Vielfalt leben! - Die Friedensverpflichtung der Religionen

Präses Irmgard Schwaetzer auf dem Sommerfest der Evangelischen Akademie zu Berlin

„Tu das, so wirst du leben“

„Tu das, so wirst du leben,“ sagt Jesus zu einem Schriftgelehrten. Er meint damit das so genannte Doppelgebot der Liebe: „Du sollst dein Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Der Schriftgelehrte hatte Jesus gefragt, was er denn tun müsse, um ewig zu leben. „Was sagt denn das Gesetz?“ hatte Jesus zurückgefragt, also sinngemäß: „Was sagt denn die Bibel?“ Der Schriftgelehrte zitiert daraufhin das doppelte Liebesgebot aus dem 5. Buch Mose. „Genau,“ sagt Jesus, „tu das, so wirst du leben“.

Sie kennen diese Szene vermutlich. Es ist das Zwiegespräch, mit dem die Erzählung vom Barmherzigen Samariter beginnt. Der Schriftgelehrte geht nämlich nicht einfach hin und tut, was Jesus sagt, sondern er fragt nach: „Wer ist denn mein Nächster?“ Darauf antwortet Jesus dann, indem er von dem Menschen erzählt, der unter die Räuber gefallen ist, und dem am Ende nur einer hilft: der Mann aus Samaria.

„Tu das, so wirst du leben.“ Die Aufforderung impliziert, dass wir uns entscheiden können. Wir können so oder anders handeln, und wir werden entsprechend so oder anders leben. Die Frage, die hinter dieser Aufforderung Jesu steht, heißt also: Wie wollen wir leben? -

Als biblisches Motto für die Synode der EKD, die sich im November mit der Frage befassen wird, was es für ein gestärktes, solidarisches und weltoffenes Europa braucht und welchen Beitrag die Kirchen dazu leisten können, haben wir eben diese Formulierung aus dem Lukasevangelium gewählt: „so wirst du leben“. In ihrer schillernden Offenheit, je nachdem wie man betont: „SO (oder SO oder noch anders) wirst du leben; ihr habt eine Wahl.“ – Oder: „… so wirst du LEBEN“; so hat Europa eine Chance.

„Tu das, so wirst Du leben“ ist die Zusage an jeden, der Gott und seine Nächsten liebt. Wie der Mann aus Samaria, der einen unter die Räuber Gefallenen nicht gleichgültig liegen lässt. „Tu das, so wirst du leben“ – so verstehen wir Gottes Zusage an uns in Europa und in der Einen Welt, wenn wir Gleichgültigkeit und Eigeninteressen überwinden, Frieden und Gerechtigkeit üben.

Wie wir leben wollen, ist die Frage, die uns in dieser krisenhaften Situation im Kern unserer Existenz berührt. Die Unsicherheit, die durch terroristische Anschläge, durch Bürgerkriege in unserer Nachbarschaft, durch die Zumutungen der Zuwanderung, ja auch durch die immer wieder aufflammende Finanzkrise ausgelöst werden, löst Ängste aus, die wir Christen nicht dadurch verstärken wollen, in dem wir ihnen nachgeben. Die große gesellschaftliche Auseinandersetzung über unsere Zukunft in Europa, die gerade erst begonnen hat, geht um drei zentrale Fragen:

  1. Wie kann das Vertrauen in die multilateralen, die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen gestärkt werden, um einen sicheren Rahmen für das friedliche Zusammenleben zu haben?
  2. Wie wird Vielfalt in Toleranz gelebt?
  3. Wie kann die Inklusion der Schwachen – der Diskriminierten, derer, die am Rand stehen, der Fremden –Zusammenhalt schaffen?

Europa am Scheideweg

Über die Antwort auf diese drei Fragen – oder kurz gesagt: darüber, wie wir leben wollen, – „darüber scheint Europa zutiefst gespalten zu sein.“ Das ist jedenfalls der Eindruck, den der Entwurf für die Kundgebung der EKD-Synode im November vom gegenwärtigen Zustand gewonnen hat. „Der Weg zu einer Europäischen Union nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Vision und ein Projekt des Friedens und der Aussöhnung auf der Grundlage wirtschaftlicher Zusammenarbeit. ‚Die Einigung Europas mit der Überwindung historischer Feindschaften nach 1945 hat den beteiligten Staaten eine nie dagewesene Phase des Friedens und der Freundschaft, der wirtschaftlichen Stärke und Stabilität sowie des Aufbaus demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen gebracht.’ [Rat der EKD am 23.4.2016 in Brüssel] Das Referendum zum Austritt Großbritanniens und der gleichzeitige Wunsch mehrerer Staaten, der Europäischen Union beizutreten, zeigen, wie unterschiedlich die Europäische Union heute gesehen wird. Für die meisten Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ist ein Leben in Frieden heute so selbstverständlich geworden, dass es scheint, Europa als Friedensprojekt könne keine Strahlkraft mehr entwickeln und keine gemeinsamen Interessen mehr begründen.“ [1]

Und in der Tat: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ So steht es in Artikel 1a des Vertrages von Lissabon.

Aber ob diese Werte als unveräußerliche Grundlage des Zusammenlebens anerkannt werden, ist gegenwärtig nicht ausgemacht. In manchen europäischen Staaten wird mit starker Unterstützung ihrer Bevölkerung die Geltung dieser Werte in Frage gestellt. Europa steht am Scheideweg.

Es gibt keinen Konsens, nicht einmal eine Annäherung über das Ziel der Gemeinschaft – eine lose Union zum Ausleben gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen mit Staaten, die jeder ihr eigenes Ding machen oder eine Union mit gemeinsamen Werten und Zielen, die ihren Platz in der globalisierten Welt gemeinsam sucht. Es gibt keinen Konsens über die Antworten auf drängende aktuelle Fragen wie den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Abgrenzungen und die Konstruktion von Identitäten zu ihrer Rechtfertigung bestimmen den Diskurs – vor allem, aber nicht nur – in den Ländern der EU, die erst vor wenigen Jahren der Union beigetreten sind.

Das Wirken der kirchlichen Bünde

So gespalten wie die Europäische Union und die Gesellschaften in vielen Ländern der EU – so gespalten sind auch die Kirchen. Das bekommen insbesondere die kirchlichen Zusammenschlüsse zu spüren, die es sich seit vielen Jahren zur Aufgabe machen, sich in Europa (und weltweit) für Recht und Gerechtigkeit einzutreten, und die Solidarität und den Zusammenhalt zwischen Ländern und Gesellschaften zu stärken.

Die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) etwa hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Dialog zwischen den Kirchen und mit anderen Religionen in Europa zu gestalten, und sie vertritt die Kirchen gegenüber den Europäischen Institutionen. Inhaltliche Schwerpunkte sind die Themen Frieden, Menschenrechte, ökonomische und ökologische Gerechtigkeit, Bioethik, Bildung für Demokratie, Migration und Asyl, sowie die EU-Gesetzgebung. Die KEK arbeitet eng mit der Kommission für Migranten in Europa zusammen, was sich insbesondere 2015, als die Situation von Flüchtlingen an den Außen- und Innengrenzen der EU kulminierte, sehr positiv ausgewirkt hat. Die Hilfe für Flüchtlinge, Projekte an den Außengrenzen Europas und in Aufnahmeländern sind eine bleibende Aufgabe vieler Mitgliedskirchen.

In der KEK ist die Frage, welchen Beitrag die Kirchen darüber hinaus zum Projekt Europa verlässlich leisten können, hoch brisant. Viele Mitgliedskirchen der KEK sind besorgt angesichts neuer Nationalismen, die mit Ausländerfeindlichkeit und Rechtspopulismus einhergehen. Europa als Friedensprojekt erscheint gefährdet. Aus Sicht des Vorstandes der KEK ist dieser Ansatz jedoch alternativlos. Die nächste Vollversammlung im Jahr 2018 wird daher das Thema der europäischen Identität in Verbindung mit der kirchlichen Aufgabe, Versöhnung zu stiften, aufnehmen.

Angesichts der aktuellen Entwicklungen in Europa und in Vorbereitung auf die Vollversammlung hat der Vorstand der KEK im Juli 2016 einen Offenen Brief unter dem Titel „Welche Zukunft für Europa/What future for Europe“ zur Diskussion an die Mitgliedskirchen und Partnerorganisationen geschickt und um Rückmeldungen gebeten.

Anders als die KEK ist die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ist zunächst und vor allem Kirchengemeinschaft: die Gemeinschaft fast aller lutherischen, reformierten und methodistischen Kirchen in Europa, die sich 1973 (bzw. die Methodisten 1997) mit der Leuenberger Konkordie zu gegenseitiger Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft verpflichtet haben. Seither darf ein lutherischer Pfarrer auf einer reformierten Kanzel predigen oder eine französische Pfarrerin eine Gemeinde in Deutschland leiten. Die GEKE steht damit für einen Konvergenzprozess, der die protestantischen Kirchen in Europa aus ihrer historisch bedingten Kleinteiligkeit und Regionalität zu einer „Einheit in versöhnter Verschiedenheit (bzw. Vielfalt)“ geführt hat. Das heißt: in der GEKE haben die Evangelischen Kirchen im Grunde auf ihrer Ebene den politischen und institutionellen Prozess vollzogen, den die Staaten Europas auf ihre Weise gestaltet haben.

Die Mitgliedskirchen der GEKE arbeiten gemeinsam daran, sich trotz der bestehenden Unterschiede einander anzunähern, wo immer dies möglich ist. In fortlaufenden Lehrgesprächen behandeln sie Fragen der Theologie und des Glaubens und formulieren reformatorische Positionen zu geistlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit.

Auch die GEKE ist damit eine gemeinsame Stimme der Protestanten gegenüber den politischen Institutionen in Europa. Viele Mitgliedskirchen sind Minderheitskirchen, die unter teils schwierigen Bedingungen ihren Auftrag wahrnehmen. Seit 15 Jahren versucht die GEKE, die Positionen ihrer Mitgliedskirchen zu gesellschaftspolitischen Fragen zu bündeln und in den Dialog mit den europäischen Institutionen einzubringen. Sie tut das in enger Kooperation mit der KEK.

Der Generalsekretär der GEKE, der Bischof der österreichisch-lutherischen Kirche, Michael Bünker, überraschte den Rat der EKD bei einem Gespräch in Brüssel mit der Formulierung, dass Europa auf eine „Bekenntnisfrage“ zusteuere: das Bekenntnis zur Nächstenliebe als lebendigem Teil unseres Christusbekenntnisses müsse wieder neu sichtbar gemacht werden. Dies sei die Grundvoraussetzung für die Stärkung des Zusammenhalts in Europa und darum in der gegenwärtigen Situation besonders dringend.

Was die KEK und die GEKE auf europäischer Ebene initiieren, bearbeitet der Ökumenische Rat der Kirchen mit weltweiter Perspektive. Der ÖRK vertritt mit seinen 348 Mitgliedskirchen eine halbe Milliarde Christinnen und Christen auf der ganzen Welt. Gerade angesichts der vielen globalen Gefährdungen, Konflikte und Kriege haben in den letzten Jahren zunehmend auch säkulare gesellschaftliche und politische Organisationen den ÖRK als einen wichtigen Partner für Fragen von Gerechtigkeit und Frieden entdeckt. Es war der Generalsekretär des ÖRK, Olav Fykse Tveit, der zusammen mit Heinrich Bedford-Strohm Ende Oktober 2015 Bischöfe und Kirchenführer nach München eingeladen hat, um über die Herausforderungen der Flüchtlingskrise zu beraten. Und es war der ÖRK, der in der Folge dieser Gespräche in München gemeinsam mit dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) und dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) im Januar 2016 achtzig Regierungsvertreter, Mitarbeiter der UN- Organisationen, sowie Kirchenvertreter aus den Ländern Europas, des Mittleren Ostens und Afrikas, die von der gegenwärtigen Flüchtlingskrise betroffen sind, nach Genf zu einer Konsultation eingeladen hat.

Wie notwendig solche Prozesse der gegenseitigen Verständigung gerade auch im Blick auf das friedliche Miteinander in Europa sind, hat der Rat der EKD am Schluss seiner Tagung in Brüssel im April dieses Jahres formuliert:

„Fünfundzwanzig Jahre nach der Überwindung von Diktatur und Spaltung in Europa steht die Europäische Union am Scheideweg. Die freiheitlichen, sozialen, ökonomischen und moralischen Errungenschaften des Friedensprojektes Europa werden von Populisten und Extremisten und dem schwindenden Rückhalt in den Mitgliedsstaaten existenziell bedroht. Auch das Wachsen sozialer Ungleichheiten, die Jugendarbeitslosigkeit und die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich schaffen Enttäuschungen und gefährden den Zusammenhalt in Europa.“ Und „Die EKD setzt auf die kulturellen, ethischen und sozialen Ressourcen Europas und seine ökonomische Kraft. Dem europäischen und dem christlichen Geist entspricht es, sich über Grenzen hinaus selbstbewusst zu öffnen. Als EKD engagieren wir uns deshalb für ein Europa der versöhnten Verschiedenheit, das sich seiner weltweiten Verantwortung stellt. Vertrauen in die Europäische Gemeinschaft könne allerdings erst wieder wachsen, wenn Probleme offen und lösungsorientiert diskutiert werden und Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen sichtbar werde. Das erweise sich nicht nur an der Lösung der nach wie vor andauernden Finanzkrise sondern auch an der Etablierung eines gemeinschaftlichen Asylrechts mit gleichen Standards.“[2]

Friedensaufgaben inmitten der Krisen

Vor neun Jahren hat der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, in einem Vortrag acht „grundlegende Friedensaufgaben der christlichen Kirchen“ benannt:[3]

  • Aufgabe der Kirche ist es, „für den Frieden zu beten und das Evangelium zu verkündigen“, sagt er.
  • Aufgabe der Kirchen ist es, Bildung zu vermitteln im Sinn grundlegender Orientierungen an christlichen Werten und Normen.
  • Aufgabe der Kirchen ist es, in der öffentlichen Diskussion ethische Überlegungen darüber anzustellen, wie sich Friedensbemühungen fördern lassen.
  • Aufgabe der Kirchen ist es, die politisch Verantwortlichen wirksam daran zu erinnern, dass sie auf Recht und Gerechtigkeit verpflichtet sind und dass sie das ihnen Mögliche zur Wahrung und Förderung des Friedens zu tun haben.
  • Zur Aufgabe der Kirchen gehört aber auch die Seelsorge an denen, die in Politik und Gesellschaft handeln. Das gilt für die politisch Verantwortlichen ebenso wie für die Soldatinnen und Soldaten – und gleichermaßen für die Zivildienstleistenden
  • Zur Aufgabe der Kirchen gehört es, zivile (christlichen) Friedens- und Freiwilligendienste auf- und auszubauen.
  • Zur Aufgabe der Kirchen gehört es, Kontakte zu anderen Völkern und Nationen zu pflegen durch das weltweite Netz ökumenischer Verbundenheit, das zwischen den Kirchen besteht.
  • Und zur Aufgabe der Kirche gehört das Gespräch mit anderen Religionen – ein Gespräch, wohlgemerkt, das die bestehenden religiösen und kulturellen Differenzen achtet und nicht kleinredet.

Diese Aufgaben gelten bis heute. Und damit ist klar umrissen, welche Mittel den Kirchen zur Verfügung stehen, um in Krisen adäquat zu handeln. Ich möchte nun aber auf die drei zentralen Fragen zurückkommen, die ich eingangs formuliert habe: (1) Wie kann das Vertrauen in die multilateralen, die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen gestärkt werden, um einen sicheren Rahmen für das friedliche Zusammenleben zu haben? (2) Wie wird Vielfalt in Toleranz gelebt? Und (3) Wie kann die Inklusion der Schwachen – der Diskriminierten, derer, die am Rand stehen, der Fremden –Zusammenhalt schaffen? Und ich möchte im Blick auf diese drei Fragen abschließend kurz skizzieren, wie die Friedensverantwortung der Kirchen aussehen kann.

Vertrauen stärken

Die Zukunft der Demokratie kann uns nicht egal sein. Sie setzt den Rahmen für das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft. Ein funktionierender Rechtsstaat schafft die Grundlage gegen willkürliche Ausgrenzung und Diskriminierung von Andersdenkenden und Fremden. Jetzt geht es darum, die offene Gesellschaft und die Demokratie insgesamt zu verteidigen. Die Entwicklung des Rechtspopulismus in Europa zeigt, dass wir einen europaweiten öffentlichen Diskurs über unsere gemeinsamen Interessen auf der Grundlage der im Lissabon-Vertrag festgeschriebenen Werte brauchen. Dieser Diskurs muss in der Politik, in den Medien und in der Zivilgesellschaft geführt werden – und damit gerade auch in den Kirchen! Deshalb ist der offene Brief der Konferenz Europäischer Kirchen so wichtig, in dem sie den Dialog mit den Kirchen und ihren Mitgliedern in den Staaten Europas sucht. Alle Mitgliedskirchen der KEK und möglichst viele Kirchenmitglieder sollten sich daran beteiligen.

Trotz aller Hilfe, die unser Glaube uns zum Leben gibt, sind Kirchenmitglieder keineswegs immun gegen Ängste vor dem Fremden. Auch in unseren Gemeinden gibt es Positionen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Sie lassen sich nicht dadurch auflösen oder verändern, dass wir die Probleme ausblenden oder totschweigen, die zu solchen Positionen führen. Die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, auch mit rechtspopulistischen Parolen muss breit geführt werden. Dabei muss besonders bedacht werden, was wir tun können, um das Grundvertrauen in die Demokratie dort zu stärken, wo die Anfälligkeit für rechte Parolen besonders groß zu sein scheint. Dies ist keine Aufgabe nur für Politiker. Jetzt ist die Zivilgesellschaft gefordert – und das heißt: jeder von uns, auch und gerade die Kirchen.

Vielfalt in Toleranz leben

Miteinander können die Religionen etwas für den Frieden tun, was jede einzelne von ihnen für sich allein nur sehr viel schlechter könnte. Sie können Beispiele gelebter Toleranz geben. Sie können zeigen, wie Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensformen in wechselseitiger Achtung miteinander leben können. Toleranz ist freilich nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit und Gleichgültigkeit. Gelebte Toleranz setzt eine Haltung voraus, die auf der Grundlage des Wissens um das, was einem wichtig ist, Respekt und Achtung zeigt vor dem, was anderen wichtig ist. Dazu gehört die Bereitschaft, konkurrierende Wahrheitsansprüche achtungsvoll auszutragen. Die Praxis des ökumenischen und interreligiösen Miteinanders in vielen Gemeinden und Landeskirchen ist dafür heute beispielhaft.

Gewalt – egal ob physische oder psychische – kann niemals ein akzeptiertes Mittel in der Auseinandersetzung um Wahrheitsansprüche sein. Auch der in vielen Konflikten zwischen Religionen und Konfessionen in der Vergangenheit und in der Gegenwart in der Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen verborgene Kampf um Macht dient nicht dem Menschen. Mit der Leuenberger Konkordie von 1973 haben die Kirchen der Reformation ein Beispiel für „versöhnte Verschiedenheit“ als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in pluralen Gesellschaften gegeben. Auf der Basis dieser Erfahrungen beteiligen sich die Kirchen an Prozessen des „Healing of Memories“, wie sie (nach guten Erfahrungen in Südafrika und in Nordirland) u.a. zwischen den Kirchen in Rumänien in den letzten Jahren stattgefunden haben. Im Kontext der Feiern von 500 Jahren Reformation haben auch die beiden großen Konfessionen einen Prozess des „Healings of Memories“ begonnen – zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen, zwischen der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz. Es geht darum, im Dialog um die theologische Grundlagen zu verstehen, wie Trennendes entstehen konnte und sich zu bemühen, dass uns Fragen des Glaubens nicht länger trennen, sondern dass wir Gemeinsames auch gemeinsam leben können. Als sichtbares Zeichen des Erreichten und deutliches Signal für die Zukunft wird am 31. Oktober diesen Jahres ein gemeinsamer Gottesdienst des Lutherischen Weltbundes mit dem Päpstlichen Einheitsrat in Lund gefeiert, zu dem auch Papst Franziskus erwartet wird. Und am 11. März 2017 wird es einen ökumenischen Gottesdienst in Hildesheim von EKD und Deutscher Bischofskonferenz geben, in dem die nachreformatorische Schuldgeschichte benannt und versöhnt werden soll.

Zusammenhalt durch Inklusion fördern

Ein Blick auf die Entwicklung von Gewalt in Europa zeigt: Zu den wesentlichen Faktoren, die Gewalt auslösen bzw. Gewaltpotential fördern, gehören Ausgrenzungserfahrungen, gefühlte Ungerechtigkeit, tatsächlich wachsende Ungleichheit und fehlende Chancen. Die Entwicklungen in jüngster Zeit machen deutlich, dass alle Bildungsanstrengungen und die Bemühungen um die Gestaltung einer solidarischen Union nicht genug waren. Erfahrbare Gerechtigkeit, Chancengleichheit und erlebbare Gemeinschaft müssen als Ziele neu und stärker in den Fokus von Politik, Kirchen und Zivilgesellschaft rücken. Dazu gehört auch die Frage, wie weit eine Anpassung an bei uns geltende Gewohnheiten und Standards durch Gesetz erzwungen werden darf und ob dadurch die Integration gefördert wird. Neben der Frage der Religionsfreiheit, die Christen natürlich auch für andere Religionen verteidigen sollten, muss immer die Auswirkung der Regelung auf die vom Einzelnen vollzogene Integration bedacht werden. Bildung ist eine Schlüsselfrage der Integration.

Die Jugend Europas hat einen anderen Blick auf die Zukunft der Union als die Älteren. Das hat das „Brexit“-Votum in Großbritannien gezeigt. Für die jungen Leute ist Europa die Zukunft. Um ihretwillen muss die Europäische Union sich verändern. Wir Älteren dürfen unsere Ängste unsere Frustration dieses Mal nicht zu Lasten der Jungen ausleben.

Damit komme ich zum Schluss. Ich habe vorhin die acht grundlegenden Friedensaufgaben der christlichen Kirchen erwähnt, die Wolfgang Huber formuliert hat. Und ich habe gesagt: sie gelten heute genauso wie vor neun Jahren. Zu unseren vornehmsten Aufgaben gehört es, dass wir für den Frieden zu beten und dass wir die Friedensbotschaft des Evangeliums verkündigen. Und natürlich gehört es zu den Aufgaben der Kirchen, sich an den öffentlichen Diskursen zu beteiligen und die politisch Verantwortlichen daran zu erinnern, dass sie das ihnen Mögliche zur Förderung des Friedens tun. Diese Aufgabe aber wäre missverstanden, wenn sie am Ende dazu führte, dass die Kirchen die Politik kommentieren. Die Kirchen können und wollen der Politik nicht die Last der Entscheidung der konkreten Rahmenbedingungen abnehmen. Aber sie werden sich an der Gestaltung einer Gesellschaft beteiligen, in der „nicht Griechen, noch Römer, nicht Mann noch Frau“ unterschiedliche Chancen auf Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einem guten Leben haben und sagen können: so wollen wir leben. Unsere zentrale friedensfördernde Aufgabe als Kirche(n) in dieser Zeit ist es, dass wir uns selber neu als Akteure verstehen. Dass wir aktiv werden und eigene Maßnahmen ergreifen, die zu Verständigung und Frieden beitragen. Damit verkündigen wir das Evangelium am sachgerechtesten, und damit dienen wir der Welt mit dem Besten, das wir haben: mit dem Geist der Nächstenliebe, den Jesus uns neu geschenkt hat.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


  1. Entwurf für die Kundgebung der Synode der EKD im November 2016 in der Fassung vom 15.08.2016, Abschnitt 2 und 3.
  2. Rat der EKD am 23. April 2016 in Brüssel.
  3. Wolfgang Huber, Die Verantwortung der Religionen für den Frieden Europas, Vortrag am 15. März 2007 in Dresden (Reihe „Wege zu einer Kultur des Friedens“ in der Frauenkirche), www.ekd.de.