Es ist normal, verschieden zu sein

Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Januar 2015

1. Inklusion - ein Paradigmenwechsel

Der Begriff der Inklusion markiert das Anliegen, die Gesellschaft so zu gestalten, dass alle Menschen in ihrer je eigenen Individualität von Anfang an einbezogen werden. Inklusion ist zum Leitbild eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels geworden. Separierungen sollen überwunden, Teilhabe für alle gleichberechtigt ermöglicht, Vielfalt wertgeschätzt werden. Niemanden als »anderen« oder »Fremden« auszugrenzen, etwa weil er oder sie einen anderen ethnischen oder kulturellen Hintergrund hat, zu einer religiösen oder zu einer sexuellen Minderheit gehört oder eben mit einer Behinderung lebt — das ist das zentrale Lebensprinzip einer vielfältigen Gemeinschaft. Mit diesem Grundverständnis von Inklusion ist ein entscheidender Paradigmenwechsel im Blick auf die Wahrnehmung und Gestaltung unserer Gesellschaft verbunden.

Der Begriff »Inklusion« wurde Anfang dieses Jahrhunderts in die deutsche Fachsprache eingeführt. Zur allgemeinen Verbreitung des Konzeptes hat dessen prominente Setzung in der UN-Behindertenrechtskonvention mit ihrem menschenrechtsbasierten Grundverständnis von Behinderung beigetragen. Im Anschluss löste sich das Konzept zum Teil aus seinem Bezug zu Menschen mit Behinderungen und wurde zu einem generellen Prinzip für den gesellschaftlichen Umgang mit Vielfalt. In den Blick kamen ebenso die Wahrnehmung der zunehmenden Spaltung zwischen Armen und Reichen in unserer Gesellschaft, die Genderfrage, das Miteinander der Generationen sowie die Herausforderungen kultureller und religiöser Vielfalt angesichts einer verstärkten Migration. Auf der einen Seite ist die begriffliche Ausweitung des Inklusionsverständnisses naheliegend, wenn es darum geht, jede Form von Ausgrenzung zu vermeiden. Auf der anderen Seite besteht bei einer solchen Ausweitung die Gefahr, dass das Konzept seinen politischen Aufforderungscharakter verliert und zu einer harmonisierenden Utopie ohne kritische Funktion verflacht. Gerade für kirchliches Handeln sind aber mit dem Begriff der Inklusion große Herausforderungen für Gemeinde, Diakonie und Bildung markiert. Diese betreffen alle Menschen — mit und ohne Behinderung. Deshalb steht in dieser Schrift die engere Bedeutung des Verständnisses von Inklusion im Mittelpunkt, allerdings ohne damit die weiteren Bezüge gesellschaftlicher Inklusion aus den Augen zu verlieren. Sie wird im Folgenden in vier grundlegenden Perspektiven entfaltet.

1.1 Inklusion als menschenrechtliche Leitnorm

Große gesellschaftliche Schubkraft entfaltete die Forderung nach Inklusion seit deren prominenter Setzung in der UNBehindertenrechtskonvention. In ihr wird Inklusion als menschenrechtliche Leitnorm verstanden. Als Ziel formuliert die Konvention die »volle und wirksame Partizipation und Inklusion« (Art. 3) von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen. Ihre grundlegenden Forderungen lauten:

  • Anerkennung von Menschen mit Behinderungen als gleichberechtigte und gleichwertige Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft,
  • Verwirklichung der vollen und wirksamen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen unabhängig von Art und Schweregrad ihrer Beeinträchtigung,
  • Achtung der Würde und Autonomie von Menschen mit Behinderungen,
  • Respekt vor der Unterschiedlichkeit und die gesellschaftliche Wertschätzung der Menschen mit Behinderungen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat 2009 einstimmig in Bundestag und Bundesrat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert, nachdem Deutschland sie bereits 2007 unterzeichnet hatte. In der Konvention sind für alle Lebensbereiche staatliche Verpflichtungen formuliert, deren Erfüllung gewährleistet, dass Menschen mit Behinderungen in den vollen gleichberechtigten Genuss ihrer Menschenrechte kommen und wie alle anderen am gesellschaftlichen Leben partizipieren können. Diese Rechte müssen in Teilen hier und jetzt eingelöst werden (etwa das Recht auf Leben, das Recht auf Integrität der Person), ein Teil der Inhalte kann sukzessive (progressiv) in nationales Recht und gesellschaftliche Praxis (etwa das Recht auf Arbeit, das Recht auf Gesundheit) umgesetzt werden. Diese menschenrechtlichen Vorgaben, die für den Staat echte Verpflichtungen bedeuten, sind als gesellschaftlicher Auftrag auch für kirchliches Handeln bindend. Mit den Vereinten Nationen erkennt Deutschland an, dass Menschen mit Behinderungen Personenkreisen angehören, die es hinsichtlich der Verwirklichung ihrer Menschenrechte schwerer haben und denen deshalb Schutz und besondere Aufmerksamkeit zustehen. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention wurde deutlich hervorgehoben, dass Menschen mit Behinderungen mit gleichen Rechten wie alle Bürgerinnen und Bürger ausgestattet sind. Damit diese Rechte voll zur Wirkung kommen können, müssen sie uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Die inklusive Gesellschaft begünstigt die volle Verwirklichung aller Rechte. Dies setzt voraus, dass der bestehende normative Rahmen zum Abbau von Diskriminierung und Benachteiligung sowie das Gebot zur Schaffung von inklusiven Lebensverhältnissen auch im Alltag mit Leben gefüllt werden.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, seit ihrer Ratifizierung im Rang eines Bundesrechts. Sie bestätigt die Geltung der Menschenrechte, die bereits in anderen Menschenrechtsverträgen verbrieft sind, für Menschen mit Behinderungen. Zugleich verdeutlicht sie aber auch, dass die Verwirklichung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen deren spezifische Lebenssituation in den Blick nehmen muss, und konkretisiert daraufhin die Menschenrechte. Darüber hinaus erkennt die UN-Behindertenrechtskonvention ausdrücklich an, dass die gleichberechtigte Ausübung von Menschenrechten in besonderem Maße von der Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen abhängig ist, und legt deswegen ein besonderes Gewicht auf staatliche Verpflichtungen, etwa zur Schaffung von Barrierefreiheit in ihren vielfältigen Aspekten (Umwelt, Kommunikation, Bildung) sowie auf gesellschaftliche Bewusstseinsbildung. Dabei geht es darum, dass Inklusion als Überzeugung und Haltung in den Köpfen und Herzen aller Menschen im Gemeinwesen Einzug hält und die Praxis im täglichen wie im professionellen Handeln bestimmt. Inklusion ist keineswegs nur eine Sache von Expertinnen und Experten; sie fußt auf gerechter Teilhabe, der Akzeptanz von Vielfalt und der Entwicklung einer Kultur gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung.

Mit diesem Verständnis ist die Abkehr von der Defizitorientierung und einem System von falsch verstandener Wohltätigkeit und bevormundender Fürsorge verbunden. Pestalozzis frühes Wort »Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade« macht deutlich: Bei Inklusion geht es um die Einlösung von Rechten, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten, und nicht um Wohltätigkeit, um individuelle oder kollektive »gnädige Herabneigung« zu Schwachen und Hilfebedürftigen.

1.2 Inklusion als gesellschaftlicher Entwicklungsprozess

Der UN-Behindertenrechtskonvention liegt das Leitbild einer Gesellschaft zugrunde, in der bürgerliche Freiheit in Gleichheit garantiert und entwickelt ist, die Vielfalt des menschlichen Lebens anerkannt wird und Freiräume geschaffen sind, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen ihre Potenziale ausschöpfen und nach ihren Wünschen und Fähigkeiten selbstbestimmt leben können.

Mit dem Konzept der Inklusion wird zunächst die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt. Teilhabe als soziales Geschehen bedeutet nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) das »Einbezogensein in eine Lebenssituation oder einen Lebensbereich« [7]. Dies kann kleinräumig im Blick auf Familie oder Freundeskreis verstanden werden, es kann aber auch auf mittlere und größere soziale Zusammenhänge und Organisationen wie Schule, Arbeitswelt und Wohnquartiere oder die politische Teilhabe bezogen sein. Es geht um die Gesellschaft als Ganze, die alle Menschen gleichberechtigt, in vielfältigen Rollen und Zusammenhängen und selbstbestimmt mitgestalten sollen. Durch diese gesellschaftliche Vision verändert sich der Blick auf Behinderung. Stand vormals ein Bild von Behinderung im medizinischen Sinne im Fokus, das gesundheitliche Probleme (Schädigungen und Funktionseinschränkungen) der Einzelnen heraushob, wird heute die Beeinträchtigung von Teilhabe als soziale Behinderung verstanden. Mit dem Konzept der Inklusion wird also die Interaktion zwischen einzelnen Menschen und ihrer Umwelt in den Blick genommen.

Damit dieses Leitbild in der Gesellschaft wirksam werden kann, bedarf es vor allem einer Haltungsänderung gegenüber Menschen mit Behinderungen (die Träger von Rechten sind), einer Umorientierung im Verständnis von Behinderung (Behinderung als sozial bzw. gesellschaftlich verursachte Teilhabeeinschränkung), der Akzeptanz von Verschiedenheit (Vielfalt menschlichen Lebens) sowie der Gestaltung der entsprechenden Rahmenbedingungen (vgl. Kap. 3, 4 und 5).

Damit einher geht ein neuer Blick auf die Autonomie und Freiheit von Menschen. Menschen mit Behinderungen, deren Lebenssituation häufig von Fremdbestimmung und Ausgrenzung aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Leben geprägt war, werden als selbstbestimmte Akteure ihres Alltags wahrgenommen und sollen hierfür die nötigen individuellen Ressourcen erhalten. Mit der Inklusion werden Menschen nicht als Fürsorgeobjekte wahrgenommen, sondern als Rechts- und Handlungssubjekte. Durch die aktuelle Debatte wird der Blick auf gesellschaftliche Systemänderungen gelenkt. Alle Lebensbereiche sollen inklusiv gestaltet werden. In dem Maße, in dem dies gelingt, werden separierende Angebote unnötig. Das bedeutet allerdings nicht, die besonderen (finanziellen wie sozialen) Anstrengungen einzustellen, die für Menschen mit Assistenz- oder Unterstützungsbedarf unabdingbar und grundlegend sind. Vielmehr geht es darum, alle Menschen in die Lage zu versetzen, mit anderen in soziale Beziehung zu treten, persönliche Bindungen einzugehen und sich als Teil des normalen öffentlichen Lebens erfahren zu können, ohne Barrieren überwinden zu müssen und ohne Vorurteilen oder abwertenden Einstellungen zu begegnen. Es bedeutet, nicht auf Mitleid angewiesen zu sein, um von anderen die erforderliche Unterstützung und Hilfe zu erhalten.

Inklusion als freiheitliches Bürgerrecht

Mit dem Konzept von Inklusion verbindet sich zudem ein Verständnis freiheitlicher Bürgerrechte. In Freiheit und Würde sind alle Menschen gleich. Dabei wird nicht von der faktisch freien Person ausgegangen, sondern die Bedingungen und Voraussetzungen für die individuell erreichbaren Freiheitsspielräume werden in den Mittelpunkt — als »Konzept der assistierten Freiheit« (S. Graumann [8]) — gestellt. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung menschlicher Fähigkeiten als Grundlage für menschliches Selbstbewusstsein und Würde heraus. Sie fordert ausreichende Mittel, gesellschaftliche Unterstützung, Achtsamkeit und Geborgenheit, um Menschen zu ermöglichen, auf die Gesundheit zu achten, sich frei zu bewegen, das eigene Denken zu entwickeln und Bindungen aufzubauen. In der Perspektive der Inklusion als freiheitliches Bürgerrecht wird deutlich, in welchem Maße Menschen darauf angewiesen sind, in einer inklusiven Umgebung zu leben, um selbstbewusste Menschen zu werden.

Ein solches Verständnis verhindert, dass Inklusion, wie manche fürchten, zu einer neuen Unsichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen führt, indem Unterstützungsbedarfe durch den einseitigen Fokus auf Vielfalt nicht wahrgenommen werden. Die freiheitliche Gestaltung des Zusammenlebens in einem wechselseitigen Bezogensein von Autonomie

und Eingebundensein [9] steht im Vordergrund. Individuelle Lebenssituationen und Bedarfe müssen dabei weiterhin in den Blick genommen werden. Es geht um gesellschaftliche Rahmenbedingungen und individuelle und professionelle Unterstützungsleistungen. Erforderlich ist die Entwicklung einer verlässlichen und barrierefreien sozialen Dienstleistungsstruktur. Daran müssen sich Schulen, Kirchengemeinden, Nachbarschaften und Arbeitsplätze messen lassen (vgl. Kap. 3 und 4).

Inklusion als Leitmotiv zur Überwindung bisheriger gesellschaftlicher Sichtweisen auf Behinderung

Mit dem Konzept von Inklusion geht es zudem auch darum, tradierte gesellschaftliche Denkmuster zur Bewertung und Beschreibung von Behinderung zu reflektieren. Wenn ein primär medizinischer Blick auf Menschen gerichtet wird, kommen in der Regel vor allem die organischen Schäden oder Funktionseinschränkungen in den Blick. Daraus resultiert meist eine medizinische Behandlung, die Rehabilitation oder Überweisung in eine Spezialeinrichtung. Hier steht der Gedanke im Mittelpunkt: Diese Person ist behindert. Ein am Konzept der Inklusion geschulter Blick wird hingegen die hemmenden sozialen Rahmenbedingungen wahrnehmen und sie zum Gegenstand von Veränderungsanstrengungen machen. Hier steht der Gedanke im Mittelpunkt: Ein Mensch wird behindert! Entsprechend wird die Veränderung der Gegebenheiten, die Leben behindern, in den Blick genommen. Es sind nicht nur die sprichwörtlichen Bordsteine, die behindern. Unsicherheiten bei der Begegnung mit Menschen mit Behinderungen und überkommene Vorurteile stellen mindestens ebenso hohe Hürden dar.

Unterschiedliche Modelle der Behinderung (Esther Bollag)

  1. Medizinisches Modell:
    • Ursache: organische Schädigung Träger der Schädigung ist der einzelne Mensch.
    • Strategie dagegen: medizinische Behandlung und Rehabilitation oder Selektion
    • Der Einzelne muss sagen: »Ich bin behindert!«
  2. Soziales Modell:
    • Ursache: nicht angepasste Umwelt Träger der Behinderung ist die Gesellschaft.
    • Strategie dagegen: Umwelt verändern
    • Der Einzelne kann sagen: »Ich werde behindert!«
  3. Kulturelles Modell:
    • Ursache: kulturell/weltanschaulich diskriminierende Denkmuster
    • Träger: sowohl der/die Einzelne wie die Gesellschaft (z. B. Medien)
    • Strategie dagegen: Denkweisen (Konzeptionen) und Bilder in Frage stellen
    • Alle können sagen: »Behinderung beginnt im Kopf! — Enthinderung auch!«

Eine Unterform von kulturell-weltanschaulichen Denkmustern sind die theologischen Muster, die in der Kirche und allgemein in der Gesellschaft vertreten werden.

Inklusion als Anstoß eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses

Mit dem Begriff der Inklusion soll also ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess angestoßen werden. Ziel ist die volle, selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen mit und ohne Behinderung in einer in jeder Hinsicht barrierefreien, offenen und demokratischen Gesellschaft, in der Vielfalt als Bereicherung erlebt wird und individuelle Freiheit verbürgt ist. Gleichzeitig handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe, die alle Gesellschaftsmitglieder angeht und deshalb in Wechselwirkung mit der übrigen gesellschaftlichen Inklusionskompetenz zu betrachten ist. Ein ideologisierender Gebrauch des Inklusionsanspruchs verfehlt allerdings das Ziel, wenn er um der großen Vision willen das Mögliche nicht ergreift. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die theologische Unterscheidung von Letztem und Vorletztem (vgl. Schlusswort).

Im Kern geht es darum, Heterogenität und Vielfalt als Potenzial für gesellschaftliche Entwicklung wahrzunehmen, als Grundlage für gesellschaftliche Partizipation und Anerkennung. Verschiedenheit darf keine Hürde für kulturelle und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten darstellen. In einer inklusiven Gesellschaft werden Unterschiede und Abweichungen zwar bewusst wahrgenommen, aber in ihrer ausgrenzenden Bedeutung eingeschränkt oder aufgehoben. Die notwendigen Schritte und Rahmenbedingungen für ein barrierefreies Leben aller in einer auf dem Leistungsgedanken beruhenden demokratischen Gesellschaft zu organisieren und zu finanzieren, das stellt eine durchaus große Herausforderung dar (vgl. 3.6). Dabei ist sehr darauf zu achten, die bereits erreichten Errungenschaften und fördernden Hilfen nicht zu gefährden. Es wäre fahrlässig, ja zynisch, wenn positiv besetzte Begriffe wie Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion in irreführender, ja missbräuchlicher Weise verwendet würden, um angesichts begrenzter Ressourcen die Standards der Hilfe zu senken. Wo die Selbstsorgemöglichkeiten nicht ausreichen, bedarf es gesellschaftlicher Solidarität und Unterstützung.

1.3 Inklusion als Herausforderung für Kirche und Diakonie

Mit dem Konzept der Inklusion verbindet sich auch eine Herausforderung für das Denken und Handeln der Kirche in Gemeinden sowie diakonischen Einrichtungen und Diensten. Auf der einen Seite knüpft Inklusion unmittelbar an den Gedanken an, dass die Gemeinde als Leib Christi aus unterschiedlichen Gliedern besteht und dass am Tisch des Herrn Platz für jede und jeden ist, ja, dass Ausgrenzung und Separation der Abendmahlsgemeinschaft widerspricht. Mit ihrem vielfältigen Engagement zur Hilfe und Förderung von Menschen mit Behinderungen im Bildungs- und Sozialbereich haben Kirche und Diakonie deutlich gemacht, dass Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit jedem Menschen zukommen. Auf der anderen Seite betrifft das Inklusionskonzept die Kirchen und ihre Diakonie als Träger großer Einrichtungen der Behindertenhilfe in besonderem Maße; denn paradoxerweise können solche Einrichtungen aufgrund ihrer Spezialisierung selbst zur Ausgrenzung beitragen. Alle Einrichtungen und Dienste, aber auch die Kirchenkreise und Kirchengemeinden sind deshalb herausgefordert, gemeinsam neue Wege zu beschreiten, um notwendige Unterstützungsleistungen so zu erbringen, dass ein Leben in der Mitte der Gesellschaft — d. h. mit allen Teilhabe- und Teilgabechancen — möglich ist.

Der Paradigmen wechsel von der Versorgung zur gleichberechtigten Teilhabe und Selbstbestimmung

Die Gründung großer diakonischer Einrichtungen Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte Bildung und Fürsorge für Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt waren. Die Etablierung entsprechender diakonischer Angebote war eine große Errungenschaft. Diese sind im 20. Jahrhundert zu professionell arbeitenden Organisationen mit zum Teil hoher Spezialisierung weiterentwickelt worden. Die Einrichtung von Förderschulen im beginnenden 20. Jahrhundert ermöglichte Kindern mit Behinderungen Förderung und Teilhabe.

Der Aufbau von Organisationen der Behindertenhilfe, der Pflege und der Sonderbeschulung hat ihre historisch großen Verdienste. Sie waren und sind ein wichtiger Beitrag zur Integration, führten sie doch zu einem neuen Bewusstsein im Blick auf die Unterstützungsnotwendigkeit, den besonderen Förderbedarf und den gesellschaftlich notwendigen Schutz.

Negative Begleiterscheinungen dieser Entwicklung sind jedoch, dass dadurch »Sonderwelten« entstanden, die oftmals verhindern, dass Menschen mit und ohne Behinderung einander im Alltag begegnen und Erfahrungen gelungenen Miteinanders machen können. Gleichzeitig — und gefördert durch den Rechtsanspruch auf öffentliche Mittel im aufkommenden Sozial- und Wohlfahrtsstaat — wanderte die sich immer weiter spezialisierende und professionalisierende Diakonie aus den selbstverständlichen Gemeindefunktionen aus. Verkündigung auf der einen Seite und Hilfehandeln auf der anderen Seite wurden häufig nicht mehr als zwei Seiten der gleichen Medaille verstanden.

Das Konzept der Inklusion konfrontiert die Behindertenhilfe — und mit ihr die Kirche und ihre Diakonie — mit ihrer Geschichte und stellt sie vor große Herausforderungen. Mit der flächendeckenden Etablierung von »Sonderwelten« in den Lebensbereichen Wohnen (Heim), Arbeiten (Werkstätten für behinderte Menschen) und Bildung (Sonder- oder Förderschulen) ist das heutige Ziel der vollen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft nicht hinreichend zu realisieren. Die Gesellschaft — und mit ihr die Kirche — steht damit vor der Aufgabe, neue Unterstützungsformen und -strukturen zu entwickeln, die sich an den individuellen Bedürfnissen und der jeweiligen Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen ausrichten und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.

Entwicklungen vom »Ortzum Leben« zum »Leben im Ort«

Für den anstehenden Entwicklungsprozess zur Inklusion gibt es zahlreiche beispielhafte Entwicklungen. So ist in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten ungebrochen eine deutliche Zunahme der Anzahl der Personen zu beobachten, die Eingliederungshilfe erhalten. Obwohl nach den sogenannten Euthanasiemorden im Nationalsozialismus (vgl. 3.3) Menschen mit Behinderungen auch aufgrund der höheren Lebenserwartung erst heute über alle Altersgruppen hinweg statistisch annähernd gleich verteilt sind — ihre Zahl sich also nach dem Zweiten Weltkrieg bisher insgesamt ständig erhöhte —, stieg die Zahl der in stationären Wohnstätten lebenden Menschen in den Jahren 2005—2010 lediglich um 4,4 Prozent. In einzelnen Bundesländern waren sogar rückläufige Tendenzen zu beobachten. Gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl der Menschen mit Behinderungen, die selbstbestimmt in eigener Wohnung mit Hilfe ambulanter Maßnahmen unterstützt leben. Die Unterstützungssysteme sind vielerorts bereits kleiner und sozialraumintegrierter geworden. Sie werden heute lokal entwickelt und im Verbund mit allen Akteuren im Gemeinwesen gestaltet. An vielen Stellen hat der Strukturwandel also bereits nach außen hin sichtbar begonnen [10].

Ein wichtiger Schrittmacher sind in dieser Entwicklung die Betroffenen selbst, z. B. die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL). Sie wurde 1990 von Frauen und Männern mit Behinderungen gegründet, die die Leitideen »Selbstbestimmung — Selbstvertretung — Inklusion — Empowerment« verwirklicht sehen wollten. 2006 wurde auf einer Tagung des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe (BeB) mit über 200 teilnehmenden Menschen mit Behinderungen die Rheinsberger Erklärung einstimmig verabschiedet. Sie ist ein Beispiel für das wachsende Selbstbewusstsein von Menschen, die in leichter Sprache ihre Rechte einfordern.

Rheinsberger Erklärung [11]

»Menschen sind zwar verschieden, aber sie haben gleiche Rechte und verdienen den gleichen Respekt. Alle Menschen können sich als aktive Bürger einbringen, mitreden und ihren Beitrag für das Zusammenleben leisten.

Einmischen:

  • Wir wollen unsere Freunde und Partner selbst wählen und nach eigenen Wünschen leben.
  • Wir wollen am öffentlichen Leben teilhaben: in Politik und Gemeinde, Kirche und Kultur, Bildung und Arbeit, Sport und Freizeit.
  • Wir wollen bestimmen, wer uns unterstützt und wie das geschieht.

Mitmischen:

  • Wir wollen uns ohne Barrieren bewegen, begegnen und informieren.
  • Wir wollen unsere Interessen überall dort vertreten, wo wir leben und arbeiten.
  • Wir wollen auch in Selbsthilfegruppen stärker werden. Dann können wir mit mehr Kraft und Einfluss mit Angehörigen, gesetzlichen Betreuern und (professionellen) Unterstützern zusammenwirken.

Selbstmachen:

  • Jeder von uns hat etwas für das Leben in der Gemeinschaft zu bieten, und es ist gut, das auch zu tun.
  • Wir verfolgen unsere Ziele und geben nicht auf.
  • Erfolge machen uns Mut und Mut tut gut.

Unser Platz ist mitten in der Gesellschaft. Dort wollen wir zusammen leben und arbeiten.«

Auch große diakonische Einrichtungen haben sich längst auf den Weg gemacht, ihre Unterstützungsangebote zu dezentralisieren. Die Abkehr vom »Ort zum Leben« zum »Leben im Ort« durch die »Auflösung von Sonderwelten« und die »Schaffung gemeindeintegrierter Wohn- und Lebensmöglichkeiten« ist in vollem Gang. Viele Träger im Bundesverband evangelische Behindertenhilfe treten dafür ein, dass jeder Mensch mit Behinderung und psychischer Erkrankung sein Wunsch- und Wahlrecht ausüben kann. Es geht dabei vor allem um die Wahl der Orte zum Lernen, Arbeiten und Wohnen, um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Kultur, Sport, Politik und Freizeit. Und es geht um Beteiligung am kirchengemeindlichen und gesellschaftlichen Leben sowie um Zugang zur jeweils notwendigen Unterstützung.

Der Prozess zur Inklusion gestaltet sich nicht konfliktfrei. Klientinnen und Klienten mit ihren Angehörigen, Mitarbeitende und das engere Umfeld der Einrichtung wie z. B. die Kirchengemeinde sind zu gewinnen und für die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention zu begeistern. Klärungsbedarf besteht insbesondere bei wirtschaftlichen Fragen z. B. mit Blick auf die vorhandenen Immobilien und den Erhalt von Arbeitsplätzen in der Region sowie die nur zögerliche oder auch ganz ausbleibende Unterstützung durch die Politik und Sozialverwaltung.

1.4 Inklusion als Bildungskonzept

Eine besondere Form des Paradigmenwechsels stellt der Inklusionsbegriff im Kontext von Bildung dar. Zum einen wird Inklusion selbst als ein Bildungskonzept verstanden, da für die skizzierten Veränderungen und den damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel breites Lernen erforderlich ist. Zum anderen geht mit Inklusion die Forderung nach einem Wechsel im Bildungsverständnis einher: Ein homogenisierendes und damit in unterschiedliche Schularten aufteilendes Schulsystem soll durch ein für die Vielfalt sensibles, aber alle Schülerinnen und Schüler umfassendes Bildungsverständnis umgestaltet werden.

Damit wird — ähnlich wie im Kontext diakonischen Denkens und Handelns — die paradoxe Entwicklung kritisiert, nach der eine in der Gleichheit von Menschen wurzelnde schulische Homogenisierungspraxis in ihren Nebenfolgen zu segregierten Welten führte. Schließlich war es in vorhergehenden Jahrhunderten eine kulturelle Errungenschaft, die Gleichheit aller Menschen gegen Standesschranken zu betonen und damit ein vereinheitlichendes Bild von Schule zu prägen. Als im 17. Jahrhundert eine Schule für alle entstand, wurde diese Idee mit dem Bild eines Durchschnittsschülers — in der Abgrenzung zur Hauslehrersituation — verbunden. Dies machte die Einführung von Bildung für alle möglich, zum Preis einer damit verbundenen Vereinheitlichung und möglichen Ausgrenzung. Dieses homogenisierende Schulverständnis führte allerdings zunächst zur schulischen Exklusion und dann zur Sonderbeschulung all derer, die nicht in diese Normalitätsvorstellung hineinpassten.

Erkenntnisse aus internationalen Schulleistungsvergleichsuntersuchungen des letzten Jahrzehnts verdeutlichen, dass in Deutschland überdurchschnittlich viele Schülerinnen und Schüler Förderschulen besuchen, die Schuljahreswiederholungs- und Schulabbruchrate vergleichsweise hoch ist und überdurchschnittlich viele Schülerinnen und Schüler nur geringe Kompetenzen in Bezug auf das Lesen und Rechnen erreichen, die nicht hinreichend für ein Leben in unserer Gesellschaft qualifizieren. Zudem wird die Berufsausbildung oft abgebrochen [12].Deutlich wurden auch die starke Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg — so hatte im Jahr 2000 ein Kind aus der Oberschicht gegenüber einem Schüler aus einer Facharbeiterfamilie bei gleicher Intelligenz und gleicher Leistung in manchen Bundesländern eine sechsmal so große Chance, ein Gymnasium zu besuchen. Zwar hat sich dieser Zusammenhang in den letzten Jahren etwas gelockert, gleichwohl sind die bestehenden Differenzen immer noch in hohem Maße auf die unterschiedliche sozio-ökonomische Herkunft zurückzuführen. Die mangelnde Inklusion im Bildungswesen verringert also nochmals die sowieso schon schlechten Startchancen von Kindern und Jugendlichen, die durch Behinderung, sozio-ökonomische Bedingungen oder Migration benachteiligt sind.

Besondere Aufmerksamkeit erhielt der Bericht des UN-Sonderbeauftragten Vernor Muñoz 2007, der die Resultate der empirischen Bildungsforschung bestätigte und vor diesem Hintergrund klare politische Forderungen formulierte. Er kritisierte die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler in weiterführende Schulen nach dem vierten Schuljahr und die kostenpflichtigen Kindergartenplätze in Deutschland. Der deutschen Regierung wurde empfohlen, das mehrgliedrige Schulsystem, das sich »auf arme Kinder und Migrantenkinder sowie Kinder mit Behinderungen negativ« auswirke, noch einmal zu überdenken [13].

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