Leitbild: Ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Beitrag zum 2. Peterskirchen-Dialog: „Verantwortung für eine zukunftsfähige Weltwirtschaft“

Nikolaus Schneider

Ganz offensichtlich hat sich die deutsche Wirtschaft von der Krise der Finanzmärkte 2008/2009 überraschend schnell und gut erholt. Die Gewinne sprudeln auf fast allen Ebenen; selbst für die Steuereinnahmen werden mittlerweile bisher ungeahnte Zuwächse vorausgesagt. Deutschland ist sehr viel erfolgreicher durch die Krise gekommen, als wir das fast alle noch in den Jahren 2008/2009 geglaubt haben. Aber dennoch sitzt die Erfahrung dieses tiefsten Einschnitts in der wirtschaftlichen Entwicklung seit 1929/30 in den Knochen. Insofern sind viele in der Freude über den Erholungsprozess auch gebremst, da die Angst, dass es zu einer Wiederholung der Situation von 2008 kommen könnte, nach wie vor vorhanden ist. Und die Situation in Europa stützt diese Befürchtungen noch weiter. Das Menetekel von Griechenland ist an die Wand geschrieben!
 
Ist genug getan worden, um der Wiederholung einer Situation wie 2008 / 9 vorzubeugen? Zweifellos ist es zu einer ganzen Reihe von Reformen der Finanzmärkte gekommen – aber ebenso zweifellos gibt es weiterhin eine große Zahl von Lücken. Vieles bleibt ungeregelt. Insbesondere habe ich nicht den Eindruck, dass die Orientierung am kurzfristigen Erreichen hoher und höchster Gewinne, die ohne Frage eine der Gründe für die Finanzkrise gewesen ist, einer längerfristigen Orientierung in den Dax-Unternehmen und insbesondere auf den Finanzmärkten gewichen ist. Irgendwie dreht sich – die in der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen weitgehend ignorierend - das ganze Karussell weiter und das große Kasino scheint immer noch nicht geschlossen zu sein.
 
Diese Feststellung gilt insbesondere dann, wenn man noch einmal zurückblickt auf die Reformforderungen, die wir – gemeinsam mit vielen anderen -aus Anlass der Krise 2008 erhoben haben. Seitens der EKD haben wir 2009 das Wort des Rates der EKD zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ veröffentlicht. Es lohnt sich, aus dem Wort weiterhin zu zitieren, weil in ihm grundsätzliche Weichenstellungen gefordert wurden, die an Aktualität nichts verloren haben. So hält dieses Wort in breiter Übereinstimmung mit anderen evangelischen und ökumenischen Dokumenten fest, dass die Idee der Sozialen Marktwirtschaft, die einstmals einen Weg aus der Krise der Freien Marktwirtschaft durch Integration des Leitbilds sozialer Gerechtigkeit suchte, heute um Gesichtspunkte der ökologischen Verträglichkeit und der internationalen Gerechtigkeit ergänzt werden muss.
 
Eine auf diesem Leitbild beruhende Rahmenordnung braucht als Ziele:

  • Eine Wirtschaft, die den Menschen heute dient, ohne die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören
  • eine Weltgesellschaft, die die Verbesserung der Situation ihrer ärmsten und schwächsten Mitglieder zu ihrer vorrangigen Aufgabe macht
  • schließlich ein Finanzsystem, das sich in den Dienst dieser Aufgaben stellt.  

Mit diesen Sätzen haben wir 2009 erneut betont, was bereits im „Gemeinsamen Wort“ von 1997 und dann auch in der Denkschrift über unternehmerisches Handeln  in evangelischer Perspektive 2008 herausgearbeitet worden ist: „Eine um Nachhaltigkeitsfaktoren erweiterte Soziale Marktwirtschaft kann verhindern, dass die erreichten Erfolge eines ökologisch orientierten Umbaus wieder preisgegeben werden und die soziale Gerechtigkeit durch eine weiterwachsende Ungleichheit zunehmend beschädigt wird.“ (S. 18) Deswegen braucht es strenge Rahmenbedingungen der Weltfinanzmärkte, um ökologisch und sozial zukunftsfähige Ordnungsstrukturen durchzusetzen. Wir haben damals mit Absicht gesagt, dass eine solche Politik selbst dann richtig ist, wenn sie zu niedrigerem quantitativen Wachstum führt, weil sie insgesamt für die Menschen und die Natur nötig ist. Wir müssen das derzeitig herrschende Verständnis von Wachstum korrigieren – die Abhängigkeit vieler Aktivitäten von diesem Wachstum muss dringend reduziert werden! Es geht um das Erreichen qualitativ hochwertiger Ziele, um die Qualität des Lebens auf diesem Globus. Dem ist alles andere nachzuordnen.
 
In dieser Hinsicht ist auch noch einmal an das „Gemeinsame Wort“ von 1997 zu erinnern:  „Wer die natürlichen Grundlagen des Lebens nicht bewahrt, zieht aller wirtschaftlichen Aktivität den Boden unter den Füßen weg. Solidarität und Gerechtigkeit können ihrem Wesen nach nicht auf das eigene Gemeinwesen eingeschränkt, sie müssen weltweit verstanden werden. Darum müssen zur sozialen die ökologische und die globale Verpflichtung hinzutreten.“ (Für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität, S. 10)
 
Im Hintergrund dieser Überlegungen stehen nicht einfach Anleihen aus der Welt des Zeitgeistes und auch nicht die schlichte Anbiederung an wie auch immer geartete ökologischen Bewegungen, sondern die Besinnung auf grundsätzliche christlich-ethische Grundorientierungen. Der christliche Glaube beruht darauf, dass die Welt mit all ihren Möglichkeiten von Gott ins Leben gerufen und den Menschen anvertraut worden ist. Sie sollen diese großartige Welt bebauen und bewahren, wie es auf den ersten Seiten der Bibel heißt. So banal diese Sätze uns allen heute auch vorkommen mögen, so geht alleine aus diesen Grundüberzeugungen doch deutlich hervor, dass Menschen in all ihren Aktivitäten, und zwar insbesondere in den weltverändernden ökonomischen Aktivitäten, es stets mit einem treuhänderischen Handeln zu tun haben. Alle wirtschaftlichen Akteure stehen aus dieser Sicht in einer treuhänderischen Verantwortung für die Schöpfung Gottes – sie sind in dieser Hinsicht stets Mit-Schöpfer Gottes: sie haben mit Teil an der Weiterentwicklung, Neuschaffung dieser großartigen Welt und stehen letztlich vor ihm und natürlich vor den Menschen in Verantwortung für das, was sie tun.
 
Diese treuhänderische Verantwortung für Gottes Schöpfung drückt sich insbesondere darin aus, dass jede Generation immer wieder gehalten ist, die Möglichkeiten der Welt an die nächste Generation zu übergeben, und zwar so weiterzugeben, dass deren Leben weder bedroht noch beeinträchtigt, sondern im Gegenteil möglichst besser – nachhaltiger, gerechter -  gestaltet werden kann, als das der jetzt Lebenden. Es verstößt gegen diesen Grundsatz einer treuhänderischen Einstellung, wenn Einzelne, Gruppen, Unternehmen oder andere Akteure in der Wirtschaft sich so verhalten, als könnten sie die Ressourcen der Welt jenseits dieser Verantwortungsperspektive verbrauchen. Mitte und Maß, die sich aus der schöpfungstheologischen Beauftragung des Menschen herleiten, scheinen abhanden
gekommen zu sein.

Was sich folglich durchsetzen muss, ist ein grundsätzliches Mehrgenerationendenken, das die heute genutzten Möglichkeiten immer auch für die kommenden Generationen mit durchdenkt und von daher in der Nutzung dessen, was heute möglich ist, zugleich zurückhaltend wie auch offensiv ist. Zurückhaltend in der Nutzung der Güter, die für die nächsten Generationen erhalten bleiben müssen, aber zugleich auch offensiv darin, für die nächsten Generationen bessere Lebensbedingungen, gerechtere, nachhaltigere Strukturen, zu schaffen, als dies heute der Fall ist. Wir müssen davon wegkommen zu meinen, die jeweils lebende Generation sei der Höhepunkt der Schöpfung. In christlicher Überzeugung gehen wir auf den Höhepunkt der Schöpfung, auf die Verwirklichung des Reiches Gottes erst noch zu und erwarten unsere und die Vollendung des rettenden Handelns Gottes. Wir gehen auf den zu, der aus der Zukunft auf uns zu kommt und sind deswegen als Christen stets auf der Wanderung hin zu ihm begriffen. Diese auf die Zukunft bezogene Lebenseinstellung kann nur mit einer zurückhaltenden Nutzung der Ressourcen der Erde einhergehen. Und es ist  deutlich, dass man mit solch einer Einstellung stets sich erneuernde Kreisläufe im Blick hat. Auf dieser Grundlage kann man ein nachhaltiges Wirtschaften betreiben, das nicht auf ein Wirtschaftswachstum und auf höchstmögliche Gewinne um jeden Preis ausgerichtet ist, sondern die robuste Sicherung der Lebensmöglichkeiten der Menschheit als oberstes Ziel im Blick behält. Sicher bleibt es richtig, dass die Gewinne von heute die Investitionen von morgen sind – aber ebenso gilt, dass sich die Zerstörungen von heute morgen potenzieren werden.  Auf das für alle Menschen lebensdienliche Maß kommt es also an, auch bei den Gewinnerwartungen.
 
Von einer solchen treuhänderischen Mehrgenerationenperspektive her muss deswegen gefragt werden, ob nicht der Raubbau an der Natur und an den Ressourcen die Logik der gegenwärtigen Wirtschaftsstruktur bestimmt: Der Raubbau, der sich einerseits aus einem bestimmten Paradigma ökonomischen Wachstums und andererseits der unzureichenden ökonomischen Bewertung der Naturgüter ergibt. Es scheint so zu sein, dass die Struktur des Kapitalverwertungsprozesses auf ein stetiges monetäres Wirtschaftswachstum zielt. Es sieht so aus, als ob unser Wirtschaftssystem in einer mittlerweile extremen Weise von der Selbstverwertung des eingesetzten Kapitals abhängig ist. Und diese kann sich, so sieht es aus, nur durch ständig neue Landnahmen der Ökonomie und damit durch ständiges Wachstum realisieren. In den USA, Europa und Deutschland leben wir längst nicht mehr in einer Wirtschaft, die auf Befriedigung von grundlegenden Bedürfnissen ausgerichtet ist, sondern in einer, die im Grunde aus dem Überfluss der Zukunft heraus lebt und ihre Gewinne durch Wetten auf diese Zukunft erwirtschaftet. Der Eindruck, dass das was auf den Finanzmärkten geschieht, immer weniger mit der Güter- und Dienstleistungswirtschaft zu tun hat, ist  nicht von der Hand zu weisen - und das ist umso schwerwiegender, als die reale Wirtschaft gut funktionierende Finanzmärkte braucht, um florieren zu können. Finanzmärkte sind noch einmal in nuce treuhänderische Agenturen, die – wenn sie gut funktionieren – im Dienst der Realökonomie stehen und nicht über sie herrschen.

Ferner ist zu bedenken, dass wir mit einem Überangebot an Informationen und Bewertungen zurecht kommen müssen, an denen die Akteure auf den Finanzmärkten nicht vorbei agiert werden können. Die Finanzmarktkrise ist daher auch eine Krise der Informationstechnologie und des automatisierten Computerhandels.
 
Dass diese Entwicklungen mit einer sozialverträglichen und an Gerechtigkeitskategorien orientierten Wirtschaftsordnung wenig zu tun haben, liegt auf der Hand. Und sie haben auch wenig oder nichts mit einer grundsätzlichen Ressourcenschonung oder einer ökologischen Orientierung zu tun. Es scheint vielmehr bisweilen so zu sein, dass die erreichbaren Produktionszuwächse nicht oder gerade noch ausreichend sind, um die zusätzlichen Schäden zu kompensieren, die durch die Produktionsweise entstanden sind. Die Gefahr ist daher, dass die durch ökonomisches Wachstum erwirtschafteten Wohlfahrtsgewinne umgehend durch ökologische und soziale Folgekosten reduziert oder sogar aufgezehrt werden – wenn nicht in Verluste umschlagen.

Wir brauchen eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch, d. h.  die Abkehr von einem rein quantitativ und materiell ausgerichteten Wohlstandsmodell. Zukunftsfähig ist unser marktwirtschaftliches Modell, wenn der ökonomische Wachstumszwang vom Naturverbrauch losgelöst wird. „Eine ökologisch und sozial zukunftsfähige Ökonomie bedarf des Umsteuerns hin zu einem qualitativen Wirtschaftswachstum und einem entsprechenden Lebensstil. Ein solches „Green Grow“ ist die entscheidende Herausforderung wirtschaftlichen Handelns in der Gegenwart.“ (Die Soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln, EKvW, S. 32)
 
Man kann sich verschiedene Szenarien vorstellen, um unsere Wirtschaft auf eine entsprechend nachhaltige Post-Wachstumsökonomie umzusteuern. Die folgenden Szenarien lehnen sich an eine Studie von Andreas Mayert aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD an:

  • Das erste Übergangsszenario ist das der ökologischen Katastrophe. Wie dies aussehen könnte, haben wir angesichts der Nuklearkatastrophe und des Tsunamis in Japan erlebt. Ich hoffe nicht, dass  es notwendig wird, auf eine solche Katastrophe auch in Deutschland zu warten. Aber unrealistisch ist ein solches Übergangsszenario nicht.
  • Das zweite Übergangsszenario lässt sich als langfristiger Mentalitätswandel in der Gesellschaft beschreiben, der einen schrittweisen Übergang zu einem reduzierten Wirtschaftswachstum führt. Für ein solches Übergangsszenario spricht, dass es weitgehend freiheitlich erfolgen kann und den Wünschen der Menschen entsprechen könnte. Allerdings kann es sein, dass ein solcher Wandel zu langsam ist, um eine ökologische Katastrophe abzuwenden. Zudem ist die Frage offen, ob auf diese Weise wirklich dauerhafte Veränderungen entstehen können. Es ist nicht sicher, dass sich das Konsumentenbewusstsein in allen Bereichen auf neue Lebensstile hin entwickeln wird. Die Wirtschaft wird immer wieder darauf zielen, mit neuen Produkten den Konsum der Menschen anzutreiben.

Ein drittes Übergangsszenario besteht darin, gesellschaftliche Institutionen so zu verändern, dass sie zur neuen Richtung nachhaltig beitragen. Dieser Vorschlag zielt vor allem darauf, dass sich die bestehenden demokratischen Institutionen im Blick auf eine Begrenzung des Ressourcenverbrauchs und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum dauerhaft selbst binden, so dass entsprechende neuentwickelte Anreizsysteme nicht mehr der politischen Veränderung unterliegen dürfen. Das Ziel wäre nicht eine Überwindung der Marktwirtschaft, sondern eine Neugestaltung ihrer Regeln (z.B. Definition des BIP; Anreizsysteme) und jener Institutionen, die als Durchsetzungs- und Sanktionierungsinstanzen infrage kommen. Es braucht die Konstruktion eines glaubwürdigen Verpflichtungsmechanismus. Dazu kann z. B. gehören, dass die bestehenden Umweltbehörden und umweltpolitischen Zuständigkeiten zu einer unabhängigen nationalen Nachhaltigkeitsbehörde zusammengefasst werden, die möglicherweise sogar auf europäischer Ebene errichtet wird.

Eine weitere Strategie kann darin bestehen, die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens so zu gestalten, dass externe Kosten internalisiert werden.

Natürlich ist dies auch nur ein – zugegebenermaßen ehrgeiziger – Vorschlag, um endlich zu einem nachhaltigen Umsteuern unserer Wirtschaft zu kommen. Und sicher gibt es an dieser Stelle noch viel zu diskutieren, was die darüber hinausgehende Rolle des Staates, z. B. der Steuerpolitik als Anreizsystem und der Organisation der Energieversorgung betrifft. Ebenso gilt es über die Rolle der Unternehmen und ihrer Verpflichtungen im Sinne einer Corporate-Social-Responsibility-Strategie zu sprechen, die die Kernprozesse eines jeden Unternehmens von einer CSR-gesteuerten Verantwortung her begreift und entsprechend steuert. Ernstgenommene CSR bedeutet nicht freiwillige Leistungen und Spenden für diesen oder jenen guten Zweck. CSR bedeutet das Steuern des Unternehmens in allen geschäftlichen Prozessen, wie Produktion und Vertrieb in seiner Verantwortung für Kunden, Mitarbeiter, Umwelt und Gesellschaft  um das Wirtschaften nachhaltigerzu gestalten.  Viel sagen müsste man an dieser Stelle auch noch über die Verantwortung der Zivilgesellschaft, der Konsumenten und aller Bürgerinnen und Bürger für eine bewusste Gestaltung des eigenen Lebensstils. Es gibt letztlich keinen Gegensatz zwischen strukturellen Veränderungen und der Verantwortung des Einzelnen. Beides muss so aufeinander abgestimmt sein, dass die Wahrnehmung von Verantwortung für die Nächsten und die Schöpfung den Einzelnen belohnt und nicht benachteiligt.

Als Christenmensch habe ich keinen Gefallen an apokalyptischen Vorhersagen. Ich gründe meine Lebenszuversicht aus den großen Gnadenzusagen der Heiligen Schrift. Deshalb schließe ich mit den letzten Sätzen aus dem Text des Rates zur Finanzkrise: „Im Vertrauen auf Gott dürfen wir das prophetische Wort auch auf unsere krisenhafte Lage und auf unsere Zukunft beziehen: ‚Und der Herr wird dich immer da führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken und du wirst sein, wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.‘“ (S. 22)