"Die Kirche in der Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus", Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus in Wittenberg

Nikolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort.

Anreden

Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, heute hier bei Ihnen sprechen zu dürfen. Die Initiative zur Gründung der "Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus" wurde im Jahr 2009 bekanntlich von der EKD-Synode in Ulm sehr begrüßt, während das Kirchenamt der EKD die Gründung auch aktiv personell begleitete. Damit kommt zum Ausdruck, dass für uns als evangelische Kirche die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Umtrieben, aber auch mit den kleinen und großen rassistischen Äußerungen des Alltags, eine wichtige Rolle spielt. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang wieder einmal Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Diese Organisation, die schon seit langem ein friedenspolitisches Markenzeichen des bundesdeutschen Protestantismus darstellt, war ein bedeutender Katalysator für den Entstehungsprozess der Arbeitsgemeinschaft. Bevor ich zum Phänomen des Rechtsextremismus selbst etwas sage, seien mir zunächst einige einleitende Worte zum Verhältnis von Christentum und Demokratie in unserem Gemeinwesen gestattet.

I. Christentum und Demokratie in unserem Land

Der Weg der christlichen Kirche, insbesondere der evangelischen Kirche, als deren Repräsentant ich hier vor Ihnen stehe, zur Demokratie war ohne Zweifel lang und keineswegs geradlinig. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war es nicht als selbstverständlich ausgemacht, dass die Kirchen sich zur Demokratie bekannten. Ganz im Gegenteil. Auch der Kirchenkampf im Dritten Reich war ja keineswegs ein Kampf für die Demokratie, sondern vielmehr ein allerdings mutiges Eintreten für die Freiheit der Kirche in einem totalitären und menschenverachtenden System. Immerhin! Aber zur Demokratie fand unsere Kirche erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Mein Amtsvorgänger Wolfgang Huber hat in einer wichtigen Rede die entscheidenden Linien des Weges unserer Kirche zur Demokratie behutsam nachgezeichnet. Ich erinnere an seinen Vortrag: "Demokratie wagen - Der Protestantismus im politischen Wandel 1965 - 1985" aus dem Jahr 2005.[1]

Demokratie ist somit nichts Selbstverständliches - weder für unsere Gesellschaft, die sie in Teilen von außen geschenkt bekam und in Teilen mühsam erringen und behaupten musste, noch für unsere Kirche. Aber in der Demokratiedenkschrift von 1985  bekannte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sich in aller Klarheit und mit sehr guten Gründen zum demokratischen Gemeinwesen.

Die Denkschrift hob damals zum einen die besonderen Affinitäten des christlichen Glaubens zur Staatsform der liberalen Demokratie und des biblischen Gedankens der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu dem in Artikel 1,1 des Grundgesetzes zentralen Begriff der Menschenwürde hervor. Zum anderen bekräftigte sie, dass der Mensch als ein grundsätzlich fehlbares, irrtumsfähiges Wesen zu sehen sei, dessen Machtstreben der Limitierung durch örtliche, zeitliche und institutionelle Grenzen bedürfe. Schließlich forderte sie, dass ein gesellschaftlicher „Pluralismus aus Prinzip“ bejaht und die Existenz der politischen Parteien als nicht nur legitime, sondern sachlich angemessene Ausdrucksform eines Pluralismus politischer Willensbildungsmöglichkeiten begriffen werden müsse. In allen drei Hinsichten betonte sie somit die faktische Konvergenz und wesensmäßige Affinität von Christentum und Demokratie.

21 Jahre später, mehr als anderthalb Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution und der vollzogenen deutschen Einheit, bekannten die beiden großen Kirchen in Deutschland sich sogar gemeinsam zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dachten - auch aus aktueller Veranlassung - über Möglichkeiten und Wege nach, wie sie in Krisenzeiten und in akuten Herausforderungen das demokratische Gemeinwesen stärken könnten. "Demokratie braucht Tugenden" heißt das im Jahr 2006 veröffentlichte Gemeinsame Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft des demokratischen Gemeinwesens.[3]  Als die zwei zentralen Probleme der Gegenwart und Zukunft benannte diese Schrift die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die demographische Entwicklung der Gesellschaft.

Man merkt, fünf Jahre können eine lange Zeit sein. Vom Klimawandel war damals noch keine Rede. Auch war noch keine globale oder auch nur eine europäische Finanzkrise im Blickfeld. Und die Gefährdungen unserer Gesellschaft durch den politischen Extremismus[4] kommen allenfalls am Rande vor. Im Blick auf die Bürgerpflicht der Teilnahme an Wahlen heißt es im Text: "Extremistische Parteien können von einer niedrigen Wahlbeteiligung profitieren. Mündige Bürgerinnen und Bürger dürfen deshalb die Demokratie gerade bei Wahlen nicht im Stich lassen." (a.a.O., S.26) Das ist sicher ein wichtiger Ausgangs- und Orientierungspunkt für den Umgang mit der neuen Herausforderung von Rechts. Aber reicht dieser eine Satz aus? Ich denke, man wird über diese Aussage hinausgehen müssen.

II. Einige Begriffsklärungen: Extremismus, Rechtsextremismus, neuer Rechtsextremismus

Doch sind zuvor sicherlich einige Begriffsklärungen hilfreich, damit klar ist, wovon hier und im Folgenden die Rede ist. Daher: Was verstehe ich unter Extremismus, Rechtsextremismus, "neuem" Rechtsextremismus (gegenüber dem traditionellen oder alten Phänomen)? Ich komme auf alle drei Begriffe nacheinander zu sprechen und werde dabei immer spezifischer in meiner Aussage.

a) Im Evangelischen Staatslexikon (4. Auflage 2006) ist der Begriff des Extremismus[5] in hinreichender Präzision definiert. Demnach handelt es sich bei Extremismus um politische Richtungen, die die Werte der freiheitlichen Demokratie ablehnen. Die Vielfalt konkurrierender Interessen wird nicht anerkannt, das Recht auf Opposition geleugnet und ein Freund-Feind-Denken geschürt. Extremismus wähnt sich im Besitz der absoluten Wahrheit, ist grundsätzlich kompromisslos und tendiert zu Verschwörungstheorien. In aller Regel gibt es in westlichen Demokratien Extremismus von links und von rechts. Neben beiden Formen ist in der Gegenwart zunehmend auch ein religiös kolorierter, häufig gewaltbereiter islamistischer Fundamentalismus zu beobachten. Extremismus kann, muss aber nicht gewaltbereit auftreten. Im Folgenden konzentriere ich mich auf das Phänomen des Rechtsextremismus. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich: Das hat nichts damit zu tun, dass ich andere Formen des Extremismus nicht ebenfalls ablehnen würde. Wer die Demokratie bejaht, der lehnt den Extremismus ab. Ganz gleich, aus welcher Richtung sich dieser artikuliert.[6]


b) Wie lässt sich von hier aus das Phänomen des "Rechtsextremismus" näher spezifizieren? Gerne greife ich an dieser Stelle einmal auf den entsprechenden, wie ich finde, ganz gut gelungenen Artikel des Online-Lexikons "Wikipedia" zurück. In ihm heißt es, der Begriff  "Rechtsextremismus" sei eine   Sammelbezeichnung, um faschistische, neonazistische oder ultra-nationalistische politische Ideologien und Aktivitäten zu beschreiben. Deren gemeinsamer Kern sei die Orientierung an der ethnischen Zugehörigkeit, die Infragestellung der rechtlichen Gleichheit der Menschen sowie ein antipluralistisches, antidemokratisches und autoritär geprägtes Gesellschaftsverständnis. Und schließlich heißt es im Artikel: "Politischen Ausdruck findet dies in Bemühungen, den Nationalstaat zu einer autoritär geführten 'Volksgemeinschaft' umzugestalten. Der Begriff 'Volk' wird dabei rassistisch oder ethnopluralistisch gedeutet."[7]

Ich füge hinzu: In der faktischen Ausprägung des Rechtsextremismus in Deutschland, die sich im Nationalsozialismus und den ihm nachfolgenden Bewegungen und Gruppierungen verkörperte, wurden die jüdischen Mitbürger zum Feindbild und Sündenbock erkoren. Zwar nicht nur ihnen, aber ihnen vorrangig galt der Hass und Vernichtungswille der Nationalsozialisten. Das Verhältnis zum jüdischen und zum Staat Israel ist daher auch heute noch ein wesentlicher Indikator für das Vorhandensein von Rechtsextremismus in deutscher Prägung.

c) Schließlich: Wie ist der so genannte "neue" Rechtsextremismus zu charakterisieren? Wie unterscheidet er sich von seiner althergebrachten, sozusagen "klassischen" Gestalt? Die ARD schreibt in einem auf ihrer Webseite veröffentlichten Dossier hierzu:

"Die rechtsextreme Bewegung in Deutschland ist vielschichtig. Die Aktivisten setzen bei der Rekrutierung auf Musik, lebensnahe Themen und abwechslungsreiche Freizeitgestaltung. Die NPD fungiert als parlamentarischer Arm, 'Freie Kameradschaften' sind für die Straßen zuständig. Bei Wahlen präsentieren sich Rechtsextreme möglichst bürgerlich, um von verbreiteten Vorurteilen zu profitieren."[8]

Man kann vielleicht sagen: Es handelt sich um einen Wolf, der Kreide gefressen hat, um seine Stimme geschmeidig zu machen. Besonders im Osten Deutschlands sind die Rechtsextremen auch oft vor Ort "Kümmerer", das heißt, sie helfen Menschen in Not und bieten vor Ort soziale Begleitstrukturen in strukturschwachen Gegenden. Daher schneiden bei Wahlen in ostdeutschen Landtagen die NPD, die Republikaner und die DVU häufig überdurchschnittlich gut ab und überspringen nicht selten die 5-Prozent-Hürde problemlos. Zuletzt schaffte dies die NPD im September 2011 in Mecklenburg-Vorpommern, wo sie wiederum in den Landtag einziehen konnte. In Berlin hat sie dies im gleichen Monat zwar nicht geschafft, erreichte aber immerhin 2,1% der Stimmen. Auch das ist nicht wenig. Vor allem dann, wenn man die Wahlplakate dieser Partei betrachtet. Ihr zentrales Motto bei der Berlin-Wahl hieß "Gas geben!". Diejenigen, die ein solches Motto wählten, wussten sicherlich, was sie taten. Dass das Anbringen dieser Plakate auf dem Rechtswege nicht verboten werden konnte, halte ich für mehr als bedauerlich. Denn vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialismus am jüdischen Volk und an vielen anderen Menschen, vor dem Hintergrund des Grauens der Konzentrationslager und der Gaskammern, ist die Wahl dieses Mottos ungeheuerlich. Manchmal lässt der Wolf dann eben doch seine Maske fallen …

Ich will es mir an dieser Stelle und vor dem Hintergrund derartiger Bodenlosigkeiten ersparen, auf die Parteiprogramme von NPD, DVU und Republikanern im Einzelnen einzugehen. Eine solche Analyse können politische Beobachter sehr viel besser leisten. Auch will ich diese Parteien nicht aufwerten. Es gibt sie, sie wirken unter uns, gehen auf die Straßen und ziehen in Parlamente ein. Das alles ist schlimm genug - nach der Katastrophe des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert, der vielleicht größten sozialen und moralischen Katastrophe, die das deutsche Volk jemals erlebt - und vor allem: selbst verursacht! - hat.

III. Die besondere geschichtliche Verantwortung Deutschlands in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus

Die soziale und moralische Katastrophe des Nationalsozialismus, die mit diesem spezifisch deutschen Phänomen des Rechtsextremismus verbundene Abgrunderfahrung, lässt mich auch heute noch zittern, zagen und zweifeln. Wie konnte es geschehen, dass ein solches Regime an die Macht kam und ein ganzes Land und schließlich die ganze Welt in den Abgrund stürzen konnte? Um hier in einem genauen und wissenschaftlichen Sinne Ursachenforschung zu betreiben, hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) schon vor fünf Jahrzehnten die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte ins Leben gerufen. Diese Institution, deren neuestes Projekt, nämlich der Aufbau einer Online-Ausstellung über den evangelischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, ich vor wenigen Tagen in Magdeburg der Öffentlichkeit vorgestellt habe, ist ein wesentliches Arbeitsinstrument, mit dem die EKD versucht, durch Pflege eines wahrheitsorientierten und vom Gewissen geleiteten institutionellen Gedächtnisses ihre geschichtliche Verantwortung wahrzunehmen.

Als EKD stehen wir in der Verantwortung, aber auch als deutsches Volk haben wir Verantwortung wahrzunehmen. Dabei kann uns nicht nur das historische und damit auch transitorische Phänomen des Nationalsozialismus beschäftigen. Vielmehr muss es uns auch darum gehen, den Rechtsextremismus in seiner aktuellen, neuen Gestalt wahrzunehmen. Es wäre daher bei weitem zu wenig, bei der Erinnerung an das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 stehen zu bleiben - so wichtig und hilfreich dieses auch war. Auch die Existenz der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte alleine wäre bei weitem zu wenig, um die nötige Aufarbeitung zu leisten. Vielmehr ist die evangelische Theologie als Wissenschaftsdisziplin im Ganzen ist gefordert, in allen ihren Fächern: In der Kirchengeschichte gilt es, die historischen Bedingungen der Möglichkeit des Entstehens von Antijudaismus und Antisemitismus zu klären. Dazu wird man auf den biblischen Kanon zurückgreifen und ihn historisch-kritisch und sicherlich auch sachkritisch befragen müssen. Denn zumindest Wurzeln des Antijudaismus gibt es in den Ur-Dokumenten unseres Glaubens. Ebenso werden die Dogmatik, die Ethik, insbesondere als Sozialethik und auch die praktische Theologie ihre spezifischen Beiträge zur Aufklärung und Bearbeitung des Problems leisten müssen. Und sie tun dies ja - Gott sei Dank - mit großem Erfolg seit Jahrzehnten. Man kann dies an der Entwicklung der Lehre vom gerechten Frieden in der evangelischen Friedensethik illustrieren. Sie entstand in den Jahren nach der großen Katastrophe nicht zuletzt auch deshalb, weil es ein Ungenügen und einen Überdruss an der Lehre vom gerechten Krieg gab, die seit Augustinus anderthalb Jahrtausende lang nahezu konkurrenzlos die christliche Friedensethik beherrscht hatte. Und wie oft hatte sie, statt Kriege zu vermeiden oder zu begrenzen, in Kriege hineingeführt oder diese gerechtfertigt. Heute denken nicht nur wir Evangelische anders: auch die römisch-katholischer Kirche bekennt sich in ihrem Hirtenwort aus dem Jahr 2000 zum gerechten Frieden, und der Ökumenische Rat der Kirchen ist, wie die in diesem Jahr im Jamaika stattgefundene Konvokation belegt, auf dem besten Wege zu einer solchen Lehre. Mit der Lehre allein ist es freilich nicht getan. Es braucht auch eine der Lehre entsprechende Praxis. Und deshalb ist es so entscheidend, dass es auch eine qualifizierte Praxis des Friedens und der Versöhnungsarbeit gibt - eine Praxis, wie sie etwa durch die freiwilligen Friedensdienste von Aktion Sühnezeichen (ASF) seit ihrer Gründung im Jahr 1958 geleistet wird. Ich will aber auch nicht verschweigen, dass an vielen Orten und in unzähligen Gemeinden in Deutschland sehr qualifizierte Auseinandersetzungen mit dem Rechtsextremismus - sowohl in seiner historischen wie auch in seiner aktuellen Gestalt - stattfinden. Die EKD ist sich auf allen Ebenen ihrer kirchlichen Existenz - in Gemeinden und Landeskirchen, an der Basis und auf kirchenleitender Ebene, in Gruppen und Kreisen, in Werken und Verbänden - ihrer besonderen Verantwortung im Umgang mit dem Rechtsextremismus bewusst und nimmt diese mit großer Sorgfalt wahr.

Umso mehr ist die EKD beunruhigt, dass sich in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft verstärkt ein neuer Rechtsextremismus ausgebreitet hat, der bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht und auch die eine oder andere Kirchengemeinde erreicht hat. Das hat einerseits mit dem oben beschriebenen Wesen des neuen Rechtsextremismus zu tun, der eben Kreide gefressen hat und in seinem wölfischen Charakter nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Zum anderen hat es mit dem Charakter unserer Kirche als Volkskirche zu tun. Immer noch sind in Deutschland mehr als 60% aller Menschen Mitglied in einer der beiden großen Kirchen. Aber als Kirche des Volkes sind wir eben nicht nur ein Gegenüber für die Gesellschaft, sondern vielmehr auch ihr integraler Bestandteil. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn sich die Mitte der Gesellschaft auch bei uns, in unseren Gemeinden und Synoden abbildet. Entwicklungen der Gesellschaft schlagen sich in der kirchlichen Mitgliederschaft nieder. Und da in eben jener gesellschaftlichen Mitte rechtsextreme und rassistische Ansichten verhaftet sind, kommt es in Einzelfällen auch vor, dass die Gemeinden selbst mit solchen Einstellungen und Äußerungen konfrontiert sind.

Das hat eine empirisch fundierte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Vom Rand zur Mitte“ aus dem Jahr 2006 genauer untersucht. Dort wird die gegenwärtige gesellschaftliche Situation mit folgenden  Worten beschrieben:

„Vor dem Hintergrund der weiten Verbreitung einzelner Dimensionen des Rechtsextremismus in der Bevölkerung verwundert es nicht, dass sich Menschen mit rechtsextremen Einstellungen bei allen erfragten Akteuren der Demokratie (Parteienanhänger, Gewerkschaftsmitglieder und Kirchen) wiederfinden lassen.“[9]

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Mitglieder der beiden großen Volkskirchen (also die EKD-Gliedkirchen und die römisch-katholische Kirche) in Fragen der Ausländerfeindlichkeit von den Konfessionslosen allenfalls geringfügig unterscheiden. Protestanten wie Katholiken weisen immerhin etwas niedrigere Werte in der Skala „Ausländerfeindlichkeit“ auf, dafür zeigen sie sich in höherem Maße anfällig für antisemitische Tendenzen. Ansonsten sind die Ergebnisse der Studie identisch und belegen nur, dass die Verbreitung von gesellschaftlichen Vorbehalten gegenüber bestimmten Personengruppen in der Kirche genauso anzutreffen ist wie im Rest der Gesellschaft.

Wie aktuell diese Sicht ist, zeigt etwa ein knapper Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) vom 3. November dieses Jahres, in dem es heißt:

"Gewöhnung an Antisemitismus

Antisemitische Einstellungen sind nach Einschätzung von Fachleuten in „erheblichem Umfang“ in der deutschen Gesellschaft verankert. Bei der Verbreitung von Antisemitismus spiele das Internet eine große Rolle. Rechtsextreme, Holocaustleugner und extremistische Islamisten nutzten das Netz als Plattform, schreibt der Expertenkreis Antisemitismus in seinem ersten Bericht, der am Mittwoch dem Bundeskabinett vorgelegt wurde. Nach einem entsprechenden Bundestagsbeschluss hatte die Bundesregierung den Kreis 2009 eingesetzt, um verstärkt gegen Antisemitismus vorzugehen. In dem Bericht heißt es, dass es nach einer Phase der Tabuisierung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mittlerweile eine „bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitete Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken“ gebe."

Bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein! Das heißt eben auch: Bis in die Mitte der Kirche hinein. Immer mehr rückt jetzt die Situation in unseren eigenen Reihen ins Bewusstsein: Die Kirche ist selbst von rechtsextremistischen Umtrieben berührt, in dem Sinne, dass Gemeindeglieder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch Gemeindegruppen sowohl von Übergriffen betroffen sind, als auch ihrerseits mit rechtsextremen Einstellungen sympathisieren.

IV. Elemente einer biblisch-theologischen Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus

Wie können wir Christenmenschen, wie können wir als evangelische Kirche mit dem neuen Rechtsextremismus umgehen? Wie können wir ihn entlarven, wie über sein Wesen aufklären? Wie können wir ihn mit den Waffen des Geistes bekämpfen und überwinden? Die Antwort kann nur lauten: Indem wir ihn aus unserer eigenen Tradition heraus, also aus der Mitte der biblischen Botschaft, mit denjenigen Kernbotschaften konfrontieren, die das Wesen des christlichen Glaubens ausmachen und die unsere Gesellschaft prägen können und sollen. Welche Kernbotschaften sind das?

Das ist zum einen der Schöpfungsgedanke, wie er im Buch "Genesis" zum Ausdruck kommt: Der eine Gott ist der Schöpfer der einen Menschheit. Gott ist von Anfang an „im Bund“ mit seiner ganzen Schöpfung und mit allen Menschen. Er hat diesen Bund immer wieder erneuert und bekräftigt. Sowohl die Noah-  als auch die Abrahamsgeschichte sind Geschichten von Bundessschlüssen Gottes mit den Menschen, denen er seine Gnade und sein Erbarmen schenkt und immer wieder neue Wege in die Zukunft weist.

Schon die Schöpfungsgeschichte enthält den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Genesis 1, 27) und damit die theologische Grundlegung für die unser Grundgesetz prägende These von der gleichen Würde aller Menschen. Wir alle sind nicht nur Gottes Geschöpfe, sondern zu seinen Ebenbildern bestimmt. Wir haben deshalb alle Menschenrechte, die wir für uns und andere fordern und verteidigen müssen. Von daher kann es im Volk Gottes keinen Unterschied der Nationen und Rassen geben Von Gott her betrachtet sind wir Menschen alle gleich. Und wo es im Leben doch faktische Unterschiede gibt, da erlegt uns die biblische Tradition die Verpflichtung auf, über Grenzen und Unterschiede der Nationalitäten, Rassen und Religionen hinweg „menschenfreundlich“ miteinander zu kooperieren.

Sodann: Die Juden, das jüdische Volk, das heute im Staat Israel lebt, bleiben das erwählte Volk Gottes, der Liebling seiner Seele (Jeremia 12,7) und sein "Augapfel“ (Sacharja 2,12), den niemand antasten darf, ohne dass es Folgen hätte. Wer mit diesen Fragen nicht sensibel umgeht - wie etwa jüngst Pfarrer Vollmer in seinem Artikel im Deutschen Pfarrerblatt (8/2011, S.404-409), der steht zu Recht rasch in der Kritik und muss sich fragen lassen, ob er eine "Israelvergessenheit 2.0" befördern möchte, wie etwa Stefan Meißner in seiner Replik auf Vollmer gefragt hat (Deutsches Pfarrerblatt 10/2011, S.521-526).

In den Rechtstexten des Alten Testaments finden sich zahlreiche, die dem Schutzgebot für Fremde und Flüchtlinge breiten Raum geben. Die Fremden stehen unter dem unbedingten Schutz Gottes, was auf den Erfahrungen gründet, die Israel selbst in der Fremde gemacht hat: „Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.“ (Exodus 23,9). Aufgrund der eigenen kollektiven Erfahrung kann sich Israel in die Situation von Fremden hineinversetzen; darum ist dem Gottesvolk zuzumuten, ja von ihm zu erwarten, dass es mit Fremden menschenwürdig und gerecht umgeht, und die Schwachen schützt, wie Gott es will.

Bereits in der Selbstvorstellung Gottes im ersten Gebot des Dekalogs stellt er sein befreiendes Handeln vor: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“ (Exodus 20,2.3). Dieses erste Gebot macht die Befreiung von Sklaverei und Unterdrückung zum unvergesslichen Attribut Gottes und integralen Bestandteil der Gemeinschaft Israels mit Gott. Darum rücken Fremde (also Menschen, die von Missachtung, Diskriminierung oder Ausgrenzung bedroht sind) in die Mitte der Schutzbestimmungen Gottes. Dieses Grundanliegen des Schutzes für Fremde durchzieht wie ein roter Faden die Gesetzestexte des Alten Testamentes: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott“ (Leviticus 19, 33f ).

Die Bedeutung dieser Gebote ist unbestritten: Liebe zu den Fremdlingen, Schutz und Gastrechte stehen geradezu im Zentrum alttestamentlicher Theologie. Die Befreiung aus Ägypten und der Bund Gottes mit seinem Volk begründen die Identität Israels, die für die damalige Umwelt Israels alles andere als selbstverständlich den Schutz der Fremden und die Achtung ihrer Rechte einschließt.

Sowohl in die Welt der Psalmen als auch in die Verkündigung der Propheten Israels hat dieser Rechtstradition ihren Eingang gefunden. Denn „Gott behütet die Fremdlinge“ (Psalm 146,9), während das Volk immer wieder daran erinnert wird, dass es „keine Gewalt übt gegen Fremdlinge“ (Jeremia 7,6). Zusammen mit den Witwen und Waisen bleiben die Fremdlinge unter göttlichem Schutz, worauf die Propheten in ihrem Einsatz gegen Korruption, Habgier und struktureller Ungerechtigkeit hinweisen (Hesekiel 22,7; Sacharja 7,19; Maleachi 3,5). Auch dahinter steht die grundlegende Überzeugung, dass alle Menschen, ganz unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Sprache eine unveräußerliche göttliche Würde haben, die von der Geschöpflichkeit allen Lebens herrührt.

Was das Neue Testament angeht, so möchte ich einerseits an Jesu Gleichnis vom Weltgericht erinnern, wie Matthäus es uns überliefert hat (Matthäus 25, 31-46). Von Jesus her ist klar, was der Auftrag der Christenmenschen ist, nämlich Hungrige zu speisen, Durstigen zu trinken zu gebe, Fremde gastfreundlich aufzunehmen und Nackte zu bekleiden. Wer die Elendsgestalten in den Konzentrationslagern vor Augen hat und dieses Gleichnis hört oder liest - wie kann er da nicht wissen, was er zu tun hat und worin der Wille Gottes an ihn besteht? "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr auch mir getan." (Matthäus 25, 40b)

Andererseits ist auf ein klares und sehr grundsätzliches Pauluswort aus dem Galaterbrief zu verweisen. An dieser Stelle hält der Apostel im Rahmen einer Besinnung auf das Sakrament der Taufe fest: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau. Denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Galater 3,28)

Das kann doch wohl nur heißen: Aus christlicher Perspektive, das heißt, mit den Augen von Christenmenschen betrachtet, gibt es keine völkischen oder gar rassischen, keine sozialen oder Klassen-Unterschiede und auch keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Jedenfalls haben diese Unterschiede, auch wenn sie im Alltag der Welt existieren, keine Wichtigkeit, keine ausschlaggebende Bedeutung mehr. Man kann vielleicht von einer definitorischen und somit grundsätzlichen Überschreitung von ethnischen, sozialen und Gender-Grenzen sprechen. Diese ist, wohlgemerkt, aus der Perspektive der christlichen Taufe zu sehen. Aber sie dehnt sich tendenziell auf Gesellschaft und Welt aus.

Mein persönliches Fazit lautet daher an dieser Stelle: Ein biblisch-theologisch wohl fundierter Glaube ruft alle Christenmenschen und die christliche Kirche in den Widerspruch und Widerstand gegen alle Formen von Rechtsextremismus, auch gegen den so genannten "neuen" Rechtsextremismus.

Begründung: Dieser verleugnet und verletzt alle wesentlichen  Grundsätze, die das Christentum in anthropologischer und ethischer Perspektive ausmachen: die Gleichheit aller Menschen als Geschöpfe Gottes, ihre Gottebenbildlichkeit, die Verpflichtung gegenüber Bedürftigen, zu denen die Fremden gehören,  die bleibende Erwählung des Volkes Israel, die grundsätzliche Überschreitung von ethnischen, sozialen und Gender-Grenzen.

V. Widerspruch und Widerstand der Kirche in der Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus

Wie kann der notwendige Widerspruch und Widerstand der evangelischen Kirche in der Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus aussehen?

Das eine ist nach meinen Ausführungen bereits klar: Er muss fundiert sein in unserer eigenen, biblisch-theologischen und also evangelischen Tradition. Aber welche Gestalt kann und muss er haben?

Er muss, sodann, vielfältig und jedenfalls in allen wesentlichen Arbeits- und Aufgabenbereichen der Kirche zu Hause sein. Er darf somit nicht nur an einzelnen Stellen, zufällig und beliebig präsent sein, sondern er muss überall dort erkennbar werden, wo Kirche öffentlich auftritt. Die Bekämpfung des neuen Rechtsextremismus muss ein wesentlicher Teil des Wächteramtes der Kirche sein, um dies traditionell zu formulieren. Etwas moderner gesagt: Es gehört zur öffentlichen Verantwortung der Kirche in der Gegenwart, dass sie dem neuen Rechtsextremismus widerspricht und widersteht.

Daher hat der öffentliche Widerspruch seinen Ort in der Lehre, in der Predigt, in aller Verkündigung und vielen Verlautbarungen der Kirche. Er äußert sich in kirchlichen Beiträgen zur  Erinnerungskultur, in Unterrichtsmodellen zur Gewaltüberwindung und zur Annahme der Fremden im Religions- und Konfirmandenunterricht sowie in der kirchlichen Jugend- und Sozialarbeit.

Und der öffentliche Widerstand unserer Kirche mag sich konkretisieren in der synodalen Initiative zur Gründung der „Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus“ im Jahre 2009, die sich in einem ausführlichen Beschluss in dieser Angelegenheit niederschlug. Er kann seinen Ausdruck finden in öffentlichen Demonstrationen, in der Beteiligung an lokalen Aktionsbündnissen. Meinen besonderen Dank an die Arbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste habe ich bereits eingangs meines Vortrages formuliert und möchte ihn an dieser Stelle ausdrücklich bekräftigen. Widerspruch und Widerstand schlagen sich auch in vielen Materialien, Projekten und Aktionen nieder, die in den einzelnen Landeskirchen ihren Ursprung und ihren Sitz im Leben haben. Beispielhaft und pars pro toto nenne ich hier die theologisch sehr gelungene und zugleich außerordentlich praxistaugliche Handreichung "Nächstenliebe verlangt Klarheit" der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. In der EKD haben wir eine umfangreiche Materialliste erstellt, die wir auf unserer Homepage[10] veröffentlicht haben. Wer will, mag sich der zahlreichen Hinweise und Angebote bedienen.

An dieser Stelle könnte und müsste man eine ganze Reihe von Fragen bearbeiten und zu klären versuchen, etwa: Sollte die Kirche öffentlich für ein Verbot der NPD eintreten? Manches spräche dafür. Ohne Zweifel ist diese Partei verfassungsfeindlich und extremistisch, eine organisatorische Exponentin und Protagonistin des neuen Rechtsextremismus. Die Wahlplakate mit der Hetzparole "Gas geben!" im vergangenen Berliner Wahlkampf habe ich schon erwähnt. Auf der anderen Seite wäre der Ausgang eines Rechtsverfahrens fraglich; die Kläger könnten sich wie im Falle dieser Wahlplakate leicht eine blutige Nase holen. Wem ware damit gedient? Auch müssen wir um die Menschen ringen und ihre Herzen zu gewinnen suchen, die rechtsextremistische Parteien wählen. Wir wollen sie, soweit sie sich selbst als Christenmenschen verstehen sollten, nicht vor den Kopf stoßen, sondern sie in aller geschwisterlicher Klarheit konfrontieren und ihnen die Sache des Evangeliums vor Augen stellen, mit allen Implikationen, die dieses hat. Also auch mit den Implkationen der Nächsten- und der Fremdenliebe.

Zwei Fragen will ich noch ansprechen, die oft gestellt und mitunter hitzig diskutiert werden. Sie betreffen den Umgang der Kirche mit dem (neuen) Rechtsextremismus in den eigenen Organisationsstrukturen. Denn, wie oben gezeigt, nicht selten und nicht zuletzt begegnen uns rechtsextremistische Kräfte ja auch in der Mitte unserer Kirche, in unseren ureigenen Strukturen, im eigenen Haus. Dabei gilt natürlich als Ausgangspunk aller Überlegungen: Politisches Engagement, auch parteipolitisches Engagement, kirchlicher Amtsträger – Hauptamtlicher wie Ehrenamtlicher - ist grundsätzlich erlaubt und zu respektieren. Im Rahmen der Lebensführungspflichten setzt das Mäßigungsgebot der politischen Betätigung dort eine Schranke, wo die Glaubwürdigkeit des kirchlichen Handelns beeinträchtigt wird. Dies gilt gleichermaßen für Amtsträger im hauptamtlichen wie im ehrenamtlichen Dienst, zum Beispiel also Kirchenvorstandsmitglieder oder Synodale. Bereits die Mitgliedschaft in einer rechtsextremistischen Partei ist geeignet, die Glaubwürdigkeit beeinträchtigen, wenn das Parteiprogramm und das politische Handeln der Partei im Widerspruch zur kirchlichen Verkündigung stehen. Ob dies der Fall ist, können und müssen die Kirchen als religiös-weltanschaulich gerade nicht neutrale Körperschaften aufgrund ihrer eigenen Entscheidungskompetenz am Maßstab von Schrift und Bekenntnis beurteilen. Die Verfassungswidrigkeit einer Partei wird dabei regelmäßig einen Verstoß gegen die kirchlichen Grundlagen indizieren. Andererseits kann eine religiöse Organisation anspruchsvollere Maßstäbe anlegen als der Staat, der bei seiner Prüfung auf das Grundgesetz beschränkt ist. Dies heißt ganz klar: Die Kirchen müssen in ihren eigenen Reihen weder bei haupt-, noch bei ehrenamtlich Mitarbeitenden dulden, dass diese gleichzeitig in einer rechtsextremistischen Partei aktiv sind.

Deutlich schwieriger ist die rechtliche Handhabe gegenüber rechtsextremistischen Kirchenmitgliedern, die kein kirchliches Amt wahrnehmen. Hier fällt oftmals das Stichwort der Kirchenzucht – mit dem selbst Insider im kirchlichen Bereich heute nicht mehr viel anfangen können. Die mahnenden „Zuchtmittel“, die die Lebensordnungsregelungen der Kirchen regelmäßig kennen, gegenüber Kirchenmitgliedern tatsächlich einzusetzen, liegt in diesen Zeiten nicht gerade nahe, steht doch immer sofort die komplette Abwendung von der Kirche zu befürchten. Dennoch: unter dem Gebot „sine vi, sed verbo“ (CA XXVIII) verstanden, ist gerade auch gegenüber Kirchenmitgliedern, die sich öffentlich rechtsextremistisch äußern oder gar rechtsextremistische Aktionen fordern, eine deutliche Mahnung angezeigt. An erster Stelle muss hier die seelsorgliche Rücksprache zu dem missbilligten Verhalten stehen, das den Widerspruch zum Zeugnis des Evangeliums aufzeigt. Wenn diese Mahnung fruchtlos ist, bleibt jedenfalls nach dem Recht eines Teils unserer Landeskirchen die Möglichkeit des Entzugs des passiven, teilweise auch des aktiven Wahlrechts. Vorrang sollte allerdings die deutliche öffentliche Missbilligung haben: Insbesondere, wenn rechtsextremistisches Gedankengut in Bezug zur Kirchenmitgliedschaft und zum kirchlichen Auftrag gesetzt wird, darf die Kirche nicht zulassen, dass ihr Anliegen verdunkelt wird.

Ausblick
Damit komme ich zum Schluss. Ohne Zweifel verlangt Nächstenliebe Klarheit. Die evangelische Kirche, ja überhaupt die christliche Kirche braucht solche Klarheit in der Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus. Sie steht deutlich und solidarisch zur freiheitlichen Demokratie. Den Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft und in ihrer eigenen Mitte kann die evangelische Kirche nur dann erfolgreich angehen, bekämpfen und mit friedlichen Mitteln überwinden, wenn sie sich auf ihre ureigene, reiche biblisch-theologische Tradition besinnt und aus der Mitte dieser Tradition heraus Ideen, Argumente und  Perspektiven für das eigene Handeln gewinnt. Dazu möchte ich meine Kirche gerne ermuntern. Dazu ermutigen und ermuntern aber auch Sie uns durch Ihr praktisches Handeln. Deshalb danke ich noch einmal abschließend der "Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus" für ihren wichtigen Dienst an unserer Gesellschaft und in unserer Kirche und wünsche Ihnen in den nächsten Jahren nachhaltigen Erfolg in Ihrem Wirken. Für uns alle erbitte ich in den vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit, von denen der neue Rechtsextremismus ja nur eine einzige, wenn auch bedeutsame Facette darstellt, Gottes Hilfe und seinen reichen Segen.

Fußnoten:

http://www.ekd.de/vortraege/huber/051024_huber_muenchen.html.

2  Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie: Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1985.

http://www.ekd.de/download/GT_19___Druckfassung_061108.pdf.

4 Das Bundesamt für Verfassungsschutz  definiert Extremismus als eine „fundamentale Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaats".

5 Eckhard Jesse: Artikel "Extremismus", in: Evangelisches Staatslexikon 4. Auflage, Stuttgart 2006, Sp.539-543.

6 Allerdings gibt es durchaus auch Asymmetrien zwischen Rechts- und Linksextremismus. Und es sollte gerade vor dem Hintergrund unserer auf die RAF sich fokussierenden bundesdeutschen Erinnerungskultur meines Erachtens nicht in Vergessenheit geraten, dass der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1980 auf dem Münchner Oktoberfest von rechtsextremer Seite verübt wurde. Am 26. September 1980 kamen dabei 13 Menschen ums Leben, 211 wurden verletzt, 68 davon schwer. Vgl. DER SPIEGEL 43/2011, S.48ff.

7 Definition der deutschen Ausgabe der Wikipedia (Stand: 23.09.2011).

8 http://www.tagesschau.de/inland/rechtsextremismus2.html.

9 Oliver Decker /Elmar Brähler unter Mitarbeit von Norman Geißler, Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2006, S. 56.

10 http://www.ekd.de/download/materialsammlung_kirche_und_rechtsextremismus.pdf