Gewissensfragen. Über die Beziehung von Menschenbild und moderner Forschungsentwicklung

Manfred Kock

Düsseldorf

Es gilt das gesprochene Wort!

Vortrag beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in Düsseldorf

Sehr geehrter Herr Präsident Professor Bender,
verehrte Frau Ministerin Fischer, meine Damen und Herren!
Herzlich danke ich für die Ehre, vor Ihnen zum Thema „Gewissensfragen Über die Beziehung von Menschenbild und moderner Forschungsentwicklung“ sprechen zu dürfen.

I.
Im Magazin der Süddeutschen Zeitung, das jeder Freitagausgabe beiliegt, gibt es seit einigen Monaten eine Kolumne unter der Überschrift: "Die Gewissensfrage". Leser können per Zuschrift ein Problem ihres alltäglichen Lebens schildern, bei dem sie unsicher sind, ob ihr Verhalten in Ordnung ist. Ein Beispiel aus jüngster Zeit:

"In unserer Familie" - schreibt eine Leserin - "wird gern geschrieben und Post empfangen, letztere nicht selten mit ungestempelten Briefmarken. Wir fragen uns, was mit den nicht entwerteten Marken geschehen soll. Rechtskundige antworten: unstrittig in den Papierkorb bzw. zu einem Diakonischen Werk, da die Post mit der Zustellung ihre Leistung erbracht hat. Menschenfreunde, nachweislich auch an Postschaltern, empfehlen uns, die Marken abzulösen und wiederzuverwerten. Was meinen Sie?"

Für die Antworten ist ein Dr. Rainer Erlinger zuständig. Im einen Fall macht er ein gutes Gewissen, im anderen Fall übt er behutsam Kritik und schärft die Gewissen. In dem Beispielfall etwa sprach er sich ohne Umschweife dagegen aus, die Briefmarken abzulösen und wieder zu verwerten.

Ob die Probleme, die da geschildert werden, immer wirkliche Gewissensfragen darstellen, lasse ich hier dahingestellt. Da sind die Gewissensfragen, mit denen Sie als Gynäkologen zu tun haben, jedenfalls von anderem Kaliber. Ich brauche nur an das bedrängende Problem der Spätabtreibungen zu denken. Die Verfeinerung vorgeburtlicher Diagnoseverfahren hat Sie als Ärzte dabei in Konfliktsituationen verwoben, die sich - auch wegen wachsender Prozessrisiken – weiter zuspitzen. Niemand kann sich jedenfalls damit abfinden, dass bei einer Abtreibung lebensfähige Kinder getötet werden. Hier werden die beteiligten Personen zerrissen zwischen einem legalen Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch und dem Gebot, menschliches Leben zu schützen und zu erhalten.

Ärzte beklagen immer wieder die Einbindung in ein gesetzliches System, in denen sich die Notlagenindikation zu einer Fristenlösung mit Beratungspflicht gewandelt hat. Auf der anderen Seite erleben Ärzte Situationen, in denen sie sich auch bei einer Verweigerung von Abbruch schuldig fühlen würden.

Die Diskussion darüber ist so wichtig, weil die Berufung auf die persönliche Gewissensentscheidung nicht erfolgen kann ohne Austausch über Gründe und Alternativen, vor allem nicht ohne Bezug auf ein ethisch-moralisches Wertesystem. Ob diese Rückbindung in kollegialer Beratung oder im Austausch mit anderen Personen des Vertrauens erfolgt, oder als persönliches Ringen im eigenen Gewissen vor den Kriterien des Berufsethos, ist dabei im Einzelfall nicht entscheidend. Jedenfalls gehört auch die Öffnung für die Situation der Patienten - bei Ihnen der betroffenen Frauen- dazu. Ohne jeden Austausch und ohne ernste Prüfung wäre eine persönliche Gewissensentscheidung von privater Laune nicht zu unterscheiden.

Was ist das eigentlich: eine Gewissensfrage? Was geschieht im Gewissen eines Menschen? Lassen Sie mich anknüpfen an Martin Luther, der als eine prägende Gestalt am Beginn der Moderne geradezu exemplarisch als Verfechter der Freiheit des Gewissens gilt. Jedenfalls für das Selbstverständnis des Protestantismus verbindet sich dieses Freiheitsverständnis mit Luthers Auftritt vor dem Reichstag in Worms im Jahr 1521. Hier war der einfache Mönch vorgeladen, um seine Schriften zu widerrufen. Dazu sei er nur bereit, so sagte er vor dem versammelten Reichstag, wenn er durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder einleuchtende Vernunftgründe überwunden werde, und er schloss seine Verteidigungsrede:

„Da ich durch die von mir angeführten Schriften überwunden bin und mein Gewissen gefangen ist in den Worten Gottes, kann ich und will ich nichts widerrufen – weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch heilsam ist.“

Dazu, so wird überliefert, habe er noch gesagt: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir. Amen.“
Das Gewissen spricht gegen Kirche, Kaiser und Reich.

Diese historische Stunde, in der der Einzelne gegen die versammelte Macht steht und unbeirrbar bei seiner Überzeugung bleibt, dient auch als ein Symboldatum für den Beginn des neuzeitlichen Individualismus. In Luthers Theologie und Denken ist aber eine Entwicklung in diese Richtung nicht beabsichtigt. Luther beruft sich auf das Gewissen nicht als auf eine individuelle moralische Norm, sondern auf eine Instanz, die im Hören auf die Heilige Schrift den Menschen vor Gott stellt, so dass er weiß: ich bin nicht gerechtfertigt durch mich selbst, nicht durch mein Tun und Lassen – ich bin vielmehr frei durch Gottes Gnade. Gewissen ist bei Luther kein moralisches Phänomen, das auf Tugend ausgerichtet ist, es ist vielmehr ein theologisches Kriterium, in dem es um das Heil des Menschen geht.

Seine Bindung erfährt das Gewissen durch die Heilige Schrift nicht als einer handlungsorientierten Gesetzessammlung, sondern von ihrer Mitte her: Christus befreit und lässt in den Konflikten des Lebens frei atmen. So oder so wird der Mensch schuldig, aber der vergebende Gott ist das Maß des Handelns. Die Gewissheit, Schuld vergeben zu bekommen, lässt gerade auch Menschen, die - wie Sie - in ihrem Beruf oft nur die Wahl zwischen zwei Übeln haben, zu Entscheidungen finden. Das öffnet nicht das Tor zur Beliebigkeit, sondern stellt in die Verantwortung – auch gegenüber den in der Welt geltenden Gesetzen, sofern sie dem Leben dienen. Gerade hier wird deutlich, wie bei Luther das Zeugnis der Schrift und die Evidenz der Vernunft zusammengehören.

Luther bestreitet nicht die Bedeutung ethisch guten Handelns. Es bringt ihn aber nicht vor Gott zurecht, es folgt vielmehr dem im Glauben gehaltenen Gewissen. Das aber ist nicht schon dadurch gekennzeichnet, dass es von der Meinung der Mehrheit abweicht. Es kann so sein, aber der Einzelne kann auch der Mehrheit folgen – letzten Endes jedoch trägt jeder ganz persönlich die Verantwortung, auch wenn seine Entscheidung der allgemeinen Meinung entspricht (vgl. Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe, 1982, S. 75 f.).

Freiheit des Gewissens, so fasse ich zusammen, ist nach evangelischem Verständnis nicht individualistische Persönlichkeitsentscheidung. Freiheit des Gewissens ist Ausdruck des Glaubens. Diesem Glauben folgt das Tun und Lassen. Freiheit des Gewissens beruht auf dem Zuspruch der Vergebung Gottes, der den Menschen auch in Schuldzusammenhängen aufatmen lässt und neue Handlungsspielräume eröffnet. Freiheit des Gewissens in diesem reformatorischen Sinn ist damit als heteronomes Geschehen anders begründet als das säkulare am Ideal des autonomen Individuum orientierten Gewissensverständnis. Beide stimmen jedoch insoweit überein, dass der Mensch in seinem Innern unantastbar ist.

Wie und wo kommt das Gewissen für den Einzelnen ins Spiel?

Dazu drei knappe Antworten:

1. Das Gewissen sagt nein. Es sagt nicht: Tu dies oder tu das. Es ist eine prüfende Instanz und warnt den Menschen davor, eine bestimmte Tat zu tun oder zu unterlassen. Das gute Gewissen ist so viel wie die Abwesenheit des schlechten Gewissens. Mit anderen Worten: Ein gutes Gewissen zu haben meint, dass der Warnruf des Gewissens gehört, aber mit guten Gründen nicht befolgt wurde oder dass es einen Warnruf des Gewissens gar nicht gegeben hat.

Die Prüfung, die im Gewissen geschieht, setzt ein elementares Wissen um Gut und Böse voraus. Jeder Mensch hat ein Gewissen. Das heißt: Jedem Menschen ist, wie es Paulus im Römerbrief sagt, "ins Herz geschrieben, was das Gesetz fordert, zumal sein Gewissen es ihm bezeugt" (2,15). Für Paulus ist diese Aussage nicht in dem Sinn elementar, als sei jeder Mensch von Natur aus mit klarer Orientierung ausgestattet. Es ist vielmehr die biblische Überlieferung die auslegt, was das ins Herz geschriebene Gesetz meint. Das Wissen um Gut und Böse ist geprägt durch „kulturellen Transfer“, durch Erziehung in einem Wertekontext. Für Sie als Ärzte bedeutet das auch die Bindung an ein überliefertes Berufsethos, das klare Konturen hat: die Orientierung am Wohl der Patienten; der ärztliche Auftrag ist ausgerichtet auf helfen und heilen. Wie lebendig dieses Ethos ist, zeigt sich daran, dass anders, als die allgemeine Mehrheit votiert, die Ärzteschaft in unserem Land die gesetzliche Freigabe aktiver Sterbehilfe ablehnt.

Aber nicht bei jedem und immer gibt es diese klare ethische Position. Es gibt auch das verbogene, das abgestumpfte Gewissen, das Gewissen unter dem Nebel vieler Versuchungen; es gibt die Versuchung materieller Vorteile; der Hinweis auf die anderen, die dies oder jenes Verfahren auch anwenden - und im Ausland werde es sowieso erlabt. Bisweilen hüllt sich das Gewissen auch in den Mantel des Mitleids. Darum kommt der Gewissensbildung und der Gewissensschärfung so hohe Bedeutung zu. Das Gewissen soll nach Luthers Verständnis "gefangen" sein im Wort Gottes, d.h. sich an es binden und damit in ihm eine feste Bastion [„ein feste Burg“] haben.

2. Das Gewissen klagt an. Wer auf die Stimme seines Gewissens nicht gehört und etwas getan oder unterlassen hat, was mit seinem Gewissen nicht zu vereinbaren ist, den klagt sein Gewissen an. Er hat, wie wir sagen, ein schlechtes Gewissen. Ihn plagen Gewissensbisse. Das kann mehr oder weniger quälend sein - je nach dem, was bei dem Handeln oder Unterlassen auf dem Spiele stand. Im äußersten Fall wird das Gewissen zum Ort der zerstörerischen Selbstverurteilung.

Deshalb gibt es auch kaum etwas Schlimmeres im Umgang der Menschen miteinander, als anderen ein schlechtes Gewissen zu machen.

3. Ein angefochtenes Gewissen braucht Trost. Ein Mensch, der von seinem Gewissen verklagt wird, leidet. Denn sein Gewissen ist verwundet, unruhig, matt, es quält ihn, nagt an seinem Herzen.

Trost und Hilfe kann ein solches Gewissen nur erfahren, wenn die Verurteilung der Taten nicht mit der Verurteilung der Person einhergeht. Eben dies geschieht in der Verkündigung des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders. Martin Luther hat dieses Evangelium, diese tröstliche Botschaft einmal wunderbar ausgedrückt: "Du musst nicht deinem Gewissen und Gefühl mehr glauben als dem Wort, das vom Herrn verkündigt wird, der die Sünder aufnimmt. Von daher kannst du mit dem Gewissen streiten und sagen: Du lügst, Christus hat recht, nicht du."

Das Gewissensverständnis, das ich hier entfaltet habe, ist von der Absicht bestimmt, einer Banalisierung der Rede vom Gewissen und von Gewissensfragen entgegenzutreten. Man beruft sich heute zu schnell und zu häufig auf eine Gewissensentscheidung. So wird bis in kirchliche Erklärungen hinein die Formulierung verwendet, bei der Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch handele es sich um eine "Gewissensentscheidung". Das trifft sicher in dem Sinne zu, dass alle Menschen, die unmittelbar oder mittelbar, handelnd oder ratend mit der Entscheidung über Fortsetzung oder Abbruch einer Schwangerschaft zu tun bekommen, in ihren Gewissen gefordert sind. Wer hier jedoch betont von einer "Gewissensentscheidung" spricht, meint etwas anderes: Die Entscheidung soll damit als eine subjektive, von anderen nicht überprüfbare, nur persönlich zu verantwortende Entscheidung gekennzeichnet werden. Aber diese Beschreibung wird der Funktionsweise des menschlichen Gewissens nicht gerecht. Denn welche als gültig erkannte ethische Forderung sollte es sein, die die schwangere Frau dazu veranlasst, sich für den Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden? Die - auch von der Rechtsordnung geschützte - Weigerung von Arzt, Krankenschwester oder Krankenpfleger, an einer Abtreibung mitzuwirken, kann demgegenüber mit vollem Recht als Gewissensentscheidung gekennzeichnet werden. In diesem Fall warnt das Gewissen die betroffenen Person davor, sich an einer Handlung zu beteiligen, die zu ihrer Selbstentzweiung zu führen droht.

Ich formuliere zusammenfassend für den Umgang mit dem Gewissen und dem Gewissensbegriff drei elementare Imperative:

  • Handle nicht gegen dein Gewissen und bringe niemanden in die Situation, gegen sein Gewissen handeln zu müssen!
  • Verwechsle das Ergebnis einer vernunftgemäßen Prüfung unterschiedlicher Handlungsalternativen nicht mit einer Gewissensentscheidung!
  • Sei sparsam mit der Berufung auf das Gewissen und immunisiere dich nicht gegen Argumente, in dem du dich vorschnell auf dein Gewissen berufst!“ („Gewissen und Rechtsordnung“. Eine Thesenreihe der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1997, S. 7)

II.
Das Thema meines Vortrags setzt die Gewissensfragen in ein Verhältnis einerseits zu dem Menschenbild, von dem wir uns leiten lassen, und andererseits zur modernen Forschungsentwicklung, mit der wir konfrontiert sind. Ich werde mich darum in den beiden folgenden Abschnitten zunächst mit der Frage des Menschenbildes und dann mit den Antriebskräften der modernen Forschungsentwicklung beschäftigen.

Die medizinische und biologische Forschung vollzieht sich weithin ohne ausdrückliche Auseinandersetzung mit solchen grundsätzlichen Überlegungen zum Menschenbild. Um zu verhindern, dass sich ethische Ghettos bilden, brauchen wir beharrliche Bemühungen, das Gespräch zwischen den Menschen in den unterschiedlichen Denkkulturen und Sprachwelten zu intensivieren.

In christlicher Sicht hat der Mensch eine herausgehobene Stellung, die sein Leben von allen übrigen Formen des Lebens unterscheidet. Diese ist nicht in seinen biologischen Eigenschaften begründet, sondern im Personsein des Menschen. Deshalb ist es notwendig, zwischen einer biologischen und einer personalen Perspektive auf das Menschsein zu unterscheiden.

In biologischer Perspektive lässt sich feststellen, ob bestimmte Zellen oder Organismen der Spezies "Mensch" angehören. Ebenso lässt sich biologisch feststellen, in welcher Entwicklungsphase sie sich befinden. In keinem Fall kann aber in biologischer Perspektive das erfasst werden, was mit dem Ausdruck "Mensch als Person" gemeint ist. Diese Kennzeichnung erschließt sich erst in der darüber hinaus gehenden Perspektive personaler Kommunikation. In dieser personalen Perspektive haben wir nicht eine Sache vor uns, die sich definieren und einordnen und über die sich verfügen ließe, sondern eine Person, die für andere unverfügbar bleibt.

Das christliche Verständnis der Person unterscheidet sich dabei von einem anderen Verständnis, das in der heutigen medizinethischen Diskussion nicht selten vertreten wird. Diesem zufolge ist das Personsein in bestimmten Eigenschaften wie: Bewusstsein oder dem Haben von Interessen begründet. Wesen, die über diese Eigenschaften nicht verfügen, sollen hiernach keine Personen sein. Das beträfe auch Menschen ohne Bewusstsein. Nach christlichem Verständnis gründet demgegenüber das Personsein nicht in Eigenschaften und Fähigkeiten, sondern in einem Anerkennungsverhältnis. Der Mensch verdankt sein Sein als Person der vorbehaltlosen Anerkennung durch Gott, die zur wechselseitigen Anerkennung der Menschen untereinander verpflichtet. Person ist jemand nur in Beziehung - grundlegend zu Gott, in Folge dessen auch zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst. Daher ist eine Frage wie die, ob es sich bei vorgeburtlichem oder behindertem menschlichen Leben um personales Leben handelt, recht begriffen eine Frage nach den Beziehungen, in die dieses Leben gestellt ist, und auch nach der Beziehung, in der wir selbst zu diesem Leben stehen.

In christlicher Sicht verdankt sich personales Sein der schöpferischen Kraft der Liebe Gottes, die sich den Menschen zum personalen Gegenüber erschafft, und zwar in jedem neuen Werden eines Menschen. Diese schöpferische Liebe Gottes findet ihre Antwort und Entsprechung in dem Geist der Liebe, in dem Menschen sich aufeinander als Personen beziehen und einander als solche achten.

In dieser zwischenmenschlichen Achtung findet einerseits die Würde des anderen Menschen Anerkennung, dem diese Achtung zuteil wird. Andererseits gehört es aber auch zu meiner eigenen Würde als Mensch, den anderen als Person anzuerkennen und zu achten.

Personales Sein ist hiernach nicht so naturgegeben, wie dies die genetische Ausstattung des Menschen ist. Es verdankt sich einem Beziehungsgeschehen. Darin liegt zugleich seine mögliche Gefährdung. Zwar kann keinem Menschen sein Personsein genommen werden, da dieses in seiner vorbehaltlosen Anerkennung durch Gott gründet. Aber es kann ihm doch die geschuldete Achtung als Person vorenthalten oder verweigert werden.

Das führt mitten hinein in die aktuellen bioethischen Diskussionen. Die christlichen Kirchen haben schon 1989 in ihrer gemeinsamen Erklärung "Gott ist ein Freund des Lebens" nachdrücklich hervorgehoben:

"Jeder Mensch, wie immer er ist, gesund oder krank, mit hoher oder mit geringer Lebenserwartung, produktiv oder eine Belastung darstellend, ist und bleibt 'Bild Gottes'."

Die Überzeugung, daß letztlich nicht eigene Qualitäten, sondern Gottes Annahme und Berufung dem Menschen Gottebenbildlichkeit und damit seine Würde verleihen, muß sich gerade gegenüber dem kranken, behinderten und sterbenden Leben bewähren. Alles andere ist Götzendienst gegenüber dem Vitalen, Starken und Leistungsfähigen" (S. 47).

Was hier im Blick auf das kranke, behinderte und sterbende menschliche Leben gesagt ist, gilt entsprechend für das ungeborene menschliche Leben. In der Entwicklung von der Keimzellenverschmelzung bis zum Ende der irdischen Existenz eines Menschen gibt es keine andere Zäsur, die sich mit guten Gründen als Beginn des Menschseins verstehen ließe. Die einzigen dafür theoretischen in Frage kommenden und auch gegenwärtig diskutierten Einschnitte in der menschlichen Entwicklung, die Geburt und die Einnistung in die Gebärmutter, bilden eben nicht den Beginn des Menschseins, sondern sind Einschnitte innerhalb der Entwicklung als Mensch.

Auf der Grundlage dieser Überzeugung hat sich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland mehrfach in die jüngste bioethische Debatte eingeschaltet. Er hat bekräftigt: Der menschliche Embryo ist keine bloße Biomasse. Er hat Anteil am Schutz der Würde und des Lebensrechts des Menschen. Eingriffe an menschlichen Embryonen, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nehmen, sind daher nicht zu verantworten - und seien die Forschungsziele noch so hochrangig.

III.
Die evangelische Kirche - wird ebenso wie die anderen christlichen Kirchen - gelegentlich mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei forschungsfeindlich. Dies trifft nicht zu. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat in einer Erklärung vom 22. Februar dieses Jahres ausdrücklich festgestellt:

"In den vergangenen Monaten ist mehrfach der Appell laut geworden, der biologischen und medizinischen Forschung nicht mit einem prinzipiellen Misstrauen zu begegnen, ihr keine unlauteren Motive zu unterstellen und sie nicht pauschal mit vereinzelten unseriösen und verantwortungslosen Stimmen zu identifizieren. Der Rat würdigt ausdrücklich das große Verantwortungsbewusstsein vieler, die in Biologie, Medizin und Forschungspolitik tätig sind. Er sieht in Forschung, Technik und ärztlicher Kunst gute Gaben Gottes, die in verantwortlicher Weise zu nutzen den Menschen aufgetragen ist."

Vieles was in Kliniken und ärztlichen Praxen, was in Labors und anderen Forschungsinstituten im Kampf gegen Krankheit geschieht, entspricht der von Gott gebotenen Liebe zum Menschen.

Es wäre borniert und undankbar, die bewunderungswürdigen Leistungen gerade der medizinischen Forschung zu übersehen. In den vorangegangenen Beiträgen sind die Fortschritte auf Ihrem Fachgebiet, der Gynäkologie, eindrücklich geschildert worden. Auch in anderen Fächern haben die Möglichkeiten der Lebenserhaltung in einem für frühere Zeiten unvorstellbaren Maße zugenommen. Viele Krankheiten, deren Verlauf einst nur als Schicksal hingenommen werden konnte, stellen - zumindest in den reichen Staaten - kaum mehr eine Bedrohung dar. Andere Krankheiten können gelindert, erträglicher gemacht oder in ihren lebensbedrohlichen Auswirkungen eingeschränkt werden. Menschen, die früher auf leibliche Nachkommen verzichten mussten, kann durch die In-vitro-Fertilisation in vielen Fällen zu eigenen Kindern verholfen werden, auch wenn die dazu nötigen medizinischen Eingriffe in den Organismus der Frau aufwendig und für die Frau in vielen Fällen sehr belastend sind. So ist es durchaus verständlich, dass die medizinische und biologische Forschung von großen Hoffnungen auf weitere Erfolge in der Linderung oder Heilung von Krankheiten und Störungen begleitet wird.

Wenn aus kirchlichen Stimmen gelegentlich ein forschungsfeindlicher Ton herausgehört wird, dann hat dies vermutlich damit zu tun, dass in diesen Stimmen gängige Fortschrittspathos nicht geteilt wird. Medizinische und biologische Forschung bleibt, wie jedes andere menschliche Tun, ambivalent. Es genügt darum nicht, die menschliche Neugier, den Zuwachs an Wissen und die innovative Forschung als gute Schöpfungsgaben Gottes zu würdigen. Es ist nicht minder an die Versuchung zur Hybris und an die zerstörerischen Kräfte zu erinnern, die allem menschlichen Streben und Trachten innewohnen. Die Freiheit eines Forschers erweist sich nicht nur im Ausschöpfen seiner Möglichkeiten, sie verwirklicht sich ebenso in der Selbstbeschränkung angesichts der unbedingten Würde jedes einzelnen Menschenlebens.

Es gibt zunehmend Anlass, daran zu erinnern, dass die Medizin trotz der großen Fortschritte und der beachtlichen Erweiterung ihrer Möglichkeiten nicht immer das leisten kann, was von ihr erhofft wird. Die Erwartungen, die sich auf Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod richten, sind vielfach unerfüllbar. Gesundheit und Lebenserwartung scheinen für viele zu den Höchstwerten geworden zu sein, von deren Erreichung und Erhaltung dann der Sinn des Daseins überhaupt abhängig gemacht wird. Damit wird Heilungserwartung faktisch zur fehlgeleiteten Heilserwartung, und umgekehrt werden Krankheit und Tod zur absoluten Bedrohung und Infragestellung des menschlichen Daseins.

Demgegenüber ist für den christlichen Glauben die Unterscheidung zwischen dem irdischen Wohl und dem ewigen Heil wesentlich. Mit ihrer Hilfe kann die Annahme und Verarbeitung der Endlichkeit des Daseins gelingen.

IV.
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mehrfach zu medizin- und bioethischen Fragen geäußert. Als letzter Beitrag ist vor vier Wochen unter dem Titel "Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen" eine von der Kammer für Öffentliche Verantwortung ausgearbeitete Argumentationshilfe veröffentlicht worden (Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen. Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen. Ein Beitrag der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, EKD-Texte 71). Sie werden in diesem Text auch Ausführungen zu einer Reihe von aktuellen Fragen finden, auf die ich in meinem Vortrag aus Zeitgründen nicht näher eingehen kann. Ich nenne exemplarisch nur den Komplex der vorgeburtlichen Diagnostik, mit dem Sie in Ihrer beruflichen Praxis fortwährend zu tun haben. Der Kammer für Öffentliche Verantwortung war es freilich nicht möglich, in allen Punkten zu einer einmütigen, gemeinsam getragenen Position zu kommen. Wo der Dissens nicht überbrückt werden konnte, werden die unterschiedlichen Argumentationslinien nebeneinander dargestellt. Die Kammer hat, wie sie es selbst formuliert, "diese Form der Darstellung ihrer Arbeitsergebnisse gewählt, um die bestehenden Dissense nicht zu verschleiern, sondern durchsichtig zu machen und um damit einen Beitrag zu einer möglichst offenen argumentativen Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Kirche zu leisten" (S. 16).

Dieser offene und ehrliche Umgang mit den in der evangelischen Kirche bestehenden ethischen Dissensen wird all denen besonders sympathisch sein, die sich mit den bisherigen bioethischen Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland nicht oder nicht voll identifizieren konnten. Manche der evangelischen Christen, die als Biologen, Ärzte oder Forschungspolitiker tätig sind, fühlten sich durch Äußerungen dieser Art nicht repräsentiert, ja ins Unrecht gesetzt. Jedoch dürfen die Äußerungen der Leitungsorgane der evangelischen Kirche nicht verwechselt werden mit den autoritativen Verlautbarungen des Lehramts in der römisch-katholischen Kirche. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem vorzusitzen ich die Ehre habe, trägt seine Position in der bioethischen Debatte nicht mit dem Anspruch vor, abschließend darüber bestimmen zu können, was derzeit und künftig als evangelisch zu gelten habe. Er sieht sich verpflichtet, den evangelischen Christen und der Öffentlichkeit eine Hilfe zur ethischen Urteilsbildung zu geben. Vollzogen werden kann die ethische Urteilsbildung aber nur eben in der Entscheidung des Gewissens, jener persönlichen Verantwortung vor Gott, in welche die Christen ihr ganzes Leben und Handeln gestellt sehen. Darum hat die protestantische Tradition immer nur in wenigen Fragen Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit verlangt, nämlich in den Grundfragen des Glaubens, mit denen die Kirche steht oder fällt. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig, dass die kontroversen Standpunkte innerhalb unserer Kirche klar ausgesprochen werden. Das schafft die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Denn wir sollen uns im Dissens nicht einrichten. Wir brauchen vielmehr dringend die fortgesetzte Bereitschaft, aufeinander zu hören, und jedenfalls die ernsthafte Absicht, uns bei besserer Belehrung auch zu korrigieren.