetz, fordert heute folglich von den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Toleranz, Solidarität und Gemeinsinn (23) und damit ein Einfügen im Rahmen des Zusammenlebens (24). Der Wettbewerb der Überzeugungen oder die Missionstätigkeit werden nicht ausgeschlossen. Aber ein aggressiver Fundamentalismus ist nicht hinnehmbar. (25) Solche Tendenzen stünden außerhalb der durch das System garantierten Freiheiten. Darin läge ein Ansatzpunkt für ein Eingreifen des Staates als Hüter der Toleranz (26), das seinerseits keinen Verstoß gegen die staatskirchenrechtliche Ordnung darstellen würde.

Die wichtigste Rolle für ein friedliches Zusammenleben spielen aber, das wiederhole ich, Kirche und Religionsgemeinschaften selbst.

IV. Konsequenzen in der multikulturellen Gesellschaft

Es hat sich gezeigt, dass Religionsfreiheit und Staatskirchenrechtssystem des deutschen Grundgesetzes weit gefasst sind. Auch wenn die Gewährleistungen im Laufe der Geschichte im Gegenüber mit den christlichen Kirchen entstanden sind, so sind sie doch offen für alle Religions- und Weltanschauungen. Dies bewährt sich in der Praxis der multikultureller werdenden Gesellschaft in Deutschland. Die staatliche Neutralität gebietet eine solche Entwicklung. Allerdings ist der Staat im Umgang mit Religionsgemeinschaften durch die hohe Kompatibilität zu ihm geprägt, die die christlichen Kirchen aufweisen, deren Mitglieder jahrhundertelang weitgehend mit dem Staatsvolk identisch waren. Die Anwendung der Prinzipien der Religionsfreiheit bedarf vor diesem Hintergrund neuer Einübung.

Das Ziel kann dabei nicht das gleichgültige Nebeneinander unterschiedlicher Weltanschauungen bedeuten. Das würde die Rücknahme der geistigen Orientierung in den Bereich des Privaten und die Preisgabe des öffentlichen Raums an einen nichtssagenden Relativismus bedeuten.

Aber trotz ihrer Neigung zur Beliebigkeit ist die säkulare Gesellschaft am besten geeignet, die vielen unterschiedlichen Weltanschauungen in Frieden miteinander leben zu lassen.

Wie kann das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen gelingen? Nur im respektvollen Dialog! Dabei erfordert die Achtung vor dem Glauben anderer solides Wissen vom eigenen Glauben. Selbstbewusstsein ist im Dialog gefragt, nicht Überheblichkeit, die immer mit Unwissenheit gepaart ist.

Achtung vor dem Glauben anderer erfordert die Bereitschaft, deren Glauben kennen zu lernen. Dabei wird man Gemeinsamkeiten erkennen, aber vor allem muss man den Anderen in seiner Fremdheit akzeptieren.

Im Gespräch mit Muslimen über die öffentliche Dimension des Glaubens müssen selbstverständlich auch die Grundsätze unserer Verfassung zur Sprache kommen. Hier wünsche ich mir neben dem unumgänglichen gegenseitigen Respekt in den persönlichen Begegnungen größere Deutlichkeit in der Sache.
In diesen Rahmen gehört auch die Bewertung der Menschenrechtsverletzungen, Verfolgungen und Benachteiligungen christlicher und anderer religiöser Minderheiten in islamisch geprägten Ländern.

Islamische Gruppierungen, die sich vom Terrorismus distanzieren und bekunden, dass ihre Treue zum Islam mit der vorbehaltlosen Anerkennung unseres Grundgesetzes vereinbar ist, müssen wir beim Wort nehmen und nach ihren Konsequenzen für die Gestaltung des Zusammenlebens fragen. Dazu gehört die Diskussion um die Akzeptanz des säkularen Staates, dessen Rechtsordnung die Pluralität schützt.

Wir brauchen für unser Land, wie Bischof Wolfgang Huber dies gefordert hat, „die Verständigung auf eine Kultur der Anerkennung, die auf dem Respekt vor der unantastbaren Würde der menschlichen Person beruht.“

Diese Kultur der Anerkennung bedarf immer wieder der Orientierungskraft des christlichen Menschenverständnisses. Dieses geltend zu machen bleibt der Auftrag der Kirche für die Gestaltung der Gesellschaft.

Heute müssen wir zu beidem bereit sein, zur Wahrung wie zur Erneuerung unserer Werte. Zur Wahrung unserer Werte gehört die kritische und gegebenenfalls auch kämpferische Auseinandersetzung mit denen, die eine solche Kultur der Anerkennung zum Einsturz bringen wollen, dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit einem militanten Islamismus. Zur Erneuerung unserer Werte aber gehört, dass wir gerade heute bewusst eine Kultur der Anerkennung stärken, die auch den anderen, den Fremden einschließt. Deshalb sollten wir uns auch durch die Erschütterung der vergangenen Monate nicht dazu hinreißen lassen, dem Islam schlechterdings und im Ganzen die Teilhabe an Kultur und Zivilisation abzusprechen. Denn ein solches Urteil wäre weder historisch noch aktuell zu rechtfertigen. Es wäre kein Ausdruck der Stärke, sondern ein Akt der Kapitulation - eine Unterwerfung unter den Geist des Hasses, dessen Opfer wir beklagen.

Ein christliches Menschenbild entfaltet Kräfte, die den Menschen davor bewahren können, sich absolut zu setzen, sich zum Herrn anderer aufzuspielen. Darum ist dieses Menschenbild eine Wurzel der Toleranz und der Selbstbescheidung.

Allen Allmachtsphantasien, ob sie aus dem Fortschrittsoptimismus der Forschung, aus ideologischer Maßlosigkeit oder aus fundamentalistischem Fanatismus erwachsen, müssen wir nüchtern die Kennzeichen des christlichen Menschenbildes entgegenhalten: Wir Menschen sind endliche Wesen, bleiben sterblich und sind jederzeit zum Bösen verführbar und sind gleichwohl angenommen und geliebt.

Fußnoten:

  1. Zur Religionsfreiheit s. für alle v. Campenhausen, § 136 Religionsfreiheit, in HStR, Bd. VI, = ders., Gesam-melte Schriften, Tübingen 1995, S. 256 ff., m. w. N.
     
  2. Scheuner, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, Schriften zum Staatskirchenrecht, S. 42, S. 50 ff.; v. Cam-penhausen (Anm. 1), § 136 Religionsfreiheit, Rdnr. 3.
     
  3. Dazu nur BVerfGE 42, 312, 322; ebenso im „Zeugen Jehovas-Urteil“: BVerfG, Urteil vom 19.12.2000, NJW 2001, 429, jetzt abgedruckt in BverfGE 102, 370 ff.
     
  4. Dazu für alle v. Campenhausen, Neue Religionen im Abendland, ZevKR 25 (1980) S. 135.
     
  5. Im einzelnen dazu Heckel, Zur Ordnungsproblematik des Staatskirchenrechts im säkularen Kultur- und Sozial-staat, JZ 1994, S. 425 ff.
     
  6. von Campenhausen, Staatskirchenrecht, a. Auflage 1996, S. 2.
     
  7. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 2/4, 1992, S. 9 ff.
     
  8. Hierzu zuletzt Thiele, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen – aus evangelischer Sicht –, ZevKR 46 (2001) S. 179 ff.
     
  9. Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, HdbStKR II2, S. 168.
     
  10. U. des BVerfG vom 19.12.2000 zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehowas  BVerfGE 102, 370 ff. = NJW 2000, 429 ff. = ZevKR 46 (2001) S. 224 ff.
     
  11. B. des BGH vom 24.7.2001 zum Rechtsweg für Abwehransprüche gegen Äußerungen des Sektenbeauftragten einer Kirche, NJW 2001, 3537 ff.
     
  12. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, S. 60.
     
  13. Ebd., S. 61.
     
  14. Zu den Grundrechtsschranken des Art. 4 GG s. für alle Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchen-rechts, 2000, Rn 125 ff., m.w.N.
     
  15. M.w.N.: Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung. Die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, 1997, S. 208.
     
  16. So im Zusammenhang mit der Verleihung des Körperschaftsstatus an die Zeugen Jehovas das BVerfG in seinem Urteil vom 19.12.2000 (Anm. 12).
     
  17. Muckel (Anm. 17), S. 209.
     
  18. BVerfGE 83, 341 ff. = ZevKR 36 (1991) S. 408 ff., Beschluss vom 5.2.1991.
     
  19. BVerfG, Urteil vom 15.1.2002, DVBl. 2002, s. 328 ff. m. Anm. von Volkmann, der sich anhand dieses Urteils kritisch mit der gesamten Tendenz der Rechtsprechung des BVerfG in Fragen des Grundrechts der Religions-freiheit und seiner möglichen Beschränkung auseinandersetzt. Er erkennt in dieser und anderer neuerer Recht-sprechung einen "Neutralitätsliberalismus", dem er deshalb eine Gefährdung der gemeinsamen gesellschaftli-chen Fundamente vorwirft, da er "das viele Zentrifugale und Dissoziative, das die moderne Gesellschaft zuse-hends prägt" nicht in der gebotenen Art und Weise zusammenführen könne.
     
  20. Vgl. Muckel (Anm. 17), S. 283. 
     
  21. Burkhard Guntau, Der Ruf des Muezzin in Deutschland - Ausdruck der Religionsfreiheit?, ZevKR 43 (1998) S. 378; Wolfgang Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, Essener Ge-spräche, Bd. 20, Münster 1986, S. 156.
     
  22. Guntau, ebd., S. 378 f.
     
  23. So die Formulierung bei Hollerbach (Anm. 24), S. 33; ebenso v. Campenhausen, Neue Religionen im Abend-land, ZevKR 25 (1980) S. 141 =  ders., Gesammelte Schriften, S. 414; Scheuner, Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz. Zur Entwicklung des Staatskirchenrechts, in: HdbStKirchR, Bd. I1, 1974, S. 50ff.; kritisch zum Toleranzgedanken Muckel , Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 116 ff.
     
  24. Scheuner, ebd., S. 51.
     
  25. Guntau (Anm. 25), S. 380.
     
  26. v. Campenhausen, Aktuelle Aspekte der Religionsfreiheit. Neue Religionen im Abendland II, ZevKR 37 (1992) S. 407 = ders., Gesammelte Schriften, S. 447.