60 Jahre Montanmitbestimmung - Die Würde des Menschen im Zentrum der Arbeit

Nikolaus Schneider

60 Jahre Montanmitbestimmung - das ist wirklich ein Grund zu feiern. Sie gehört zum deutschen Sozialstaat und prägt unseren Wirtschaftsstil. Sie erfüllt eine bedeutsame friedensstiftende Funktion. Durch sie ist eine wesentliche Voraussetzung für Verständigung und Partnerschaft in Wirtschaft und Gesellschaft im zerrütteten Nachkriegsdeutschland geschaffen worden. Sie stellt ein wirksames Mittel dar, das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital in den Unternehmen ein Stück weit auszugleichen. Und sie steht für das höchste bisher erreichte Niveau der Partizipation der abhängig Beschäftigten.

Die Evangelische Kirche in Deutschland steht zur Mitbestimmung. Sie hat sich schon früh für eine entsprechende Ordnung stark gemacht. Ihr ging es um wirkliche Partnerschaft zwischen allen Beteiligten in den Unternehmen; darum, dass aus dem Untertan des preußischen Obrigkeitsstaates ein mündiger Bürger auch in der Wirtschaft werden sollte. Diese Aufgabe bleibt uns allen aufgetragen.

Eine lebendige Mitbestimmungskultur in Deutschland kann in ihrem gesellschaftspolitischen Wert gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, fördert sie doch demokratische Verhaltensweisen ebenso wie sie der Kontrolle wirtschaftlicher Macht dient. Die Vertreterinnen und Vertreter der Mitarbeiterschaft übernehmen Verantwortung für das Wohlergehen des Unternehmens, so dass der antagonistische Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, der Ausdruck eines von Feindschaft geprägten Verhältnisses wäre, nicht mehr bestehen kann. So leistet die Montanmitbestimmung einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des sozialen Friedens.

I. Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft in evangelischer Perspektive - Wahrung von Personalität und Würde des Arbeitenden

Warum macht sich die Evangelische Kirche für eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen stark? Das kirchliche Anliegen bei der Mitbestimmung machte schon der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in einem Votum auf dem Essener Kirchentag im August 1950 deutlich (1). Dort meldete er sich erstmals ausdrücklich zu Fragen der Mitbestimmung zu Worte. Der Leitgedanke war damals, dem Arbeitnehmer in den Unternehmen die Übernahme "christlicher Mitverantwortung" zu ermöglichen.

Es ging um die Freiheit des Einzelnen gegenüber den Massenstrukturen der modernen Gesellschaft. Christliches Anliegen ist es, den Menschen auch in der Wirtschaft und im Produktionsprozess zuvorderst als Person im Blick zu behalten, ihm sein Person-Sein zu bewahren. Zur Wahrnehmung von persönlicher Verantwortung braucht der Mensch Raum und Möglichkeiten und Chancen zur Kommunikation. Im Mittelpunkt steht die Würde des arbeitenden Menschen. Er darf auch und gerade in der Wirtschaft nicht als reines Mittel zum Zweck gebraucht oder zum Kostenfaktor reduziert werden.

Mitbestimmung wurde also weniger in ordnungspolitischer Perspektive verstanden, denn als eine Frage der tatsächlichen Zusammenarbeit der Menschen in den einzelnen Bereichen der modernen Gesellschaft. Die Betonung liegt auf der "Würde des Humanum", wie es der Theologe Helmut Thielicke (2) damals formulierte. Die Mitbestimmungsordnung soll es der Arbeitnehmerschaft ermöglichen, das "bloße Lohnarbeitsverhältnis zu überwinden", um zu echter Partnerschaft zu gelangen.

Dieses Denken hatte durchaus Tradition, auch wenn man zugeben muss, dass es oft Einzelne Protestanten waren, die sich mutig vorwagten und denen die Kirchen nicht sogleich folgten. Der liberale sächsische Pfarrer Friedrich Naumann forderte bereits 1884 - in Übereinstimmung mit anderen Protestanten - selbstkritisch zur Überwindung des christlich geprägten Patriarchalismus in den Unternehmen auf. Ihm ging es um die Durchsetzung einer wirksamen Kapitalbeschränkung, um so die Position der Arbeiterschaft zu stärken. Auch wenn Naumann diesen Gedanken zunächst noch nicht konkretisierte, so wird doch deutlich, dass bei ihm schon sehr früh " zumindest implizit die Einforderung des Mitbestimmungsgedankens zu erkennen ist". (3)

Später sprach Naumann sich dann explizit für ein Mitbestimmungsmodell aus, ausgehend von der Vorstellung von Arbeit als einer Gemeinschaftsleistung. Er forderte "eine partizipativ verfasste, kollektivrechtlich geordnete Struktur der Arbeitswelt ein", wobei er zugleich eine rechtliche Absicherung der Gewerkschaften verlangte. Mitbestimmungsrechte in der Arbeitswelt hielt Naumann außerdem für "notwendig zur Einübung von demokratischen Verhaltensmustern auch im Alltag". (4)

Ähnliche Überlegungen stellte Eduard Heimann, der sozial- und wirtschaftspolitische Theoretiker des religiös-sozialistischen Kairos-Kreises der 1920er Jahre, an. Er trat grundsätzlich für "das Ende des Betriebsabsolutismus, der Kapitalherrschaft, des auf die Arbeit angewendeten Marktprinzips" (5) ein. Er machte sich sogar für eine Selbstbestimmung der Arbeitenden stark, wobei es ihm vor allem um die selbstverantwortliche Gestaltung des Arbeitsumfeldes und den Ausbau der Arbeiterrechte in den Betrieben ging.

Deswegen bestand in unserer Kirche nach dem 2. Weltkrieg kein Zweifel an der Notwendigkeit einer rechtlichen Ordnung der Mitbestimmung. Kontrovers diskutiert wurde allerdings die Frage, wie die Arbeitnehmervertretung personell zusammenzusetzen wäre. Die evangelischen Experten waren sich auf dem Kirchentag 1950 einig darin, dass in "erster Linie die Angehörigen des Betriebes selbst zur Mitverantwortung berufen" (6) seien. Durch Schulungen sollte ein "organisches Hineinwachsen der Beteiligten in die Aufgaben der freien Vereinbarungen" sichergestellt werden.

Den Arbeitnehmerorganisationen wurden deswegen vor allem ergänzende Funktionen zugeschrieben. Ihre Rolle sollte darin bestehen, die Betriebsangehörigen zu aktivieren und die betrieblichen Arbeitnehmervertreter für ihre zukünftigen Aufgaben in den Mitbestimmungsgremien auszubilden, damit diese kompetent die neu erlangte soziale Verantwortung ausfüllen können. Diese Vorstellungen wurden später noch weiterentwickelt.

Die Etablierung von Mitbestimmungsstrukturen in den Unternehmen beflügelte ebenfalls die Arbeit der in der Nachkriegszeit entstehenden evangelischen Akademien sowie der evangelischen Industrie- und Sozialarbeit in den Landeskirchen. (7) Diese legten Programme für den Dialog und die Verständigung zwischen den Sozialpartnern auf. Für dieses neue Engagement der Partnerschaftsförderung stehen auf Seiten der Evangelischen Kirche Namen wie Klaus von Bismarck für die westfälische Kirche und Friedrich Karrenberg für die rheinische sowie Eberhard Müller für die württembergische Kirche.

Es ging darum, der Würde des Arbeiters und der Arbeiterin durch institutionelle Neuerungen in Arbeitswelt und Wirtschaft mehr Geltung zu verschaffen. Mehr Partizipation, Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung waren höchst aktuelle Themen, auch in den Diskussionen im kirchlichen Raum.

Folglich wird man nüchtern sagen müssen: Eine Mitbestimmung der Gewerkschaften im Aufsichtsrat eines Unternehmens war in der Kirche in der frühen Nachkriegszeit noch nicht in Sicht. Das Interesse an einer kollektiven Vertretung der Arbeitnehmer in Betrieb und Unternehmen stand in kirchlichen Gremien noch nicht auf der Agenda. Doch bei dieser Haltung ist es schon Anfang der sechziger Jahre nicht geblieben.

II. Die Mitbestimmungsdebatte - Partnerschaft, Konflikte und soziale Gerechtigkeit

Denn im Jahre 1968 erscheint die Mitbestimmungsstudie des Rates der EKD unter dem Titel "Sozialethische Erwägungen zur Mitbestimmung in der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland".

Der Leitgedanke der Personenwürde des Menschen in der Arbeit und der Anspruch einer echten Partnerschaft auf Augenhöhe mit der Betriebs- und Unternehmensleitung behalten ihren zentralen Stellenwert. Unverändert auch die Einschätzung, wonach der "Sinn des Eigentums verkehrt (würde), wenn das Eigentumsrecht so gestaltet wäre, dass Menschen dadurch ihre Verantwortungsfähigkeit und Freiheit verlören" (8) - was dann der Fall wäre, wenn das produktive Eigentum in wenigen Händen liegt.

Dem liegt das theologische Verständnis zugrunde, dass ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen sozialen Gruppen der Würde des Menschen entspricht. Als soziale Wesen sind sie als Bevollmächtigte Gottes gewürdigt, die Welt in Freiheit und Mitverantwortung im Austausch mit Anderen gemeinsam zu gestalten.

Zu diesen Kerngedanken kommen nun entscheidende Aspekte hinzu, nämlich zum einen

  • die Erweiterung des Würdebegriffes auf die Arbeitsgruppe, in der der arbeitende Mensch eingebunden ist,

und zum andern

  • ein neues Verständnis der Konflikte zwischen Arbeit und Kapital, sowohl was das unternehmerische Handeln allgemein als auch die Tarifauseinandersetzungen betrifft.

Deswegen wird der Begriff der Partnerschaft nicht länger in einem harmonisierenden Verständnis verwendet. Darin schlagen sich die Erfahrungen mit der ersten Rezession in Westdeutschland 1966/67 und den damals neu aufgebrochenen Interessenkonflikte nieder. Wurden Konflikte vorher eher verdrängt, ist nun zu konstatieren, dass wirkliche Partnerschaft gegensätzliche Standpunkte in bestimmten Fragen nicht ausschließt und - vor allem! - dass konflikthafte Auseinandersetzungen durchaus konstruktiv zu gerechten Problemlösungen beitragen können. Das Austragen von Konflikten kann "dazu dienen…, soziale Gerechtigkeit erst herbeizuführen", wie es wörtlich in der EKD-Studie von 1968 heißt (These 5). (9)

Bezogen auf die Mitwirkung im Unternehmen heißt das: weil die Aufgabe der Unternehmensleitung den einzelnen Arbeitnehmer überfordern wird, müssen der Arbeitnehmerschaft insgesamt das Recht zugesprochen und die Voraussetzungen geschaffen werden, eine kompetente Vertretung zu bestellen. Sie muss mit rechtlichen Befugnissen ausgestattet und imstande sein, der Arbeitgeberseite qualifiziert gegenüber treten zu können.

Dabei bleibt der Einzelne im Betrieb und am Arbeitsplatz im Blick. Es gilt zu verhindern, dass er zu einem "bloßen Befehlsempfänger" degradiert wird. Vielmehr soll er in seinem Arbeitsgebiet, in seiner Werkstatt bzw. in seinem Betriebsteil stets sachkundig und mitverantwortlich einbezogen sein.

Ein besonderes Gewicht kommt demnach der Mitwirkung der Beschäftigten am Arbeitsplatz zu, nicht nur als Einzelne, sondern als Mitglied ihrer Arbeitsgruppe - wir würden heute wohl von Teams und Projektgruppen sprechen. Sie sollen an den Regelungen der Arbeitsvorgänge intensiver beteiligt werden. Eine solche Forderung ist meines Erachtens für die damalige Zeit bemerkenswert. Denn den Unternehmen wird zudem abverlangt, diese Arbeitsgruppen durch Schulungen etc. in die Lage zu versetzen, einen ordentlichen Arbeitsablauf mittels Absprachen untereinander selbst steuern zu können. An die Vorgesetzten ist die Erwartung gerichtet, die Vorschläge und Einwendungen der Arbeitsgruppen zu akzeptieren, anzunehmen, ernsthaft zu prüfen und zu berücksichtigen.

Es geht folglich in der Wirtschaft nicht allein technisch um die Erstellung von Gütern und die Bereitstellung von Dienstleistungen, sondern stets auch darum, dass die Arbeitswelt "zugleich als ein Lebensbereich gestaltet werden (muss), in dem der Mensch seine ihm von Gott gegebenen Anlagen entfalten kann". (10) Dies soll ein jeder Mitarbeitende in Freiheit tun können. Die Verfügungsgewalt über Eigentum beinhaltet nicht das Recht zur Herrschaft über abhängig Beschäftigte. (11) Auch wenn sich die Bestimmungsrechte der Kapitaleigner aus dem Eigentum an Produktionsmitteln ableiten, so stellen diese doch einen Wert erst im Zusammenwirken mit der menschlichen Arbeitskraft dar. Innerbetriebliche Verfügungsrechte über Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben deshalb prinzipiell nur einen funktionalen Zweck zu erfüllen und keine menschliche Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen.

Auch unter rechtsethischen Gesichtspunkten lieferte die EKD-Studie innovative Impulse, die an Gültigkeit nicht verloren haben. Mitbestimmung beruht nach kirchlichem Verständnis auf dem Grundgedanken von "ineinander gefügten Rechten von Kapital und Arbeit", wie es ausgedrückt wird. Zum einen, weil im wirtschaftlichen Leben das eine von dem anderen praktisch nicht zu trennen ist und weil zum Zweiten die Arbeitnehmer wie Kapitaleigner das moderne Unternehmen gemeinsam tragen. Letztlich haben sie ein gemeinsames Interesse am Erfolg.

Solche Vorstellungen schließen allerdings auch die Verpflichtung der Arbeitnehmerseite zum wirtschaftlichen Denken ein, dies sogar verknüpft mit der Forderung, auch die Marktrisiken mitzutragen. An die Adresse der Kapitaleigner geht genauso nachdrücklich die Ermahnung, "die menschlichen Folgen wirtschaftlicher Entscheidungen im Auge" zu behalten. (12)

Kapitaleigner und Arbeitnehmer sind also aufeinander angewiesen, weshalb nach christlich-sozialethischer Überzeugung beiden Seiten Mitbestimmungsrechte zustehen. Ihre Nutzung darf allerdings weder einseitig zum Schaden des einen noch zum Übergehen des anderen führen. Für diese ineinander gefügten und aufeinander bezogenen Rechte von Kapital und Arbeit sind Formen zu entwickeln, die eine faire Zusammenarbeit der Sozialpartner gewährleisten. Eigentum und Arbeit sind prinzipiell als gleichwertige Faktoren zu bewerten.

Die im Montanbereich praktizierte Form der Mitbestimmung bietet dafür nach allen Erfahrungen die besten Voraussetzungen. Ich bin fest davon überzeugt: Letztlich dienen sozial faire und kooperativ angelegte Kommunikationsformen und Organisationsstrukturen nicht nur dem sozialen Frieden in Betrieben und Unternehmen, sondern einer nachhaltigen Ausrichtung erfolgreichen Wirtschaftens.

Was die Rolle der Gewerkschaften anbetrifft, so sind sie auf Grund ihres Einblickes in die Verhältnisse vieler Unternehmen imstande, in den Aufsichtsräten kurzsichtige, betriebsegoistische, partikulare Interessen einzelner Belegschaften und des Managements in Bahnen zu lenken, die am gesamtgesellschaftlichen Interesse orientiert sind. Gewerkschafter in den Aufsichtsräten tragen also wesentlich dazu bei, dass die anstehenden Probleme sowohl unter sachgerechten wie menschengemäßen Perspektiven angegangen werden können.

Eine besondere kirchliche Wertschätzung wird des Weiteren dem durch das Montanmitbestimmungsgesetz etablierten Arbeitsdirektor auf Vorstandsebene zuteil. Er genießt das Vertrauen der Arbeitnehmerseite, weil seine Berufung der Zustimmung durch die Arbeitnehmerseite bedarf.

Die Parität im Aufsichtsrat und die Institution des Arbeitsdirektors werden auch deshalb wertgeschätzt, weil beides einen heilsamen Zwang zur Kooperation von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite erzeugt.

Unsere Zustimmung zur Montanmitbestimmung haben wir übrigens auch als Rheinische Landeskirche 1987 noch einmal besonders nachdrücklich unterstrichen; dies angesichts der Gefahr, dass diese Form der Mitbestimmung infolge des Strukturwandels der Unternehmen in zunehmend weniger Bereichen zur Anwendung kommt. Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, "rechtzeitig und dauerhaft den gegenwärtigen Bestand der Montanmitbestimmung" zu sichern, "damit die zukünftige Entwicklung für alle Beteiligten berechenbar wird und Zukunftsplanungen ermöglicht". (13)

Und ich betone: es ist weiterhin meine Überzeugung, "dass die Symbiose des Menschengerechten und des Sachgerechten beim Mitbestimmungsmodell der Montanindustrie gelungen ist" (14)

III. Grenzen der Mitbestimmung - Ansätze einer demokratischen Lebenskultur in Wirtschaft und Betrieb

Wie sehr die Personenwürde des einzelnen Arbeitnehmers im Zentrum der christlich-sozialethischen Überlegungen steht, kommt nicht zuletzt in Stimmen zur Weiterentwicklung der Mitbestimmung zum Ausdruck. Die institutionalisierte Mitbestimmung kann nicht der Endpunkt der Entwicklung zu mehr Beteiligung der Arbeitnehmerschaft im Wirtschaftsprozess sein. So die Auffassung des Sozialethikers Günter Brakelmann - eines Vorkämpfers der Begegnung zwischen Kirche und Arbeiterbewegung. (15) Er rückt den Ausbau von Partizipationsrechten am Arbeitsplatz in den Mittelpunkt, etwas, was in der Praxis der Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen bislang häufig zu kurz kam. Das lag daran, dass weit über die Nachkriegszeit hinaus Mitbestimmung allein als ein Element von Wirtschaftsdemokratie, also "vorrangig als institutionelle Gegenmacht, als Kampfparole gegen die Übermacht des Kapitals", begriffen wurde. (16)

Mit der etablierten Mitbestimmung sieht er aber die Grenzen "des Neubaus eines demokratischen Wirtschaftssystems" erreicht. Seine darüber hinausgehenden Perspektiven zielen auf eine veränderte "Arbeitspraxis vor Ort". Deswegen plädiert er für eine Betriebs- und Arbeitsorganisation, in der die "Strukturprinzipien einer demokratischen Lebenskultur" (17) Wirklichkeit werden können. Darunter versteht er: die Mündigkeit des Einzelnen, Solidarität aller, dialogische Entscheidungsprozesse, Konsens durch Kompromisse.

Es geht also um den mündigen und mitverantwortlichen Einzelnen im Arbeitsprozess, um den Mit-Arbeitenden, der sich in Entscheidungsprozesse solidarisch eingebunden weiß.

Einen ähnlichen Blick richtete Arthur Rich (Anfang der 70er Jahre), der renommierte Züricher Sozialethiker, auf die institutionalisierte Mitbestimmung. Auch ihm geht es um die ganz konkrete "Veränderung des individuellen und kollektiven Status des Arbeitnehmers in Betrieb und Unternehmen", also "vorrangig um den Menschen, nicht um das System". (18)

Sein Leitbild ist der "verantwortliche Industriebürger". Er setzt sich dafür ein, ihn aus einseitigen Abhängigkeiten zu befreien. Gemeint sind die Zwänge, die aus der alleinigen Verfügungsgewalt über produktives Eigentum abgeleitet werden. Die Gefahr des Missbrauchs scheint auf, wenn sie den Arbeitnehmer zum "Industrieuntertan" (Rich) degradieren.

Insofern darf auch die Frage nach der Mitbestimmung nicht personal-ethisch auf die unmittelbare Arbeitsumwelt des tätigen Menschen verengt werden. Vielmehr ist die Frage sozial-ethisch von grundlegender Bedeutung, "inwieweit unser heutiges Industriesystem überhaupt dem Arbeitnehmer Raum für effektive Mitbestimmung und Mitverantwortung offen lässt, bzw. was institutionell getan werden muss, um solchen Raum zu schaffen und zu mehren". (19) Diese Frage behält weiterhin ihre Gültigkeit!

Auch die EKD-Denkschrift "Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive" von 2008 betont den Wert einer Mitbestimmungskultur für das unternehmerische Handeln, die sie als eingebunden in eine Kooperationsgemeinschaft innerhalb der Unternehmen versteht. Sie widerspricht nachdrücklich solchen Vorstellungen, die die Mitarbeitenden auf ein bloßes Mittel reduzieren wollen. So heißt es klar und deutlich: "Die Beteiligung von Arbeitnehmern am Wertschöpfungsprozess berechtigt in der Tradition der Sozialpartnerschaft zur Mitbestimmung und erfordert Mitverantwortung für die Dynamik der Unternehmensexistenz. Mitbestimmung kann das notwendige Vertrauenskapital schaffen". (20)

Wie wichtig Mitbestimmung ist, zeigt sich nicht zuletzt in konfliktreichen Prozessen des Unternehmensumbaus mit oft harten Folgen für viele Arbeitnehmer, wie eine Studie des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt von 2008 veranschaulicht. Sie weist einen direkten Zusammenhang von "betrieblicher Interaktionskultur" sowie "integrativen Aushandlungsprozessen" auf der einen Seite und Qualität von Konfliktlösungsprozessen (21) (wie z.B. eines Personalabbaus) auf der anderen Seite nach. Je intensiver Partizipation und Mitentscheidungsmöglichkeiten der Arbeitnehmervertreter in den Unternehmen sind, desto sozialverträglicher und letztlich menschengerechter fallen die Problemlösungen aus. Es ist nie nur der Markt, der über die Modalitäten von Organisationsentwicklungen entscheidet, sondern es sind "ebenso die Akteure der industriellen Beziehungen", die darüber befinden. Mancher Stress könnte reduziert werden, "wenn gesetzlich fixierte Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmerinteressenvertreter auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten geschaffen würden". (22)

Noch eine letzte Anmerkung aus aktuellem Anlass: es geht mir dabei um das Thema "Tarifautonomie" und "Tarifeinheit". Beides hat nach meiner Überzeugung maßgeblich zum sozialen Frieden und allgemeinen Wohlstand beigetragen. Ich bin davon überzeugt: Eine tragende Säule der Tarifautonomie ist die Tarifeinheit.

Deshalb betrachte ich Tendenzen zu einer Zersplitterung des Tarifvertragssystems durch eine Vielzahl von Spartentarifverträgen in Unternehmen mit Sorge. Denn diese Entwicklungen leisten der Spaltung von Belegschaften und einer Vervielfachung von Konflikten Vorschub, - was es unbedingt zu verhindern gilt. Das Prinzip "Ein Betrieb - ein Tarifvertrag" hat sich bewährt. Die Einhaltung dieses Grundsatzes ist a) im Interesse der Unternehmen wie auch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und b) stärkt ein einheitlicher Tarifvertrag den Zusammenhalt der Gesamtbelegschaft, weil verhindert wird, dass einzelne Belegschaftsteile gegeneinander ausgespielt werden.

Eine tarifliche Zersplitterung wäre letztendlich fatal, weil den Schwächeren die Solidarität der Stärkeren verweigert würde. Dies gilt gleichermaßen für die Gesellschaft wie für den Betrieb. Außerdem: Ohne eine faire Sozialpartnerschaft auf Basis einer funktionierenden Tarifeinheit lassen sich die Auswirkungen zukünftiger Krisen für die Beschäftigten kaum, auf jeden Fall nur wesentlich schwerer eindämmen. Die Kirche spricht sich deshalb nachdrücklich für solidarische Allianzen aus. Wir sollten sie nicht durch Preisgabe der Tarifeinheit aufs Spiel setzen. Der Vorschlag zur Wahrung der Tarifeinheit, der gemeinsam von DGB und BdA unterbreitet worden ist, ist deswegen richtig und voll zu unterstützen.

IV. Schlussbemerkungen

Gutachten belegen, dass die Mitbestimmung in aller Regel effektiv ist, sich also wirtschaftlich rechnet. Doch wir müssen auch selbstkritisch die Grenzen sowie mögliche Widersprüche in der Praxis im Blick behalten. Denn Mitbestimmung ist im Prozess unternehmerischen Handelns keine Schönwetterveranstaltung, wie Beispiele Betriebsstillegungen zeigen. In den Auseinandersetzungen darüber kann es schon zu konträren Vorstellungen zwischen Unternehmensleitung in der Person des Arbeitsdirektors auf der einen Seite und dem Betriebsrat auf der anderen Seite kommen - so die Erfahrungen. Und auch das Aufrechterhalten einer gemeinsamen Frontlinie zwischen Gewerkschaft und ihren Vertretern im Aufsichtsrat und den Belegschaften und Betriebsräten ist häufig nur mit Mühe zu schaffen. Wie zukünftig mit solchen Spannungen umgehen?

Des Weiteren ist die Gefahr nicht generell gebannt, dass sich Arbeitnehmervertreter und -vertreterinnen durch Leitungsmitglieder vereinnahmen lassen. Prominente Fälle wurden denn auch allzu leicht ein Fressen für die Medien; aus gutem Grund, doch zum Schaden der Mitbestimmungsidee. Der Begriff Co-Manager ist schon in irritierend!

Solche Negativ-Ereignisse müssen verhindert werden, unbedingt! Doch sie können trotzdem kein Argument gegen den hohen Wert der Mitbestimmungskultur in Deutschland sein.

Die gesetzlich gesicherte Mitbestimmungskultur stellt eine bedeutsame Errungenschaft der Sozialgeschichte Deutschlands dar; und das Montanmitbestimmungsgesetz markiert einen ihrer Höhepunkte.

Das Gesetz zur Montanmitbestimmung ist als ein großer sozial- innovativer, zivilisatorischer Fortschritt zu werten. Dieses Niveau konnte mit dem allgemeinen Mitbestimmungsgesetz für Großunternehmen im Jahre 1976 nicht wieder erreicht werden.

Die Frage ist deshalb ernst zu nehmen: Haben wir womöglich nicht zu viel, sondern zu wenig Mitbestimmung? Die Mitbestimmung (außerhalb des Montanbereichs) ist bisher - neben den Möglichkeiten der Betriebsräte -lediglich in den Aufsichtsräten der Unternehmen institutionalisiert, nicht jedoch in den Vorständen, die nach geltender Rechtsordnung die entscheidende Macht in der Unternehmensgestaltung besitzen. Aufsichtsräte dienen der Kontrolle der Vorstände und haben begrenzte Sanktionsmöglichkeiten - von der Besetzung von Vorständen abgesehen. Müsste die Gestaltungskompetenz von Aufsichtsräten und ihre Überwachungseffizienz nicht noch weiter verbessert werden?

So konzentriert sich bisher die Macht im Aufsichtsrat vor allem auf den Vorsitzenden, der häufig unmittelbar in die Geschäftspolitik eingebunden ist. Hier könnte man sich vorstellen, dass z.B. wichtige Fragen der Geschäftspolitik stärker im Aufsichtsrat behandelt werden, insbesondere wenn es unmittelbar um Belegschaftsfragen geht. Dies mit dem Ziel, der Durchsetzung solcher Kapitalinteressen entgegenzuwirken, die große negative Folgen für die Beschäftigten haben würden. Oder bei Fragen der strategischen Ausrichtung des Unternehmens und der wachsenden Kapitalmarktorientierung der Unternehmen.

Die Mitbestimmungsformen bleiben also verbesserungsbedürftig, und zwar, was die tatsächliche Partizipation des Menschen in den Betrieben und die langfristigen Perspektiven der Unternehmen betrifft.

Mit Blick auf Europa und die Welt zeigt sich in überzeugender Weise die Nachhaltigkeit des deutschen Weges. Leider sind uns bisher wenige Länder gefolgt. Aber das sollte sich ändern.

Fußnoten

  1. Entschließung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Frage der Mitbestimmung, 25. August 1950. In: Kreuz auf den Trümmern - Zweiter Deutscher Evangelischer Kirchentag in Essen 1950. Zusammengestellt von Hellmut Reitzenstein i. A. des Präsidenten i. A. des Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentages D. Dr. Reinhold von Thadden-Trieglaff. Hamburg und Berlin, o. J., S. 98
  2. Helmut Thielecke, Theologische Ethik, Band 2, Tübingen 1955, S. 541
  3. Traugott Jähnichen, Patriarchalismus - Partnerschaft - Partizipation. Ein Überblick über die Mitbestimmungsdiskussion in der evangelischen Sozialethik, in: Frank von Auer/ Franz Segbers (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung. Kaiserreich, Weimarer Republik, Bundesrepublik Deutschland, Bund-Verlag, Köln 1994, S. 275
  4. Ders., ebd., S. 278
  5. Eduard Heimann, zit. nach Jähnichen, a.a.O., S. 280
  6. Entschließung des Rates… zur Frage der Mitbestimmung, a.a.O., S.
  7. Vgl. Traugott Jähnichen, Die Mitbestimmungsfrage im Dialog der Kirche und Gewerkschaften. In: Harry W. Jablonowski (Hg.), Kirche und Gewerkschaften im Dialog, Band I., Mitbestimmungsdiskussion und Ansätze kritischer Solidarität, Bochum 1987, S. 25, sowie Jablonowski, Kirchliches Handeln in Arbeitswelt und Gesellschaft - Themen und kritische Solidarität seit 1945, ebd., S. 53
  8. Eberhard Müller, Dokumentarband in der Reihe der Stundenbücher, Sozialethische Erwägungen zur Mitbestimmung in der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland - eine Studie der Kammer für soziale Ordnung, herausgegeben vom Rat der EKD, Hamburg 1968, S. 11
  9. Ebd., S. 28
  10. Ebd., S. 29
  11. Ebd., S. 40
  12. Ebd., S. 51
  13. Sozialethische Überlegungen zur Unternehmens-Mitbestimmung. Eine Studie. Sozialethischer Ausschuß der Evangelischen Kirche im Rheinland in Verbindung mit dem Amt für Sozialethik und Sozialpolitik, Düsseldorf 1987, S. 69
  14. Ebd., S. 66
  15. Er feiert dieses Jahr seinen 80. Geburtstag.
  16. Günter Brakelmann, Demokratie in der Wirtschaft. In: ders., Für eine menschlichere Gesellschaft, S. 294
  17. ebd.
  18. Arthur Rich, Mitbestimmung in der Industrie. Probleme - Modelle - Kritische Beurteilung. Eine sozialethische Orientierung, Zürich 1973, S. 208
  19. Ebd., S. 209
  20. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover, Gütersloh 2008, S. 66
  21. Michael Stahlmann/ Walter Wendt-Kleinberg, Zwischen Engagement und innerer Kündigung. Fortschreitender Personalabbau und betriebliche Interaktionskulturen, Münster 2008, S. 262. Michael Stahlmann ist wissenschaftlicher Referent in der Evangelischen Kirche im Rheinland in Düsseldorf; Walter Wendt-Kleinberg arbeitet in gleicher Funktion im Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen in Schwerte/ Villigst, Ruhr.
  22. Dies., ebd. S. 263