„Hoffnung auf dünnem Eis“

Nikolaus Schneider, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur EKD-Reise nach Afghanistan

Anlässlich der Rückkehr seiner gemeinsamen Reise mit dem Friedensbeauftragten der EKD, Renke Brahms, und dem evangelischen Militärbischof, Martin Dutzmann, aus Afghanistan, erklärte der Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider:

„Nichts ist gut in Afghanistan" – dieser Satz meiner Amtsvorgängerin Margot Käßmann hat vor gut einem Jahr eine breite und lange fällige Debatte in Deutschland ausgelöst. Ich habe damals bedauert, dass in der Öffentlichkeit nicht immer an erster Stelle das seelsorgliche Anliegen deutlich wurde, das uns damals bewegte. Uns alle trieb die Sorge um die Sicherheit, um Leib, Leben und Wohlergehen der in Afghanistan tätigen deutschen Soldatinnen, Soldaten und Zivilpersonen um. Das galt damals, und das gilt auch heute.

Gestern sind der Friedensbeauftragte der EKD, der evangelische Militärbischof und ich aus Afghanistan zurückgekehrt. Wir haben die in Afghanistan stationierten deutschen Soldatinnen und Soldaten besucht, und wir sind mit Vertreterinnen und Vertreter staatlicher und nichtstaatlicher Hilfsorganisationen zusammengetroffen. Auf unserer Reise hatten wir unmittelbaren Kontakt mit Soldatinnen und Soldaten aller Dienstränge. Wir haben in intensiven Gesprächen von ihren Aufgaben, ihren besonderen Belastungen und ihren Nöten erfahren.

Wahrzunehmen und zuzuhören – das war der wichtigste Zweck unserer Reise. Zudem gilt: Viele Soldatinnen und Soldaten sind unsere Gemeindeglieder, und gute Pfarrer besuchen ihre Leute! Die Gespräche haben uns außerordentlich beeindruckt. Ich war angetan davon, wie intensiv Angehörige der Bundeswehr ihren Einsatz und ihre persönliche Situation reflektierten. Allerdings äußerten sie sich immer wieder bitter und enttäuscht über das geringe öffentliche Interesse hier in Deutschland an ihrer Situation. Die Soldatinnen und Soldaten haben den Eindruck, dass auf ihrem Rücken sehr häufig politische Streitigkeiten ausgetragen werden, die nichts mit ihnen zu tun haben.

Klar ist: Die Angehörigen der Bundeswehr bedürfen gerade angesichts ihrer besonderen Situation dort unserer aufmerksamen und umfassenden seelsorglichen Begleitung. Deshalb danke ich der Seelsorge in der Bundeswehr ausdrücklich für ihren wichtigen und gefährlichen Dienst in Afghanistan und bei anderen Auslandseinsätzen der Bundeswehr! In diesem Zusammenhang war es mir sehr wichtig, mit den Soldatinnen und Soldaten Gottesdienst zu feiern. Gottes Wort gehört auch in diese Situation. Im Abendmahl haben wir geschwisterliche Gemeinschaft erfahren.

Wir haben auch mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener ziviler Organisationen in der Stadt Mazar-i-Sharif gesprochen. Ich war positiv überrascht, wie viel dort geschieht. So konnte ich einen Baum vor einer neuerbauten Schule in Mazar-i-Sharif pflanzen. So habe ich gerne zur Kenntnis genommen, dass es eine Organisation gibt, die die Errichtung und den Betrieb von Frauenhäusern in Afghanistan organisiert und vorantreibt. So haben wir einem Vertreter der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission getroffen, der von zwar bescheidenen aber stetigen Erfolgen in der Zusammenarbeit mit der afghanischen Regierung berichtete.

In Afghanistan habe ich eine neue Sicht auf das Thema „Sicherheit“ gewonnen. Die Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zivilen Organisationen sagten uns, dass es zurzeit noch nötig ist, dass die Bundeswehr mithilft, Sicherheit in der Fläche zu gewährleisten. So kann die zivile Aufbauarbeit beginnen. Das ist gut. Auf Dauer aber kann nur eine andere Art von Sicherheit nachhaltig wirken. Diese andere Sicherheit heißt, dass die Aufbauarbeit von der afghanischen Bevölkerung gewollt und mitgetragen wird. Diese nachhaltige, langfristige Art von Sicherheit kann von der Bundeswehr nur vorbereitet, aber nicht erzeugt und garantiert werden.

Deswegen ist es wichtig, dass die vollständige Übergabe der militärischen und polizeilichen Sicherheitsaufgaben von der Bundeswehr an die afghanischen Kräfte bald vollzogen werden kann. Die optimistischen Berichte von den deutschen Ausbildern der afghanischen Polizei haben wir mit Interesse gehört. Generell gilt: Der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan muss verantwortlich angegangen werden, und er muss bald angegangen werden. Fast zehn Jahre ist die Bundeswehr im Land. Deutsche Soldaten dürfen nicht zu Besatzern werden!

„Nichts ist gut in Afghanistan?“ – Ich sage unmittelbar nach der Rückkehr von dieser Reise: Es gibt Hoffnung in Afghanistan – aber es ist Hoffnung auf dünnem Eis. Das heißt: Allen Hoffnungszeichen zum Trotz kann die Mission auch scheitern. Das haben wir bei allen Gesprächspartnern – den militärischen und zivilen – deutlich gehört. Deswegen kommen wir nicht ohne Hoffnung zurück, aber keineswegs sorgenfrei, denn das Eis kann brechen.

Düsseldorf/Hannover, 6. Februar 2011

Pressestelle der EKD
Reinhard Mawick