Religion braucht Kultur. Eine evangelische Position.

Nikolaus Schneider

1. "Religion braucht Kultur"

"Religion braucht Kultur". Das war vor einigen Wochen die Überschrift eines Interviews mit dem französischen Soziologen und Islamforscher Olivier Roy. Roy, Professor am Robert-Schumann-Zentrum des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz, hat darin von einem Phänomen berichtet, das er bei seinen Studien zu gegenwärtigen Formen von Religion beobachtet hat. Ursprünglich hat er das Phänomen im Islam entdeckt, aber er sieht auch Parallelen in manchen Formen des evangelikalen und des römisch-katholischen Christentums. Kurz gesagt, stellt Roy fest: "Alle Religionen, insbesondere die monotheistischen Offenbarungsreligionen, haben sich früher in eine Kultur integriert oder sich mit ihr identifiziert." Die Rede vom "christlichen Abendland" sei ein Anzeichen dafür. Aber es sei vielfach zu beobachten, dass sich die Zeiten geändert haben: "Heute verhält es sich bei den erfolgreichen religiösen Bewegungen anders. Sie lösen sich von den Kulturen ab, in denen sie entstanden sind." Diese Dekulturation ließe sich sowohl bei den islamischen Sufisten und Wahhabiten wiederfinden als auch bei den "born again Christians", den Evangelikalen in den USA. Kurz gesagt, bei den Fundamentalisten jeglicher Religion. Roy plädiert nicht dafür, Religion mit Kultur gleichzusetzen. Aus der Perspektive der Theologie Karl Barths und seiner Kritik am Kulturprotestantismus müsste an dieser Stelle heftig widersprochen werden. Jedoch Oliver Roy plädiert dafür, den Bezug von Religion und Kultur nicht aufzugeben. Das tut er als Soziologe vor allem aus politischen Motiven. Denn er sieht eine Linie, die von der Dekulturation in religiös fundamentalistischen Strömungen zu terroristischen Aktivitäten führt. Er belegt dies zum Beispiel mit den Taliban, die sich nach ihrer Machtergreifung 1996 nicht primär gegen den Westen, sondern gegen die afghanische Kultur gewandt haben. Sie hätten "Drachenspiele, Tierkämpfe, Heiratsregeln verhöhnt und sie durch die Scharia ersetzt, die nichts mit der afghanischen Kultur zu tun hatte".

Ich möchte Ihnen heute aufzeigen, warum ich Roys Grundthese zustimme, dass Religion und Kultur zusammen gehören. Ja, "Religion braucht Kultur". Und, darüber hinausgehend: "Kultur braucht Religion". Und dazu will ich Sie mitnehmen auf den Weg, den die Evangelische Kirche in Deutschland im letzten Jahrzehnt in Sachen Religion und Kultur gegangen ist.

2. "Kunst trotz(t) Armut"

Ich will dabei keinen theologiegeschichtlichen Vortrag über die Entwicklung des Kulturprotestantismus im 19. Jahrhundert halten. Obwohl das auch interessant sein könnte. Mir genügt es, darauf hinzuweisen, dass die Gegenbewegung gegen diesen Kulturprotestantismus, die von Karl Barth, Rudolf Bultmann und anderen geprägte "Dialektische Theologie", dazu geführt hat, dass der Begriff "Kultur" in evangelischer Theologie und Kirche in der Mitte des 20. Jahrhunderts keinen guten Klang hatte.

Dass die Kirche nicht als der kulturpolitische "big player" wahrgenommen wurde, der sie eigentlich immer schon war, liegt zu einem Großteil daran, dass sie sich nicht als solcher präsentiert hat. Diskreditiert durch die Auswüchse des Kulturprotestantismus im vorvergangene Jahrhundert, an den Rand gedrängt durch die alleinige Betonung der Kirche als sozialpolitischen Faktor, geschwächt durch die Fragmentierung ihrer kulturellen Aktivitäten hat die evangelische Kirche im Feld der Kultur eine Lücke gelassen.

In die so geschaffene Lücke sind andere Begriffe eingedrungen. Einer davon war der des Sozialen. Dass die Kirchen eine sozialpolitische Macht waren und sind, ist in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts deutlich genug propagiert worden. Im gemeinsamen Sozialwort der beiden großen Kirchen von 1997 "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" hat dies einen viel beachteten Ausdruck gefunden. Es hat jedoch mit dazu beigetragen, dass - ich vereinfache einmal - "das Soziale" so zu einem Kennzeichen der Kirche geworden ist, dass andere Begriffe in den Hintergrund gedrängt wurden, so auch "die Kultur". Ich persönlich habe nie verstanden, wieso dies als Gegensatz verstanden werden konnte. Beides gehört für mich untrennbar zu dem, was meine Kirche ausmacht. Und beides widerspricht sich auch nicht. Sondern muss miteinander gestaltet werden.

Dass das funktioniert, hat exemplarisch das Projekt "Kunst trotz(t) Armut" gezeigt. Es geht davon aus, dass die Kunst ein ideales Medium ist, "um auf unkonventionelle Art und Weise gesellschaftliche Missstände und soziale Probleme sichtbar werden zu lassen." Angesichts dieser Erkenntnis entstand die Idee, eine bundesweite Wanderausstellung mit Kunstwerken zum Thema Wohnungslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung durchzuführen. Die offizielle Eröffnung fand in Berlin statt; danach wanderte die Ausstellung durch Ost und West, Süd und Nord, von Potsdam nach Köln, von Nürnberg nach Hannover. Im Rahmen der einzelnen Ausstellungen fanden unterschiedliche sozial-politische und kulturelle Begleitveranstaltungen statt. Dies geschah in enger Kooperation mit Kirchengemeinden, diakonischen Einrichtungen und Betroffenenverbänden. Denn es war ihr Anliegen, Armut sichtbar zu machen, ohne sie zu entblößen. Die Ausstellung, von der es übrigens auch einen schönen Katalog in der edition chrismon gibt, hat 28 künstlerische Positionen vereinigt, die sich auf je eigene Weise dem Leben von Menschen ohne Obdach zuwenden. Darunter sind so bekannte Künstler wie Sigmar Polke, aber auch unbekannte wie die Berlinerin Mo, die selbst obdachlos ist. Die Ausstellung hat zum einen dazu beigetragen, dass der Skandal der Obdachlosigkeit öffentlich thematisiert wurde und damit gegen das Vergessen gewirkt. Zum anderen hat es auch eine Dimension der Kunst erschlossen, die dann in Gefahr gerät, wenn die Kunst auf bloß elitär verstandene Zirkel der Hochkultur reduziert wird. Schon Käthe Kollwitz oder Heinrich Zille haben mit ihrer Kunst schonungslos auf soziales Elend und gesellschaftliche Ungerechtigkeit ihrer Zeit hingewiesen. Und auch heute gilt: Kunst ist immer kritisch.

3. "Gestaltung und Kritik"

"Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert", so hieß das Impulspapier, das die EKD 1999 zusammen mit der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) herausgegeben hat und mit dem wir den Konsultationsprozess Protestantismus und Kultur initiiert haben. Dort hieß es programmatisch: "Die Kirchen behalten eine wichtige kulturelle Rolle; im kulturellen Wandel wachsen ihnen auch neue Aufgaben zu. Es kommt darauf an, dass sie sich nicht in die Nische verkriechen, sondern in Auseinandersetzung mit der Kultur der Gegenwart eine spezifische kulturelle Gestalt annehmen. Sie haben zugleich die Entwicklung der Kultur kritisch zu begleiten und wie in den vergangenen 2000 Jahren christlicher Geschichte kulturprägend zu wirken."

Damit war die Richtung vorgegeben, die sich im nun folgenden spannenden Konsultationsprozess mehr und mehr abzeichnen sollte: Kirche und Kultur sind keineswegs deckungsgleich, sie haben ein oft spannungsvolles Verhältnis miteinander, bei dem auch die Unterschiede deutlich werden. Kirche und Kultur gehören aber ganz untrennbar zusammen und können nicht ohne Schaden voneinander geschieden wahrgenommen werden. Weder einer unüberbrückbaren Differenz noch einer unterschiedslosen Identifizierung soll also das Wort geredet werden. Gerade weil die Kunst autonom ist und bleiben muss, kann sie der Kirche Impulse geben. Dies gilt für die explizite künstlerische Beschäftigung mit religiösen Themen wie für eine scheinbar säkulare Kunst, die der Kirche doch durch ihre Beobachtung und Verarbeitung menschlicher wie gesellschaftlicher Phänomene eine Inspiration im Sinne einer "Fremdprophetie" sein kann. Kultur ist der "Spielraum der Freiheit", so hat es Dietrich Bonhoeffer einmal formuliert. Das gibt der Kirche die Möglichkeit, sich einen Raum zu eröffnen, in dem ihr eine Begegnung mit der Freiheit ermöglicht wird, die sie in anderen Räumen nicht hat. Das doppelte Ziel des damaligen Konsultationsprozesses - ein gemeinsames Wort des Rates der EKD und des Präsidiums der VEF sowie die Begegnung zwischen Kirche und Kultur im Prozess selbst - ist allerdings nur zum Teil eingelöst worden: und zwar mit der Kulturdenkschrift.

4. "Räume der Begegnung"

Die Denkschrift ist im Jahr 2002 unter dem Titel "Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive" erschienen, sie hat Wichtiges formuliert, und ich wünsche mir, dass dieses Wichtige, dieser nicht zu unterschätzenden Meilenstein im Verhältnis von Protestantismus und Kultur in noch stärkerem Maße wahrgenommen wird als bisher.

Ich wünsche mir dies auch deshalb, weil wir in der evangelischen Kirche eine ungute Tradition haben, dass sich die verschiedenen Bereiche evangelischer Kulturarbeit nicht miteinander, sondern nebeneinander oder gar gegeneinander entwickelt haben. Da gibt es das filmkulturellen Zentrum des GEP in Frankfurt. Da gibt es den Arbeitskreis Kirche und Theater. Da gibt es den Verband evangelischer Kirchenchöre in Deutschland. Und und und. Es gibt Beauftragte, Projekte, Verbände, Vereine. Viele davon haben eigene Publikationsorgane, eigene Preise, eigene Internet-Seiten. Alles gut, alles richtig. Aber ohne eine Vernetzung auch wieder so richtig, dass es schon fast wieder falsch ist. Die Denkschrift "Räume der Begegnung" hat den Impuls gegeben, alle kulturellen Äußerungen der Kirche auch wirklich unter dem Oberbegriff der Kultur zusammenzufassen.

Im Vorwort der Denkschrift heißt es: "Kirchen sind Räume der Begegnung, auch der Begegnung zwischen Religion und Kultur. Sie bieten die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen. Wir brauchen solche Begegnungen, um uns in der Welt immer wieder neu zu orientieren. Wir brauchen sie schon, um zu verstehen, wer wir sind." Dass dazu auch überraschende Einsichten hilfreich sind, machte die Denkschrift an verschiedenen Beispielen aus dem Bereich von Kunst und Kultur deutlich, wobei sie forderte, "die Beheimatung im Eigenen mit dem Respekt vor dem Fremden zu verbinden, eine Kultur der Differenzen zu entwickeln, sich von der Wirkmächtigkeit des Trivialen zum Ernstnehmen des Rituellen veranlasst zu sehen [und] die Begegnung mit den Künsteln zu riskieren."

An zentraler Stelle in der Denkschrift steht die Leitfrage: "Was sind mögliche Leitlinien für christliche Orientierung und kirchliches Handeln in einer Welt kultureller Pluralität?" Oder, anders gefragt: "Worin bestehen die Prioritäten kirchlichen Handelns in einer Zeit sich verschärfender kultureller Pluralität?"

Darauf hat die EKD eine dreifache Antwort gegeben. In der Denkschrift heißt es wie folgt: Es geht erstens darum, "das eigene Erbe ernst zu nehmen", also die "Beheimatung im Eigenen mit dem Respekt vor dem Fremden zu verbinden". Es geht zweitens darum, "sich um eine erneute Inkulturation des christlichen Glaubens zu bemühen", und das heißt auch: "eine Kultur der Differenzen zu entwickeln und sich von der Wirkmächtigkeit des Trivialen zum Ernstnehmen des Rituellen veranlasst zu sehen". Die dritte Leitlinie, die in der Denkschrift entwickelt worden ist, beschreibt die Kirchen als ganz konkreten Raum der Begegnung, nämlich der "Begegnung mit den Künsten". Es ist also Aufgabe der Kirche, "den Künsten eine Muse zu sein."

Wir haben jedoch im Laufe des Konsultationsprozesses bemerkt, dass die Begegnungen zwischen Kirche und Kultur sich nicht direktiv steuern lassen, sondern Gelegenheit und Zeit zu ihrer eigenen Entfaltung brauchen. Deshalb ist die Denkschrift nicht als Abschluss einer Entwicklung, sondern als Startschuss für eine neue Entwicklung zu verstehen.

5. "Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit"

Diese Leitlinien haben den Ton vorgegeben für das, was mit dem Anfang 2006 geschaffenen Kulturbüro und der zu diesem Zeitpunkt berufenen Kulturbeauftragten des Rates der EKD, Frau Dr. Petra Bahr, umgesetzt worden ist. Das Arbeitsfeld Protestantismus und Kultur hat sich weiter entwickelt und als das Kulturbüro der EKD in Berlin seine Arbeit aufgenommen hat, gab es so manchen, der gefragt hat: Kann sich die Kirche so etwas leisten? Kann die Evangelische Kirche in einer Zeit, in der wir auch in der Kirche die Auswirkungen der Finanzkrise deutlich spüren, es wagen, ein neues Büro zu eröffnen und eine neue Aktivität zu entfalten? Auf diese Frage gab es meines Erachtens nur eine Antwort: Ja, die EKD konnte es wagen und sie musste es wagen. Natürlich war es ein Wagnis, aber ein Wagnis, das sich lohnt. Gerade in einer Zeit, die von Sparbeschlüssen und Kürzungen geprägt ist, hat die EKD ein eindeutiges Signal gesetzt: Wir investieren in Kultur. Investition, das ist mir wichtig, keine Subvention. Kultur ist Lebensmittel, nicht Luxus, und sich hier - auch finanziell - zu engagieren steht einer Kirche wie der EKD gut zu Gesicht.

Nach vier Jahren Arbeit (Sie kennen das Bonmot von Karl Valentin: "Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit") - nach vier Jahren Arbeit ist deutlich geworden, dass die Einrichtung des Kulturbüros und die Berufung von Frau Dr. Bahr als Kulturbeauftragte der EKD als "Erfolgsgeschichte" bezeichnet werden muss. Im Rat der EKD sind wir der Meinung: Eine Fortsetzung des eingeschlagenen Wegs wird die kulturelle Präsenz des deutschen Protestantismus weiter stärken.

6. "Schattenkultur"

Und auch in der Evangelischen Kirche im Rheinland treiben wir den "Dis-Kurs: Kirche und Kultur" aktiv voran. Schon 2004 haben wir mit einer ersten Kulturbörse in unserem Kulturforum FFFZ Impulse gegeben. Sie ist vom FFFZ-Leiter Jürgen Jaissle ebenso in einem schönen Band dokumentiert wie die beiden weiteren Kulturbörsen 2006 und 2007. Und wir haben uns zusammen mit der Evangelischen Kirche von Westfalen durch das gemeinsame Kulturbüro unter Leitung von Pfarrer Andreas Volke und Pfarrer Andreas Isenburg aktiv in die Vorbereitung und Durchführung des Kulturhauptstadtjahres 2010 in Essen eingebracht. Hier in Essen vom Kulturhauptstadtjahr 2010 zu berichten, wäre jedoch so überflüssig wie Eulen (nicht: Euros!) nach Athen zu tragen.

Ich will jedoch ein Projekt explizit erwähnen, weil ich es wirklich großartig finde: Die "Schattenkultur". Hierbei handelt es sich um ein Gefängnisprojekt im Alten Hafthaus Moers, das die Frage nach dem Strafvollzug modellhaft für alle im gesellschaftlichen Schatten lebenden Gruppen stellt. Das Alte Hafthaus in Moers wird durch Objekte von Gefangenen aus NRW und internationalen Justizvollzugsanstalten zu einem Gesamtkunstwerk. Der Strafvollzug und das unmittelbare Erleben eines Gefängnisses werden zum Gegenstand der Suche nach einem erweiterten Verstehen von Kultur. Denn ein Gefängnis ist kein gottverlassener Raum. Auch im sozialen Gefüge einer Haftanstalt stellt sich die Kirche mit ihrer Seelsorge an die Seite jedes einzelnen Menschen. Sie unterstützt die Kultur, die Menschen in- und außerhalb von Gefängnissen befähigt, sich wahrzunehmen, einander zu begegnen und an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen. Auf vier Ebenen werden besondere "Räume der Begegnung" eröffnet: "SeelenRäume", "TraumRäume", "HerzRäume" und "Informationsräume".

Mich berührt besonders ein Beitrag der JVA Siegburg zur "Schattenkultur". Die jungen Gefangenen haben in einem "Bilderwald" aus Pastellbildern Fragen nach ihrer eigenen Identität künstlerisch thematisiert: "Wer bin ich? Was macht mich aus? Welches Gesicht von mir zeige ich meinem Gegenüber? Welches zeige ich mir selbst? Wer bin ich im Licht und Schatten meines Lebens? Was ist Wahrheit? Was ist Maske?" Die Fragen nach der eigenen Geschichte, den aktuellen Bedürfnissen und Sehnsüchten wurden umgesetzt in Linien und Flächen, Rundungen und Kanten, in angriffslustige Strichführung und verwischte Konturen. Inspiriert wurden die Insassen der Justizvollzugsanstalt durch den Text Dietrich Bonhoeffers "Wer bin ich?" Bonhoeffer hat diesen Text geschrieben, als er selbst 1944 im Gefängnis in Berlin-Tegel saß. Es ist ein Text, der exemplarisch Theologie und Kultur verbindet, ein künstlerische Auseinandersetzung mit einer religiösen Frage - und das alles vor dem Hintergrund der eigenen Gefangenschaft. Er ist mir in meiner persönlichen Lebensgeschichte so wichtig geworden, dass er als großes Faksimile an der Wand meines Büros hängt. Ich zitiere Bonhoeffers großes Frage und seinen Antwortversuch auszugsweise:

"Wer bin ich?
Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß. [...]
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe [...]?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
[...] Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!"

7. "Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht"

Es ist vielleicht ein etwas scharfer Bruch, wenn ich mich nach Bonhoeffer nun dem Deutschen Kulturrat zuwende, dem Spitzenverband der 210 Bundeskulturverbände. Ich bleibe aber auf dem Weg der Stärkung der kulturellen Präsenz des Protestantismus. Vor drei Jahren hat der Deutsche Kulturrat ein Buch veröffentlicht, das eine gleichzeitig kritische und ermutigende Zwischenbilanz in dieser Frage gezogen hat. Es trägt den Titel "Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht".

Für alle, die in und mit der Kirche arbeiten, ein durchaus provokanter Titel. Ist nicht die gerade die Kirche einer der prominentesten öffentlichen Kulturträger? Geben die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen nicht jährlich enorme Geldsummen für ihr kulturelles Engagement aus? Gibt es nicht viele tausende haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirche, die sich in den Bereichen Literatur oder Architektur, Kirchenbau und Denkmalpflege engagieren? Sind nicht gerade viele Citykirchen zu Räumen der Begegnung mit der bildenden und darstellenden Kunst geworden? Macht nicht gerade die Kirchenmusik mit ihrer Vielzahl von Veranstaltungen und Impulsen die Kirche zu einem big player im Feld der Kultur?

Und dennoch bezeichnet der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, die Kirchen als "eine weitgehend unbekannte kulturpolitische Macht in Deutschland". Selbstkritisch gesteht er ein, dass dies auch eine Frage der Wahrnehmung ist, und dass auch der Kulturrat selbst die Bedeutung der Kirchen nicht angemessen gewürdigt hat. Er nennt sechs Gründe, warum der Kulturrat sich zu dem Unterfangen entschlossen hat, die Kirche als "einen der bedeutendsten Orte der Kultur" zu benennen:

  1. Gesellschaft und Kirche.
    Zimmermann stellt grundsätzlich - und wie ich finde, sehr zu Recht - fest: "Die Wirkungen der beiden großen christlichen Kirchen auf das kulturelle Leben in Deutschland [...] beschränken sich nicht auf die Mitglieder der Kirchen, sondern haben ein universelles gesellschaftliches Gepräge."
  2. Kulturförderung und Kirche.
    Die beiden großen Kirchen wenden ca. 4,4 Milliarden Euro jährlich für die Kulturförderung auf und liegen damit auf einer Ebene mit den Bundesländern (3,4 Mrd) und den Kommunen (3,5 Mrd). Das ist eine beeindruckende Zahl, derer wir uns auch in der Kirche erst einmal bewusst werden mussten. Und sie bezieht sich auf real investiertes Geld und konkrete Arbeit, nicht auf fiktive Kalkulationen.
  3. Künstler und Kirche.
    Ein Blick in die Geschichte zeigt Zimmermann: "Die Kirchen haben die Künste über viele Jahrhunderte geprägt, befördert und behindert. Sie waren und sind, heute in erheblich kleinerem Auftrag als früher, Auftraggeber für Maler, Bildhauer und Komponisten. Viele dieser Auftragswerke sind heute der Kanon unserer Kunst."
  4. 4. Kunst und Kirche.
    Ein nicht immer spannungsfreies Verhältnis. "Kunst in der Kirche hat einen Auftrag: Verkündigung" - so formuliert es Zimmermann und fügt als Gegenpart hinzu: "Zeitgenössische Kunst will oft ‚auftragslos' sein." Diese Spannung prägt alle, die im Bereich Kirche und Kultur arbeiten. Sie ist nicht nach der einen oder anderen Seite aufzulösen.
  5. Sichtbarkeit der Kirche.
    45.000 Kirchen, davon etwa die Hälfte evangelisch, prägen das Gesicht des Landes, etwa 100.000 Glocken legen ein oft unüberhörbares akustisches Zeugnis davon ab. Zimmermann sagt zu Recht: "Ein Dorf ohne Kirche ist kein richtiges Dorf." Und für die Stadt gilt das - wenn auch anders - ebenfalls.
  6. Er fügt ein weiteres, sechstes Argument an und nennt es "Persönliches", ich zitiere: "In meiner Kindheit gab es nur einen kulturellen Ort, die Kirche in der Nachbargemeinde. Diese Kirche, Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut, ist eine der wenigen Rundkirchen nördlich der Alpen und die Einzige, die ich kenne, bei der sich der Altar in der Mitte des Raumes befindet. Im Inneren der Kirche bestimmen zehn dicke, gekehlte Säulen das Bild, die in ihrer Einfachheit, ohne jede Verzierung für mich noch heute das Sinnbild für Protestantismus sind. Diese Kirche bestimmte das Leben von drei Gemeinden. Optisch, stolz sichtbar in die hügelige Landschaft des nördlichen Taunus gelegen, als Kristallisationspunkt in der sonst eher unübersichtlichen Gegend. Und inhaltlich als der Ort der Musik, der Orgel, des Gesanges und der Besinnlichkeit und des Denkens. Andere kulturelle Orte gab es nicht."

Ein sehr interessanter Punkt, wie ich finde. Denn er zeigt ein Grundproblem auf: Offensichtlich ist der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats bereits seit seiner Kindheit mit der Kirche als Kulturträger in Berührung gekommen. Aber das hat ebenso offensichtlich nicht dazu geführt, dass er "die Kirche" als kulturpolitischen Faktor ernst genommen hat. Bevor wir das allzu schnell auf ein subjektives Wahrnehmungsproblem zurückführen, sollten wir überlegen, woran das gelegen haben könnte und welchen Anteil wir als Kirche daran haben könnten.

"Kultur ist der Spielraum der Freiheit"

"Kultur ist der Spielraum der Freiheit", so habe ich vorhin Dietrich Bonhoeffer zitiert. Denn Kultur ist das Experimentierfeld des Möglichen. Kunst und Musik, Literatur und Theater führen ins Weite, wenn sie von anderen Welten oder von dieser Welt anders erzählen. Zugleich braucht Kultur "Freiräume des Unverfügbaren", in denen kulturelle Experimente gelingen können. So hat es die Enquêtekommission des Bundestages "Kultur in Deutschland" formuliert. Kirchen sind Räume, die das Ohr und den Blick in die Weite führen. Ihre Geschichten und Gesänge weisen über den Tellerrand hinaus. Jenseits des Tellerrandes eröffnen sie "Räume der Begegnung", die Gläubigen und Gottsuchern, Künstlerinnen und Kulturinteressierten gemeinsam gehören.

Und es ist aus meiner Perspektive kein Zufall, dass in diesem Bonhoeffer-Zitat die "Kirche der Freiheit" anklingt. So lautete ja der Titel des Perspektivpapiers des Rates der EKD für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Freiheit ist also das Leitmotiv, von dem her nicht nur der Blick auf die Kultur, sondern alle Überlegungen zu den Perspektiven der evangelischen Kirche verstanden werden müssen. Nur wer die Freiheit im Blick behält, kann den gegenwärtigen Chancen und Herausforderungen so begegnen, dass ein evangelisches Profil im Umgang mit der Zukunft gewahrt bleibt. Die "Freiheit eines Christenmenschen" ist schon seit Martin Luther ein Grundelement des evangelischen Menschenbildes. Nach Luther gilt für diese Freiheit sowohl der eine Satz "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan" als auch der andere Satz: "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Der Mensch wird durch die Gnade Gottes selig und frei von Zwängen und Verpflichtungen und gleichzeitig durch den Glauben an Gott und Jesus Christus als dessen Sohn rechtschaffend, um aus freier Liebe Gott und seinem Nächsten zu dienen.

Das vor uns liegende Jahr 2011 ist innerhalb der Lutherdekade bis zum Reformationsjubiläum 2017 als Themenjahr "Reformation und Freiheit" designiert worden. Es wird viel Material zu diesem Thema geben, eine Reihe von Veranstaltungen sind geplant, darunter auch der große Kirchenkulturkongress der EKD "Kirche. Freiraum. Kultur" im Herbst des nächsten Jahres. Ich bin sehr gespannt darauf, wie der Satz von der Kultur als Spielraum der Freiheit dort mit Leben erfüllt werden wird.

"Kultur braucht Religion"

Weil evangelische Kirche in der Freiheit das bestimmende Motiv ihres Denkens und Handelns sieht, engagiert sie sich in der und für die Kultur. So muss klar bleiben, dass das bekannte Diktum Friedrich Schleiermachers zu Beginn des 19. Jahrhunderts "Soll denn der Knoten der Geschichte so aufgehen - die Wissenschaft mit dem Unglauben und die Religion mit der Barbarei?" nicht nur auf die Wissenschaft, sondern auch auf die Kultur bezogen ist: So wie die Religion ohne Wissenschaft der Barbarei anheimfallen würde, so würde sie auch ohne Kultur nur barbarisch genannt werden können. Umgekehrt würde auch der Kultur etwas Entscheidendes fehlen, wenn sie auf die Religion verzichten zu können meinte.

Das "Weltkulturerbe Glaube, Liebe, Hoffnung" ist hier genauso zu nennen wie die vielfachen Beispiele aus Geschichte und Gegenwart, in den die Kirche den Künsten eine Muse sein konnte. Weil Kirche im öffentlichen Raum zu verorten ist, kann sie dem "dramatischen Verlust des Öffentlichen" (Hannah Arendt) begegnen, wenn sie sich in den öffentlichen Raum verlängert und dadurch Schwellenängste abgebaut werden können. Dabei ist es eine immer wieder neu zu führende Debatte, wie weit sich Kirche in diesen Zwischenraum begibt, der durch den Kirchenraum einerseits und säkularisierter Öffentlichkeit andererseits entsteht. Zu den Fragen für diese Debatte gehört beispielsweise, wie Gemeinden neugierig gemacht werden auf zeitgenössische Kunst. Es gehört dazu, wie die Kirche erkennbar bleiben kann in der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk. Es gehört dazu, wie der innere Zusammenhang des Ortes oder der theologischen Idee stimmig gestaltet werden kann.

Daraus lassen sich konkrete Forderungen ableiten: bessere Netzwerke zwischen den Gemeinden und den Kunstschaffenden beispielsweise oder eine Investition in gute religiöse und ästhetische Bildung vom Kindesalter an. Die evangelische Kirche investiert bereits jetzt in die Kultur und sie wird es auch weiterhin tun. Die Kirche ist ein aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenkender kultureller Faktor. Und deshalb ist Olivier Roys These, dass Religion immer Kultur braucht, sowohl zu bestätigen, als auch zu ergänzen: Religion braucht Kultur. Und Kultur braucht Religion.