„Reformation und Politik – zur politischen Verantwortung der Kirche“ Vortrag beim Evangelischen Forum Mannheim

Nikolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort.

I. Einleitung

Die Themenjahre, mit denen wir auf den 500. Jahrestag der Reformation 2017 zugehen, wollen das weite Themenspektrum der Reformation entfalten. Sie setzen je für ein Jahr einen besonderen inhaltlichen Akzent und bringen damit Kernanliegen der Reformation neu ins Gespräch.

Das Themenjahr 2014, das wir am Reformationstag 2013 in Augsburg eröffnet haben, nimmt das spannungsreiche Verhältnis von "Reformation und Politik" mit seinen vielen Facetten in den Blick. Eine der Facetten will ich heute mit meinen Gedanken über „die politische Verantwortung der Kirche“ in den Focus Ihrer Aufmerksamkeit rücken.

Ich verstehe Kirche als die Gemeinschaft der Menschen, die ihr Fühlen, Denken und Handeln an Gottes lebendiges Wort Jesus Christus binden und an ihm ausrichten. Christenmenschen – mit Ausnahme der Fundamentalisten, die es auch im Christentum gibt - glauben und bekennen also das Wort Gottes als „lebendiges und gegenwärtiges Wort“ – nicht als festgeschriebenes Buchstabenwort. Die Heilige Schrift gibt Zeugnis von diesem lebendigen Wort. Sie ist also von Gott inspiriert, aber nicht diktiert. Gott selbst spricht uns also an, aber vermittelt durch menschliche Erfahrung. Die Bibel ist Maßstab unserer Theologie, unserer persönlichen Gottesbeziehung und auch unseres Verständnisses von Kirche. Sie ist keine ethische Grundsatzschrift und kein zeitloser moralischer Tugend- und Lasterkatalog. Deshalb halte ich eine Beschreibung von Kirche als „Ethik- und Moralinstanz“ für problematisch.

Erste Aufgabe der Kirche ist die Weitergabe und Verkündigung des Evangeliums, das im Glauben gegründete ethische Verhalten ist Folge. Insofern vermag die Bindung an Gottes Wort uns Menschen durchaus ein belastbares „Wertefundament“ zu schenken. Dieses Fundament bewegt und befähigt uns als Christenmenschen und als Kirche, auch politische Verantwortung zu übernehmen und zu gestalten – in der Gewissheit, dass der Heilige Geist uns dabei als „rechter Zeitgeist“ (so Bonhoeffer) begleitet und leitet.

Wer sich mit einem christlichen Wertefundament politisch einmischt, muss bereit sein, sich dem Widerspruch und der Kritik politisch anders denkender Christenmenschen auszusetzen. Zwar spricht das Evangelium in alle Realitäten unseres Lebens hinein – auch in die politisch
bedingten und politisch veränderbaren Realitäten – aber: Gottes Wort schenkt uns – bis auf wenige Ausnahmen – keine eindeutigen ethisch-politischen Handlungsanweisungen für die konkreten Aufgaben und Fragen des politischen Alltags. Unsere aktuellen politischen Wertungen und Entscheidungen, auch wenn wir sie nach bestem Wissen und Gewissen aus dem Evangelium ableiten, bleiben immer relativ und ambivalent. Das Evangelium wirkt wie ein Kompass, nicht wie ein Navi! Manchmal wünsche ich mir allerdings, dass eine freundliche Stimme uns sagt: „Wenn möglich, bitte umkehren!“

II. Das Evangelium ruft Christenmenschen und ruft unsere Kirche zur politischen Verantwortung

Die Einsicht, dass sich aus dem Evangelium politische Entscheidungen nicht eindeutig ableiten lassen, darf unsere Kirche unter den heutigen Bedingungen kirchlichen Lebens nicht davon abhalten, sich ihrer politischen Verantwortung zu stellen.

Kurt Marti, ein Schweizer Theologe, verdichtet die uns aus dem Evangelium zuwachsende politische Verantwortung in einem „Neuen Osterlied“. Darin heißt es:

„Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tode Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte
vergessen wäre für immer.

Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf Erden alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.

Doch der Befreier vom Tod ist auferstanden,
ist schon auferstanden, und ruft uns jetzt alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren.“

Jesus Christus hat in seinem irdischen Leben den Weg der Gewalt und der politischen Machtausübung nicht beschritten. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ (Joh 18, 36a), erklärte Jesus im Verhör vor Pilatus. Mit diesem Satz wies er nicht nur falsche Erwartungen und falsche Anklagen zurück. Mit diesem Satz proklamierte er auch den für seine Person und für seine Botschaft unauflösbaren Zusammenhang des diesseitigen Lebens mit dem zukünftigen Gottesreich. Die Bindung an das zukünftige Gottesreich bedeutete für Jesus aber nicht, dass er das gegenwärtige Leben im Hier und Jetzt nicht verändern wollte. Jesus wollte Veränderung und hat sie durch sein Reden und Tun auch bewirkt, und zwar in guter prophetischer Tradition. Frömmigkeit und Gerechtigkeit waren für ihn unzertrennliche Schwestern.

So begann Jesus nach dem Lukasevangelium sein öffentliches Auftreten mit dem Jesaja-Zitat: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ (Lukas 4, 18f)

Zur Zeit Jesu galt und für uns Heutige gilt deshalb: Wenn wir Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit nur im Jenseits verankern, dann verfehlen wir unser Leben, dann missachten
wir Gottes Willen und Gottes Gebote, dann leben wir nicht in der Nachfolge des Auferstandenen. Das „Neue Osterlied“ von Kurt Marti soll und muss in unseren Kirchen und Gemeinden gesungen werden. Unser Glaube und unsere Kirche müssen sich auch der politischen Verantwortung stellen.

In einer Predigt über das Vaterunser machte Johannes Rau deutlich, wie mit einem biblisch-christlichen Wertefundament Christenmenschen sich und ihre Kirche in politische Verantwortung für das Miteinander auf dieser Welt gerufen wissen: „Vertröstet euch nicht aufs Jenseits, sondern fangt damit schon an. Versucht jetzt schon das, was die Bergpredigt in ihrer Anstößigkeit uns als Messlatte für unser Leben vorlegt, ein Stück weit umzusetzen in die Wirklichkeit eures Lebens. Versucht zu übersetzen, dass Liebe herrschen soll, dass Hass nicht die Oberhand gewinnen darf, dass Gewalt nicht das Prinzip unserer Welt ist, dass nicht das Gegeneinanderleben, sondern das Miteinanderleben das Prinzip Jesu ist. Dann wird aus dem Gebet ‚Dein Reich komme‘ ein Stück Bereitschaft zur Lebensveränderung und zur Weltveränderung.“[1]

III. Staat und Kirche sind in ihrer politischen Verantwortung klar getrennt und zugleich aufeinander bezogen

Das Evangelium ruft Christenmenschen und die Kirche zur politischen Verantwortung. Aber die Gestalt ihrer politischen Verantwortung ist für die Kirche nicht identisch mit der Ausgestaltung der politischen Verantwortung des Staates. In der Konfrontation mit dem totalitären Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten und in Auseinandersetzung mit ideengeschichtlichen wie kirchlich-theologischen Entwicklungen im deutschen Protestantismus formulierte die Synode der Bekennenden Kirche in der Gemarker Kirche in Barmen im Mai 1934 ein bis heute wegweisendes theologisches Programm für das Selbstverständnis der Kirche und für ihr Verhältnis zu Staat und Politik. Das Fundament dieser Barmer Erklärung ist ihre dezidiert christologische Konzentration. Alle Lebensbereiche werden der Herrschaft Jesu Christi unterstellt, auch der gesamte Komplex von Religion und Politik, Kirche und Staat, Reich Gottes und Welt.

Auf dieser Basis bestimmt die fünfte These das Verhältnis von Staat und Kirche, indem sie beide Größen stark voneinander abgrenzt und die jeweiligen Aufgaben klar unterscheidet: Der Staat hat die Aufgabe, „in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“. Aufgabe der Kirche gegenüber dem Staat ist es, „an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten“ zu erinnern.

Dabei geht es im Kern um die Wahrung der Freiheit für beide Seiten: Die Freiheit des christlichen Glaubens soll vor der Bevormundung durch staatliche Macht bewahrt bleiben. Die Freiheit politischer Verantwortung soll vor klerikaler Bevormundung bewahrt bleiben. Ansprüche beider Seiten, die dieser Freiheit entgegenstehen – also wechselseitige Übergriffe –, werden als Irrlehre abgewiesen:

„Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“
(Barmen V)

In Klammern sei gesagt: ein kaum beachtetes Problem des ökumenischen Gespräches besteht darin, dass der Vatikan ein Staatsgebilde und der Papst auch ein Staatsoberhaupt, also ein „Subjekt des Völkerechtes“ ist. Das macht uns gerade von Barmen her Mühe.

Mit dieser Trennung von Staat und Kirche knüpft die Barmer Theologische Erklärung an theologische Grundlinien der Reformation an.[2] Was die Sicht von Reich Gottes und Welt bzw. Kirche und Staat angeht, waren sich der Theologe Luther und der gelernte Jurist Calvin im Grundsatz erstaunlich nahe – bei allen Unterschieden im Detail. Das mag vor allem an der gemeinsamen Frontstellung liegen, mit der beide es zu tun hatten: Bis ins 16. Jahrhundert hinein bestand über mehr als tausend Jahre hin ein enges Machtgeflecht zwischen der christlichen Kirche und einer Staatsordnung, die Rechtgläubigkeit zum Gesetz machte und Ketzerei strafrechtlich verfolgte. Diese Problematik kennzeichnet noch heute das Leben in vielen muslimischen Ländern. In „Islamischen Republiken“ ist z.B. der Religionswechsel vom Islam zum Christentum per Gesetz verboten und wird staatlich verfolgt. Man kann deswegen im Gefängnis landen oder sein Leben verlieren.

Gegen dieses Machtgeflecht von Kirche und Staat hat Martin Luther die grundlegende Unterscheidung der geistlichen und der weltlichen Gewalt gesetzt. Für diese Unterscheidung hat sich die Chiffre von der „Zwei-Reiche-Lehre“ eingebürgert, ohne dass Luther je so etwas wie eine Staatstheorie aufgestellt hätte oder dass sich aus seinen Äußerungen eine Lehre im systematischen Sinn rekonstruieren ließe.[3] Luther verfolgte mit seiner Unterscheidung eine doppelte Absicht: Zum einen wollte er – wie schon gesagt – die weltliche Gewalt von der Bevormundung durch die geistliche befreien und zugleich wollte er die geistliche Gewalt von der Bevormundung durch die weltliche befreien.

So klar Luthers Unterscheidung der zwei Regierweisen Gottes auf den ersten Blick vielleicht wirkt, so problematisch war sie in der Praxis zu gestalten. Sie führte dazu, dass die Reformatoren einerseits „gegenüber dem Papsttum und den Fürstbischöfen, aber auch gegenüber den Ideen der Täufer, dem radikalen Flügel der Reformation, die Unterscheidung von Religion und Politik“[4] betonten. Zugleich aber waren sie nach Kräften bemüht, in den eigenen Territorien die Zuordnung von Kirche und Obrigkeit neu zu gestalten: Die evangelisch gewordenen Fürsten wurden „nicht nur in die Pflicht genommen, den Schutz nach außen sicherzustellen. Ihnen w[u]rden auch die Kirchenaufsicht, die Verantwortung für Bildung und Erziehung und die evangelische Lebensführung überhaupt übertragen.“[5]

Es zeigt sich also: Auch die protestantischen Kirchen konnten der Versuchung nicht widerstehen, staatliche Machtmittel zu fordern, um ihre Vorstellung eines „richtigen Lebens“ durchzusetzen. Dieser kritische Blick sollte auch heute auf manche öffentliche Debatte geworfen werden. Freilich zeigte sich schon bald, „dass umgekehrt auch die Obrigkeit die Kirche für ihre Ziele in Dienst zu nehmen suchte“.[6] Auch diese Problematik ist uns bis in diese Tage erhalten geblieben.

In seinem Beitrag für das EKD-Magazin „Reformation. Macht. Politik.“ zum Themenjahr 2014 hat der Göttinger Sozialethiker Reiner Anselm dieses Spannungsverhältnis zwischen Staat und protestantischen Kirchen von der Reformationszeit bis in unsere Gegenwart hinein skizziert: die dunklen Episoden, in denen sich die Kirchen als zu unkritisch und darum verführbar erwiesen; der immer wieder und zu Recht aufgenommene Dreischritt von Luther über Bismarck zum Regime der Nationalsozialisten; die Mühen, die der Protestantismus lange Zeit mit modernen Staatsauffassungen hatte; aber auch die positiven Wirkungen wie die Beschränkung und Befriedung von Religionskonflikten durch das Staatskirchenrecht oder die Beteiligung der Kirchen an den großen gesellschaftlichen Diskursen der 1980er Jahre (Nachrüstungsdebatte, Elternschaft und Familienplanung). Es lohnt sich das nachzulesen und für unsere Zeit neu die Unterscheidung und den unauflöslichen Zusammenhang von Religion und Politik wie von Staat und Kirche zu buchstabieren.

Es gibt ein wichtiges sozialstaatliches Prinzip, das in besonderer Weise geeignet ist, die Freiheit gesellschaftlichen Handelns zum Beispiel durch Sozialverbände (wie z.B AWO, DRK und andere) und auch durch die Kirchen und ihre Diakonie und Caritas zu wahren. Das ist das Subsidiaritätsprinzip. Es bedeutet, dass gesellschaftliche Selbstorganisation auf der möglichst untersten gesellschaftlichen Ebene staatlicher Organisation von z.B. Sozialarbeit im Grundsatz vorzuziehen ist. Aufgabe des Staates ist es, dieses Prinzip rechtlich auszugestalten und die Finanzierung sozialen Handelns durch die Sozialpartner sicher zu stellen. Damit soll dem staatlichen Durchdringen der Gesellschaft eine Grenze gesetzt und eine plurale Bereitstellung sozialstaatlicher Leistungen durch möglichst viele Träger sichergestellt werden. Das Prinzip der Subsidiarität hat sich bewährt. Beide großen Kirchen befürworten seine Bewahrung und seine weitere Ausgestaltung. Im zusammenwachsenden Europa ist die Wahrung gesellschaftlicher Freiheit durch Subsidiarität gegen eine Haltung zu verteidigen, die sagt: „Wer zahlt, bestimmt.“ Diese Haltung ist in Brüssel durchaus vertreten, etwa im Rahmen der Entwicklungspolitik, weil in vielen Staaten der EU Subsidiarität in Theorie und Praxis nicht ausgebildet ist.

IV. ‚Da kann man nichts machen‘ ist ein gottloser Satz

Gott selbst hat sein himmlisches Reich untrennbar mit der Erde verbunden. Ja, wir Christenmenschen können und müssen es noch radikaler denken und sagen: Gott hat sich selbst in Jesus Christus untrennbar mit der Erde und den Menschen verbunden. Im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi hat Gott uns offenbar gemacht, was er um seiner und um unserer Gerechtigkeit willen von uns Menschen erwartet: Gottesliebe und Menschenliebe sollen das Trachten unserer Herzen, das Reden unseres Mundes, das Tun unserer Hände, die Begegnungen und Beziehungen unseres Alltags und auch unser politisches Entscheiden und Handeln bestimmen.

Gott will, dass wir von seiner Barmherzigkeit Zeugnis geben durch unsere Barmherzigkeit. Barmherzigkeit aber „ist eine Gesinnung, die Elend nicht sehen kann, ohne sich zum Helfen angetrieben zu fühlen.“ – so definiert meine alte biblische Taschenkonkordanz von 1961 den auch für die politische Verantwortung der Kirche unverzichtbaren Begriff „Barmherzigkeit“. Dafür brauchen wir die Kirche in unserer Gesellschaft, dass der unlösbare Zusammenhang der Barmherzigkeit, die Menschen einander tun, mit der Barmherzigkeit, die Menschen von Gott empfangen, in unserem kulturellen Gedächtnis bleibt. Dass Menschen diesen Zusammenhang in ihrem Leben erfahren und gerade auch durch ihr politisches Entscheiden und Handeln für andere Menschen erfahrbar werden lassen.

Die Bibel ruft uns zur Verantwortung für Gottes Schöpfung und sie gibt uns Wegweisung auch für die konkrete Umsetzung der politischen Verantwortung – eben nicht als „Navi“, um aktuelle ethische Entscheidungen unmittelbar in der Bibel zu finden, aber als Kompass, der die Richtung weist. So heißt es etwa in den Sprüchen: „Wer dem Geringsten Gewalt tut, der lästert dessen Schöpfer; aber wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott.“ (Sprüche 14, 31). Gottes Wort ruft Christenmenschen und unsere Kirchen in die politische Verantwortung im Interesse der Armen und Notleidenden und im Interesse der Bewahrung der Schöpfung. „Selig“, also von Gottes Wort erfüllt und begleitet, nennt Jesus uns, wenn wir nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, wenn wir Barmherzigkeit üben und für den Frieden arbeiten.

Lassen wir uns und unsere Kirchen in der Übernahme unserer politischen Verantwortung anstecken von der Inspiration der Theologin Dorothee Sölle, die uns zu einer tätigen Nachfolge Jesu aufruft: „Wir dürfen uns nicht von der Ohnmacht überwältigen lassen. ‚Da kann man nichts machen‘ ist ein gottloser Satz. So ist es eben, Hunger hat es immer gegeben, heißt sagen: Gott hat keine Hände. Zu denken, ich als einzelne kann sowieso nichts ändern, heißt, sich selber abzuschneiden von der Liebe Gottes.“[7]

V. Schlussbemerkungen

Welche biblisch-christlichen „Werte“ sollen unsere Kirche bei der Aufnahme und Gestaltung ihrer aktuellen politischen Verantwortung die Richtung weisen? Dazu will ich zum Abschluss und zum Weiterdenken in drei jeweils kurz begründeten Thesen antworten:

V.1. Das „Jüdisch-christliche Menschenbild“ ist ein tradierter Wert, der gerade auch für die aktuellen politischen und ökonomischen Fragen und Entscheidungen eine „Kompass-Funktion“ haben kann. Denn: Das christliche Menschenbild achtet und respektiert den grundsätzlichen und von Menschen nicht zu überwindenden Unterschied zwischen Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf. Gott ist der Schöpfer von Zeit und Raum und allem Lebendigen, auch von uns Menschen. Wir Menschen sind Geschöpfe, von Gott zur Verantwortung befähigt und gerufen, aber in der Übernahme von Verantwortung immer begrenzt und fehlbar – das gilt für alle Führungskräfte und Entscheidungstragenden in der Gesellschaft, auch für leitende Geistliche in der Kirche. Wir Menschen sind nicht die Herren über Leben und Tod und unsere Erkenntnisse und Einsichten sind nicht das Maß aller Dinge! Diese Demut vermag uns Wegweisung zu geben gerade auch in den heftigen Diskursen um politisch-rechtliche Entscheidungen in Ehe- und Familienfragen und in den Fragen zur Suizid- und Sterbehilfe.

V.2. Alle in unserem politischen Entscheiden und Handeln als „christlich“ beschworenen Werte sind auf das Leben, Glauben, Reden und Handel des Juden Jesus von Nazareth zu beziehen. Denn: Auch wenn inzwischen 2000 Jahre vergangen sind, auch wenn unsere konkreten Vorstellungen von Kultur, Sittlichkeit, politischer Ordnung und ökonomischen Strukturen sich wesentlich verändert haben, das Attribut „christlich“ verweist uns theoretisch und praktisch immer wieder neu auf die Frage: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Die Geschichten vom Reden und Handeln Jesu geben uns vielfältige Hinweise darauf, wie gesellschaftliches Leben und das Leben der Einzelnen gelingen kann. Ich verweise exemplarisch auf das Liebesgebot, das Jesus uns aus dem Alten Testament weitergibt: Gott sollen wir von ganzem Herzen und mit allen Kräften lieben, uns also vollständig, ohne jede Einschränkung an ihn binden. Unsere Nächsten aber sollen wir lieben wie uns selbst. Hier gibt es also die Grenze, die durch das Maß des Menschlichen vorgegeben ist. Im Verhältnis zu uns selbst und zum Nächsten darf es keine Absolutheit geben. Auch hier wird der Unterschied zwischen Gott und Mensch eingeschärft. Ihn nicht zu beachten, tut uns selbst und anderen nicht gut.

V.3. „Biblisch-christliche Werte“, die uns in der Heiligen Schrift überliefert sind, dienen nicht allein dem individuellen Seelenheil, sondern zielen immer auf ein gelingendes Leben „in Beziehung“ und „in Gemeinschaft“. Deshalb: Im Blick auf ein biblisch-christliches Wertefundament darf sich das Eintreten unserer Kirche für die Belange der Armen nicht nur in großzügiger Mildtätigkeit und Fürsorge erschöpfen. Es geht in gleicher Weise um gerechte Strukturen. Ich sehe unsere Kirchen dazu aufgerufen, durch ihr Eintreten für ein gerechtes und faires Wirtschaften, für eine sozialstaatliche Systematik und für eine aktive Friedenspolitik den Brüchen und Spannungen in unserer Welt entgegenzuwirken. Der unauflösliche Zusammenhang von Gottesliebe und Nächstenliebe sowie der unauflösliche Zusammenhang von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind der Kern der Heiligen Schrift und damit auch der Kern aller Werte, die die politische Verantwortung unserer Kirche inspirieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Fußnoten:

  1. M. Schreiber, Wer hofft, kann handeln, Johannes Rau – Gott und die Welt ins Gespräch bringen, Predigten, Holzgerlingen 2006, S. 44f.
  2. Zum Folgenden vgl. Wilfried Joest, Die Theologie Martin Luthers, in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 5. Die Reformationszeit I, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1981, S. 129-185; Helmer Junghans, Elemente der Zweireichelehre und der Zweiregimentenlehre Martin Luthers, in: Michael Beyer / Jonas Flöter / Markus Hein (Hg.), Christlicher Glaube und weltliche Herrschaft. Zum Gedenken an Günther Wartenberg, AKThG 24, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008, S. 23-40; Arnulf von Scheliha (s. Anm 1.), S. 12-50.
  3. Vgl. Junghans (s. Anm. 5), S. 23: Ältester verifizierbarer Beleg bei Karl Barth (1922) in einer Rezension zu Paul Althaus: Religiöser Sozialismus. Grundfragen der christlichen Sozialethik, 1921: Barth spricht von der „paradoxen Lehre von den zwei Reichen“. Bedeutend für die Verbreitung des Begriffs ist vor allem die Disseration von Harald Diem, Gesetz und Evangelium in Luthers Lehre von den zwei Reichen, untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus, München 1938.
  4. Reiner Anselm, Produktives Spannungsverhältnis. Zwei Seiten einer Medaille? Der Staat und der Protestantismus, in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Reformation. Macht. Politik. EKD-Magazin zum Themenjahr 2014 Reformation und Politik, Hannover 2013, S. 6-9: S. 6.
  5. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Dorothee Sölle, Den Rhythmus des Lebens spüren, Freiburg 2001, S.107.