Eingangsstatement beim „Treffpunkt Gendarmenmarkt“ zum Thema Afghanistaneinsatz

Nikolaus Schneider

 Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL titelte unlängst: "Im Krieg" (Ausgabe Nr. 16/2009). Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr wird von der Mehrheit der Menschen in unserer Bevölkerung als Krieg erlebt, erlitten und bezeichnet. Dabei hängt an dem Begriff selbst gar nichts oder sehr wenig. Aber alles oder jedenfalls sehr viel kommt darauf an, wie die Menschen in unserem Land diesen Einsatz wahrnehmen und was sie dabei empfinden.

Eine ganze Reihe von Fragen stellt sich in diesem Zusammenhang, etwa die folgende: Ist diese Intervention notwendig, und wenn ja, in welchem Umfang und mit welcher zeitlichen Begrenzung? Und: Welchen Preis zahlt Deutschland für diesen Einsatz? Damit sind nicht nur die finanziellen Dimensionen gemeint, die ja auch beachtet werden müssen. Sie wissen, sehr geehrter Herr Minister, dass etwa eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) die Kosten des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan mit drei Milliarden Euro pro Jahr beziffert. Wenn dies zutreffen sollte, wären die Kosten dreimal höher als bisher erwartet bzw. von Ihrem Ministerium angegeben. Aber jenseits aller Finanzaspekte steht fest: Jedes einzelne Menschenleben ist ein sehr hoher Preis, und in der Summe ist der Preis vielleicht zu hoch, als dass wir ihn bezahlen könnten. Jeder Sarg, der nach Deutschland eingeflogen werden muss, steht für den unwiederbringlichen Verlust eines Menschen. Ich erwähne auch die verwundeten, an Körper und Seele beschädigten Soldaten und Soldatinnen; ich erinnere an die Traumata, die für viele Jahre bleiben, an die Alpträume, die ein Leben verdunkeln können. Der Preis ist hoch. Vor allem aber müssen wir uns, so denke ich, fragen: Gibt es Hoffnungen, dass das Projekt "Afghanistan" für die Welt und für unser Land gelingen bzw. positiv enden könnte? Das Friedensgutachten 2010 komm ebenso pessimistisch wie klar zu der Aussage: "Die Afghanistanpolitik ist gescheitert."

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat aus mindestens drei Gründen Anlass, dieses Urteil zu überprüfen und im Blick auf seine Voraussetzungen, seinen Gehalt und seine Konsequenzen zu beleuchten. Erstens: Deutsche Soldatinnen und Soldaten sind im Einsatz in Afghanistan. Viele dieser Soldaten gehören der evangelischen Kirche an. Diese Menschen bedürfen unserer Aufmerksamkeit und seelsorglichen Begleitung. Das ist ein notwendiger Dienst, den die EKD ihren Kirchenmitgliedern schuldet. Dazu wird Herr Militärbischof Dr. Martin Dutzmann sich nachher noch ausführlich äußern. Zweitens: Auch Zivilpersonen befinden sich im Dienst in Afghanistan. Die Diakonie Katastrophenhilfe etwa fördert aktuell zwei Projekte. Eines gilt der psychosozialen Versorgung von Kriegsopfern, das andere widmet sich der Förderung einer Mutter-Kind-Klinik in Kandahar. Auch diese Zivilpersonen sind an Leib und Leben gefährdet und bedürfen unserer Zuwendung und Begleitung. Natürlich, das ist aber kein eigener Gesichtspunkt, gilt unsere Zuwendung auch den Familienangehörigen der Soldaten und der Zivilpersonen.

Ein dritter Grund für die EKD, sich mit dem Thema Afghanistan zu befassen, liegt in der Notwendigkeit, in unserer Gesellschaft und für diese Gesellschaft öffentliche Verantwortung wahrzunehmen. Das bedeutet nicht, Politik zu machen an Stelle der Politiker, aber es schließt ein, ethische Maßstäbe aufzustellen, an denen politisches Handeln sich orientieren kann. Die Kirche ist keine politische Partei, hat aber ein ihr aus der Heiligen Schrift auferlegtes ethisches Mandat gegenüber der Politik wahrzunehmen. Deshalb werden in unserer Friedensdenkschrift von 2007 Kriterien entwickelt, die die Legitimität des Einsatzes rechtserhaltender Gewalt im Rahmen eines Konzepts vom gerechten Frieden überprüfen helfen sollen. Dazu wird sich nachher der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Schriftführer Renke Brahms, positionieren. Wir haben ja bereits in unserem "evangelischen Wort zu Krieg und Frieden in Afghanistan" vom Januar dieses Jahres auf der Grundlage des Kriterienkataloges unserer Denkschrift die Auffassung vertreten, dass die Prüfung auf deutliche Defizite hinweist. Wir waren uns darin einig, dass ein bloßes "Weiter so" dem militärischen Einsatz in Afghanistan die friedensethische Legitimation entziehen würde. Und wir sehen auch heute nicht, um noch einmal das Friedensgutachten zu zitieren, welche Erfolgsaussichten ein weiteres Engagement der Bundeswehr in Afghanistan haben kann. Wahrscheinlich sehr geringe.

Ich erinnere an dieser Stelle an die friedensethischen Grundsätze der EKD: Frieden kann nur gedeihen, wo Recht und Gerechtigkeit wachsen, und umgekehrt. Es muss außerdem einen Vorrang der Prävention vor der Intervention und schließlich einen Primat der zivilen vor den militärischen Instrumenten geben.

Und ich weise auf unsere Bitte vom Januar hin: Wir wünschen uns vom Deutschen Bundestag in Entsprechung zur Erteilung eines Mandats für die Bundeswehr einen Beschluss auch zum Einsatz der zivilen Kräfte. Mit einer solchen "zivilen Mandatierung" wäre eine deutlichere öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung der zivilen Anstrengungen verbunden. Die Aufwendungen für das zivile Engagement sollten erkennbar zu denen des militärischen Einsatzes in Beziehung gesetzt werden. Darüber hinaus sollte auch ein Datum verbindlich beschlossen werden, an dem der gesamte Einsatz evaluiert wird. Die EKD wünscht sich also eine umfassende und kritische Prüfung und Bilanzierung dieses Einsatzes, die sich der vom Friedensgutachten aufgeworfenen Frage stellen muss, ob die Afghanistanpolitik, zu der wir Deutschen beigetragen haben, gescheitert ist oder nicht.

Mit großem Interesse habe ich im Friedensgutachten die vom Geist der Skepsis getragene, sehr differenzierte Argumentation wahrgenommen, die in der gegebenen Situation vier Handlungsoptionen für möglich hält, die alle mit jeweils unterschiedlichen Chancen und Risiken behaftet sind. Egal, für welche dieser Optionen man sich entscheidet, ob man also die neue Afghanistanstrategie als letzte Chance sieht, ein rasches Ende aller Kampfoperationen ins Auge fasst, die Verhandlungen mit den Taliban für vordringlich und erfolgversprechend hält oder aber den Kampf um die legitime Staatlichkeit ins Zentrum der eigenen Aktivitäten rücken will, eines dürfte klar sein: Einen Königsweg gibt es nicht, der den Erfolg garantieren und den Frieden in Afghanistan sichern könnte. Insofern gilt Ihnen und der Bundesregierung die Solidarität unserer Kirche. Wir schließen Sie in unsere Gebete ein und hoffen von Herzen, dass Sie Wege finden werden, die zum Frieden führen können.